I. Sachverhalt
A. Am 1. April 2008 veröffentlichte «20 Minuten» den Artikel «Wiederholt vergewaltigt». Darin berichtete die Gratiszeitung mit Nennung von Vornamen und Initiale des Nachnamens über den Strafprozess gegen einen «41-jährigen Psychologen». Diesem werde «vorgeworfen, seine zwölfjährige Stieftochter wiederholt vergewaltigt und auch den Rest der Familie einem brutalen Gewaltregime unterworfen zu haben. Der mutmassliche Täter soll die Tochter zwischen 2003 und 2006 immer wieder missbraucht sowie seinen 20-jährigen Stiefsohn mehrmals verprügelt haben. Das Bezirksgericht verurteilte den aus dem Kosovo stammenden Mann zu zwölf Jahren Zuchthaus. Das Obergericht hingegen möchte den Fall nochmals prüfen und weitere Zeugen sowie die Stieftochter nochmals einvernehmen. Der Angeklagte sagte gestern vor Gericht, die Exfrau habe ein Komplott gegen ihn angezettelt. Bis zu einem Urteil des Obergerichts bleibt der Angeklagte hinter Gittern.»
B. Am 9. April 2008 gelangte X. an den Presserat. Sie vertrete im obengenannten Strafprozess die Interessen der Mutter und der Kinder, die als Opfer unter der häuslichen Gewalt des Angeschuldigten gelitten hätten. Der an sich korrekte Bericht von «20 Minuten» über die Berufungsverhandlung vor dem Obergericht Zürich enthalte unnötigerweise alle Angaben, die es einem weiten Bekanntenkreis der Opfer erlaubten, den Angeklagten und damit auch die Opfer zu identifizieren. «Im albanischen Sprachraum werden auch fremde Erwachsene mit ihrem Vornamen angesprochen.» Mit der Nennung seines Vornamens und der Initiale des Nachnamens werde der Angeschuldigte etwa so «anonymisiert», wie wenn bei einem Schweizer der Nachname und die Initiale des Vornamens genannt würde. «Dazu kommen die Angaben über das Alter des Angeklagten (41 Jahre) und seine Herkunft (aus dem Kosovo stammend). Schliesslich erfährt man, dass seine Stieftochter 2003 12 Jahre alt war und kann daraus ihr heutiges Alter ableiten. Alle, welche mit dieser Familie auf irgendeine Weise in Kontakt gekommen sind, so beispielsweise auch alle Klassenkameradinnen und Klassenkameraden dieser Stieftochter, viele albanisch sprechende Immigranten in Zürich und der Kreis der albanisch sprechenden Jugendlichen, in dem die Familie früher verkehrte, erfahren auf diese Weise von den vorgeworfenen Vergewaltigungen und erkennen das Opfer davon. Das ist insbesondere für die Stieftochter verheerend, weil in ihrer Kultur eine Frau immer noch auf Dauer entehrt und stigmatisiert ist, wenn sie vergewaltigt wurde. Die Familie wurde dann auch nach Erscheinen des Artikels wiederholt auf die Vorkommnisse angesprochen. Das beeinträchtigt die seelische Verarbeitung der erlittenen Traumata massiv.» Mit seiner Berichterstattung habe «20 Minuten» gegen die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Privatsphäre) sowie die zugehörigen Richtlinien 7.6 (Namensnennung) und 7.8 (Sexualdelikte) verstossen.
C. Am 15. April 2008 entschuldigte sich die Nachrichtenchefin Alexandra Roder namens der Redaktion von «20 Minuten» beim Opfer dafür, dass der Artikel vom 1. April 2008 Rückschlüsse auf die Identität zugelassen habe und dass es am Erscheinungstag mehrfach auf das traumatische Erlebnis angesprochen worden sei. «Es war ein Fehler, den Vornamen Ihres Stiefvaters zu veröffentlichen und wir möchten uns bei Ihnen für dieses Versehen entschuldigen.»
D. Am 1. Juli 2008 bestätigte wiederum Alexandra Roder namens von «20 Minuten» gegenüber dem Presserat, die Publikation des Vornamens des mutmasslichen Täters sei ein Versehen gewesen. «20 Minuten» habe, nachdem die Anwältin des Opfers auf den Fehler aufmerksam gemacht habe, sich umgehend bei diesem entschuldigt. «Der Fall wurde intern diskutiert und hat mit Sicherheit dazu geführt, dass in Zukunft besser darauf geachtet wird, in welchen Fällen es nicht zulässig ist, selbst Initialen zu nennen, da auch diese Rückschlüsse auf eine Person zulassen können.»
E. Am 4. Juli 2008 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 20. Februar 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 7 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, die Privatsphäre des einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil gebietet. Gestützt auf diese Bestimmung hält Presserat in ständiger Praxis fest, dass – vorbehältlich von eng begrenzten Ausnahmen – nicht nur eine namentliche, sondern generell eine identifizierende Berichterstattung zu unterlassen ist. Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» statuiert entsprechend, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden». Die Richtlinie 7.6 nennt zudem auch die Voraussetzungen, die eine identifizierende Berichterstattung ausnahmsweise rechtfertigen. Die Richtlinie 7.8 zur «Erklärung» mahnt darüber hinaus an, bei der Berichterstattung über Sexualdelikte den Interessen der Opfer besondere Rechnung zu tragen.
2. Im konkreten Fall war eine identifizierende Berichterstattung offensichtlich nicht angebracht. Ebenso räumt «20 Minuten» ein, die im beanstandeten Bericht enthaltenen Angaben hätten die Identifikation der beteiligten Personen über ihr engstes Umfeld hinaus ermöglicht. Problematisch war dabei insbesondere die Nennung des vollen Vornamens und der Initiale des Nachnamens des Angeschuldigten. Der Presserat hat in mehreren Stellungnahmen (4 und 21/2007, 3 und 7/1994) darauf hingewiesen, dass die Nennung von Vornamen und erstem Buchstaben des Nachnamens die Gefahr einer Identifikation in sich birgt. Selbst wenn diese Praxis Ziffer 7 der «Erklärung» nicht automatisch verletzt, empfiehlt der Presserat mit Nachdruck, auf entsprechende Angaben zu verzichten und stattdessen beispielsweise ein Pseudonym zu verwenden. Denn gerade in Fällen wie dem vorliegenden können die besonderen Umstände des Einzelfalls dazu führen (Stellungnahme 53/2008), dass bereits die Nennung von Vornamen und Initial des Nachnamens den Kreis der Eingeweihten in unverhältnismässiger Weise erhöht.
Der Presserat hat jüngst in der Stellungnahme 3/2008 daran erinnert, dass berufsethisch nicht die Erkennbarkeit für den sogenannten Durchschnittsleser massgebend ist: «Geht es um derartig schwere Vorwürfe wie sexuellen Missbrauch innerhalb einer Familie, ist der Kreis derjenigen, die die Betroffenen auch bei einer vollständigen Anonymisierung wahrscheinlich erkennen würden, äusserst eng zu ziehen.» Wie «20 Minuten» einräumt, wäre die Gefahr einer Identifizierung über das engste Umfeld hinaus bei einem Verzicht auf die Nennung des Vornamens praktisch dahingefallen. Positiv zu werten ist, dass sich die Zeitung nach der Publikation beim Opfer entschuldigte. Da «20 Minuten» dieses Eingeständnis soweit ersichtlich gegenüber der Leserschaft nicht publik gemacht hat, sind die Voraussetzungen aber nicht erfüllt, um den Presserat – auch ohne entsprechenden Antrag der Zeitung – gestützt auf Art. 10 Abs. 1 des Geschäftsreglement zu veranlassen, nicht auf die Beschwerde einzutreten. Im Ergebnis ist deshalb eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» festzustellen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2. «20
Minuten» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Wiederholt vergewaltigt» in der Ausgabe vom 1. April 2008 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (identifizierende Berichterstattung, Opferschutz) verletzt.