I. Sachverhalt
A. In der Ausgabe vom 25. März 2002 berichtete der «Blick» unter dem Titel «Schock in Walenstadt; Sex-Pfarrer verhaftet» und dem Untertitel «Der katholische Dekan soll Kinder missbraucht haben» in Wort und Bild über die bereits am Dienstag der Vorwoche erfolgte Verhaftung von «Pfarrer und Dekan» Y. durch die St. Galler Kantonspolizei. Am Tag darauf veröffentlichte «Blick» zwei weitere Artikel zum Thema: Unter dem Titel «Das ist ein schwerer Fall» wurde die Einschätzung der Strafverfolgungsbehörden wiedergegeben, wonach der Y. vorgeworfene Kindsmissbrauch als schwer einzustufen sei, da dieser während mindestens 30 Jahren «seinen Trieb nicht unter Kontrolle» gehabt habe. Der zweite Artikel «Verhafteter Sexpfarrer – Er onanierte vor Kindern» wurde zudem bereits auf der Titelseite angekündigt. Danach habe eine ehemalige Schülerin erzählt, dass Y. bereits 1969 im Religionsunterricht hinter seinem Pult onaniert habe. Am 27. und 28. März thematisierte «Blick» in zwei weiteren Berichten, das «Schweigen der Behörden» und deren angebliches Mitwissen über die Taten.
B. Mit Beschwerde vom 13. September 2002 gelangte X. an den Presserat. Er beschwerte sich «gegen die Tatsache, dass ein Mensch, der (…) über Jahre hinweg unbescholten und gewissenhaft sein Amt ausgeführt hat und in der Gemeinde sehr geschätzt wurde, aufgrund einer allfälligen Verfehlung, die vor mehr als zehn Jahren und in einer anderen Gemeinde geschah, tagelang unter dem Titel ÐSex-Pfarrerð in seiner Persönlichkeit diskriminiert, (…) schlecht gemacht und in seiner Menschenwürde auf Schwerste verletzt (…) wurde». Mit dieser Darstellung habe «Blick» Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Er empfinde es zudem «als ganz und gar unerträglich», dass eine im wahrsten Sinne des Wortes unglaubliche Tat (….) (ÐEr onaniert vor Kindernð) aufgrund einer einzigen Zeugenaussage aus aktuellem Anlass der Öffentlichkeit aufgetischt und so dargestellt wurde, als ob es sich um eine bewiesene Tatsache handelt». Angesichts des ungenügenden Warheitsgehalt der Aussage habe »Blick» Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt. Ebenso sei Ziffer 7 verletzt, «indem der Blossgestellte einer Tat beschuldigt wurde, die längstens verjährt ist, mit der aktuellen Anschuldigung nicht zu tun hat und nicht (mehr) bewiesen werden kann.»
C. In einer Stellungnahme vom 6. November 2002 wies die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion die Beschwerde als unbegründet zurück. Ein Dekan einer katholischen Kirche sei nicht ein beliebiger Unbekannter aus dem Volk, auch wenn er nicht zur Politprominenz oder zum Wirtschaftsestablishment gehöre. «Blick» habe weder die Persönlichkeit von Dekan Y. noch dessen Menschenwürde verletzt. Jedenfalls sei innerhalb der gesetzlichen Verwirkungsfrist von 3 Monaten keine strafrechtliche Anzeige wegen Ehrverletzung eingereicht worden. Zudem werde die Menschenwürde nicht bereits deshalb tangiert, weil sexuelle Verfehlungen eines Pfarrers thematisiert werden. Im Gegenteil gehe es «bei einem katholischen Pfarrer, der sich an Ministranten vergeht, um den Kernbereich seiner Fremdeinschätzung». Der Zusammenzug des Vorwurfs, in der Funktion als Pfarrer Sexualdelikte begangen zu haben, zur Kurzform «Sexpfarrer» sei presseethisch zulässig. Darüber hinaus sei «Blick» nicht verpflichtet, das berufliche Wirken von Pfarrer Y. umfassend und differenzierend zu würdigen.
D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.
E. Am 15. November 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.
F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 7. Februar 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Gemäss Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» ist die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält fest, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.» Die Richtlinie nennt allerdings auch Ausnahmen von dieser Grundregel:
– Überwiegendes öffentliches Interesse (inhaltlich unbestimmte «Generalklausel»); – Nennung eines politischen oder amtlichen Funktionsträgers, soweit das Delikt einen Bezug zu dieser Funktion hat; – Gefahr von Verwechslungen, falls der Name nicht genannt wird; – Wenn die Person bereits allgemein bekannt ist – wobei meist die Medien im konkreten Fall für die Bekanntheit gesorgt haben, weshalb diese Ausnahme mit besonderer Zurückhaltung anzuwenden ist; – Ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen.
2. a) Die Redaktion des «Blick» beruft sich vorliegend darauf, Y. sei als katholischer Dekan ein Träger einer öffentlichen Funktion und habe die ihm vorgeworfenen Delikte in Missbrauch dieser Funktion begangen.
b) Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 6/99 i.S. X. c. «Blick» darauf hingewiesen, dass bei Politikern oder Trägern öffentlicher Funktionen die Namensnennung unangebracht ist, wenn der Gegenstand der Berichterstattung allein das Privatleben betrifft. Anders ist es hingegen, wenn ein Zusammenhang zwischen einem Strafverfahren und einer öffentlichen Funktion zu bejahen ist. Die anerkannte Kritik- und Kontrollfunktion der Medien kann nicht erst bei der Hauptverhandlung oder nach dem Urteil einsetzen. Das öffentliche Interesse an einer Namensnennung ist um so höher zu gewichten, je gewichtiger die Stellung des Betroffenen ist. Ebenso ist in die Interessenabwägung die Schwere der zur Diskussion stehenden Delikte einzubeziehen. Schliesslich ist auch zu berücksichtigen, wie konkret ein Verdacht erscheint.
c) Vorliegend ist ein direkter Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und dem Y. vorgeworfenen Verhalten offensichtlich gegeben. Zudem befindet sich ein Pfarrer auch in einer zu weiten Teilen säkularen Gesellschaft insbesondere in moralischen Fragen – selbst wenn seine Position im untersten Bereich der Hierarchie der katholischen Kirche anzusiedeln ist – nach wie vor in einer öffentlich exponierten Stellung. Hinzu kommt, dass die Vorwürfe gemäss der vom Beschwerdeführer unwidersprochenen Darstellung des «Blick» nach dem Gottesdienst vom Sonntag 24. März 2002 vor den versammelten Kirchgängern unmittelbar öffentlich gemacht worden sind. «Z. liest ihnen einen Hirten-Brief von Bischof Ivo Fürer vor. Darin berichtet der Bischof von den Verfehlungen des Sex-Pfarrers. (…) Fürer hat Y.s Demission mit sofortiger Wirkung angenommen.» («Blick» vom 25. März 2002). Angesichts des Interesses der Öffentlichkeit, über einen allfälligen derartigen Missbrauchs der Stellung eines Pfarrers umfassend orientiert zu werden, wäre es nach Auffassung des Presserates unter diesen Umständen realitätsfremd, von den Medien eine vollständig anonymisierte Berichterstattung zu erwarten. Eine Verletzung der vom Beschwerdeführer ohnehin nicht explizit angerufenen Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» ist dementsprechend zu verneinen.
3. a) Zu prüfen ist weiter, ob der «Blick» – wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht – darüber hinaus in unnötig verletzender, die Persönlichkeit des Dekans und seine Menschenwürde missachtender Weise b
erichtet hat. Im Vordergrund steht in diesem Zusammenhang die Zulässigkeit der Verwendung der Verkürzung «Sex-Pfarrer» sowie die Veröffentlichung des von einer ehemaligen Schülerin erhobenen Vorwurfs, im Religionsunterricht hinter dem Pult onaniert zu haben.
b) Auch wenn die Bezeichnung «Sex-Pfarrer» aus der für den Presserat durchaus verständlichen subjektiven Sicht des Beschwerdeführers als entwürdigend erscheinen mag, ändert dies nichts daran, dass diese kommentierende Wertung ebenso wie die ihr zugrunde liegenden Fakten für die Leserschaft erkennbar sind und ohne weiteres eingeordnet werden können (vgl. hierzu z.B. die Stellungnahme 43/00 i.S. DJL c. «Anzeiger Luzern» mit weiteren Hinweisen).
c) Hinsichtlich der Erwähnung des Onanie-Vorwurfs kann man sich auf den ersten Blick zwar fragen, ob dieser zwingend hätte publik gemacht werden müssen. In der Stellungnahme 45/01 i.S. P. AG c. «Zofinger Tagblatt» hat der Presserat darauf hingewiesen, dass bei der Berichterstattung über Sexualdelikte unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit zu prüfen ist, welche Details für die Verständlichkeit eines Berichts erforderlich sind. Im Gegensatz zum Sachverhalt bei der angeführten Stellungnahme werden in den vom Beschwerdeführer dem Presserat vorgelegten «Blick»-Artikel mit Ausnahme des kritisierten Onanie-Vorwurfs keine Details über die Art und Weise der zur Diskussion stehenden Verfehlungen publik gemacht. Allein schon deshalb erscheint die Art und Weise der Berichterstattung insgesamt nicht unverhältnismässig. Zudem ergibt sich durch die Erwähnung des Vorwurfs ein weiteres wichtiges Informationselement, wonach die sexuellen Verfehlungen des Pfarrers bereits 1969 angefangen haben sollen. Ob dieser vom Beschwerdeführer bezweifelte Vorwurf der Wahrheit entspricht, kann der Presserat aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen nicht beurteilen. Auf die Rüge der Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitspflicht) tritt der Presserat deshalb nicht ein.
d) Zudem ist es entgegen der Auffassung von X. berufsethisch zulässig, einen derartigen Vorwurf publik zu machen, selbst wenn dieser auf der Aussage einer einzigen Zeugin beruht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dieser nach einer vorgängigen journalistischen Überprüfung und aufgrund der gesamten Umstände als plausibel erscheint (vgl. z.B. die Stellungnahme 39/00 i.S. APELS / SPV c. «Le Matin»). Zumal vorliegend für die Leserschaft ersichtlich wird, auf welche Quelle sich der Vorwurf stützt.
4. Dagegen könnte die Berichterstattung des «Blick» möglicherweise unter dem Gesichtspunkt der Anhörung des Betroffenen bei schweren Vorwürfen Fragen aufwerfen. Nachdem der Beschwerdeführer jedoch diese Rüge nicht erhoben hat und die «Blick»-Redaktion somit keine Möglichkeit hatte, sich dazu zu äussern, tritt der Presserat auf diesen Aspekt nicht ein.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2. Eine identifizierende Berichterstattung im Zusammenhang mit einem Strafverfahren, bei dem es um den gegenüber einem katholischen Dekan erhobenen Vorwurf geht, er habe in seinem Amt Ministranten sexuell missbraucht, ist insbesondere dann zulässig, wenn die Vorwürfe einschliesslich des Namens des Betroffenen zuvor bereits von der Kirchenbehörde selber anlässlich eines Gottesdienstes vor den versammelten Kirchgängern unmittelbar publik gemacht worden sind. Ein Pfarrer befindet sich auch in einer zu weiten Teilen säkularen Gesellschaft insbesondere in moralischen Fragen nach wie vor in einer exponierten öffentlichen Stellung. Dies gilt selbst dann, wenn seine Funktion im untersten Bereich der Hierarchie der katholischen Kirche anzusiedeln ist.
3. Auch wenn die Bezeichnung «Sex-Pfarrer» aus der subjektiven Sicht des Betroffenen entwürdigend erscheinen mag, ist sie als kommentierende Wertung zulässig, wenn die ihr zugrunde liegenden Fakten für die Leserschaft erkennbar sind und ohne weiteres eingeordnet werden können.
4. Es ist berufsethisch zulässig, einen schweren Vorwurf publik zu machen, selbst wenn dieser auf der Aussage einer einzigen Zeugin beruht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Vorwurf vor der Publikation journalistisch überprüft worden ist und aufgrund der gesamten Umstände als plausibel erscheint