Nr. 31/2011
Höchstpersönliche Informationen / Menschenwürde

(Aidshilfe Schweiz c. «Thuner Tagblatt») Stellungnahme des Presserates vom 9. Juni 20

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I. Sachverhalt

A. Am 19. Januar 2011 berichtete das «Thuner Tagblatt» unter dem Titel «IV-Betrügerin muss 50’000 Franken zurückzahlen» über zwei Entscheide des Berner Verwaltungsgerichts. Der ausführliche Teil des Textes betraf den Fall einer IV-Rentnerin, die einer Erwerbsarbeit nachging, aber trotzdem IV-Gelder bezog und dabei die Meldepflicht verletzte. Im zweiten, viel kürzeren Teil des Artikels ging es um einen weiteren IV-Fall aus der Region Thun. «Bei diesem Mann, einem heute 46-jährigen Coiffeur, traten 2006 aufgrund einer beruflichen Überlastung psychische Probleme auf. Zur gleichen Zeit wurde bei ihm eine HIV-Infektion diagnostiziert. 2007 gab er deshalb sein Coiffeurgeschäft auf und galt zu 100 Prozent als arbeitsunfähig. 2008 meldete er sich bei der IV zum Leistungsbezug an. Nachdem der Coiffeur wieder ein kleines Teilpensum aufgenommen hatte, erhielt er von der IV-Stelle Bern (IVB) Support am Arbeitsplatz. Anfang 2010 kam der Abklärungsdienst der IVB in seinem Bericht zum Schluss, dass bei einer 45-prozentigen Arbeitsunfähigkeit von einem Invaliditätsgrad von 43 Prozent auszugehen sei. Die IVB teilte dem Coiffeur daraufhin mit, dass er rückwirkend ab der Zeit seiner Anmeldung 2008 eine Viertelsrente erhalten würde. Damit war er nicht einverstanden und gelangte schliesslich ans kantonale Verwaltungsgericht. Dieses kam zum Schluss, dass die IVB den medizinischen Sachverhalt nur ungenügend abgeklärt habe. ‹Zudem sei nicht hinreichend abgeklärt worden, ob die mittlerweile behandlungsbedürftige HIV-Infektion Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit habe.›» Aus diesen Gründen habe das Verwaltungsgericht die Beschwerde gutgeheissen.

B. Am 22. Februar 2011 gelangte die durch ihre Rechtsberaterin vertretene Aids-Hilfe Schweiz mit einer Beschwerde an den Presserat. Der Artikel im «Thuner Tagblatt» verletze die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Jede Person, die ihren Klienten kenne, könne «aufgrund des Artikels Rückschluss auf ihn machen». Ihr Klient habe die Information über seine HIV-Diagnose «kaum an Dritte weitergegeben», sei jetzt allerdings «von einer Familienangehörigen» auf seine Krankheit angesprochen worden. Nun sei die Situation für ihn äusserst schwierig. Gesundheitsdaten seien besonders schützenswert und der Persönlichkeitsschutz des Klienten wiege höher als die Information der Leserinnen und Leser.

C. Am 7. März 2011 wiesen Chefredaktor René E. Gygax und Redaktionsleiter Roland Drenkelforth die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Beschwerdeführerin habe in einem Telefonat der Verfasserin des inkriminierten Artikels eingeräumt, ihr Klient sei einzig von seiner Mutter identifiziert worden. Eine solche Identifizierung durch nähere Verwandte und Bekannte sei bei einer Lokalzeitung unvermeidbar. Über diesen engen Kreis hinaus sei der Bericht aber nicht identifizierend und die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» deshalb nicht verletzt.

Der Bericht sei bewusst so verfasst, dass eine Identifizierung durch Dritte ausserhalb des familiären, sozialen oder beruflichen Umfelds kaum möglich sei, es fehlten Initialen und er enthalte nur minimale Angaben zur Person. Wohn- und Arbeitsort des Mannes seien nur vage umschrieben, eine Internetsuche mit local.ch und den Suchbegriffen «Thun» und «Coiffeur» ergebe 230 Treffer. Die HIV-Infektion nicht zu erwähnen sei hingegen nicht möglich gewesen, da sich ja das Verwaltungsgericht mit dieser Tatsache und ihren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Mannes habe auseinandersetzen müssen. Abschliessend weist das «Thuner Tagblatt» darauf hin, dass die Beschwerdeführerin nicht näher ausführe, inwiefern die Ziffern 7 und 8 der «Erklärung» verletzt seien. Inwieweit andere Richtlinien verletzt worden seien, sei nicht ersichtlich und werde von der Beschwerdeführerin auch nicht näher ausgeführt.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Jan Grüebler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Markus Locher, Daniel Suter und Max Trossmann.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 9. Juni 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin beanstandet in ihrer Eingabe, das «Thuner Tagblatt» habe mit dem Artikel vom 19. Januar 2011 die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung» verletzt. Ihr Klient sei durch den Artikel in eine äusserst schwierige Situation geraten, weil seine Beschwerde gegen einen IV-Entscheid beim Verwaltungsgericht schliesslich dazu geführt habe, dass Bekannte ihn als HIV-positive Person identifizieren könnten.

2. a) Die Ziffer 7 der «Erklärung» verlangt von den Journalistinnen und Journalisten, die Privatsphäre von Personen zu respektieren, die Gegenstand von Medienberichten sind, sofern kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung vorliegt. Die zugehörige Richtlinie 7.2 (Identifizierung) hält fest, dass Journalisten in begründeten Fällen Namen nennen und andere Angaben machen dürfen, die eine Identifikation einer im Medienbericht erwähnten Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu deren Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.

b) Vorliegend wendet das «Thuner Tagblatt» allerdings zu Recht ein, dass eine Identifizierung des betroffenen Coiffeurs allein gestützt auf die Angaben des angefochtenen Berichts kaum über das engere soziale Umfeld hinaus möglich war. Trotzdem ist nach Auffassung des Presserats eine Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» zu bejahen. Denn je persönlicher, intimer die in einem Medienbericht enthaltenen Informationen sind, desto enger ist der Kreis der Betroffenen zu ziehen, bei denen eine Identifizierung hinzunehmen ist (Stellungnahmen 58/2008, 11/2009 und 51/2010). Die Information über eine HIV-Infektion und eine allfällig daraus folgende Erkrankung ist als höchstpersönlich einzustufen. Ungeachtet des öffentlichen Interesses an einer Gerichtsberichterstattung muss es der Betroffene deshalb nicht ohne Weiteres hinnehmen, dass nahe Angehörige, denen er diese Information unter Umständen bis anhin vorenthielt, nun via Medien davon Kenntnis erhalten.

c) Der beanstandete Gerichtsbericht legt die Fakten zurückhaltend dar. Der Artikel enthält eigentlich lauter Angaben, die für das Verständnis der Leserschaft wichtig sind. Insbesondere war es unvermeidlich, die HIV-Infektion zu erwähnen, da der Gerichtsentscheid andernfalls kaum nachvollziehbar wäre. Trotzdem wäre es bei sorgfältigem Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an dem Gerichtsbericht und dem privaten Interesse auf Wahrung der Intimsphäre angezeigt gewesen, beispielsweise auf die Nennung des Berufs und insbesondere darauf zu verzichten, die 2006 erfolgte Geschäftsaufgabe zu erwähnen. Denn gerade in kleinstädtischen Verhältnissen ist damit zu rechnen, dass gestützt auf die im Bericht enthaltenen Aufgaben auch Personen über die HIV-Infektion Kenntnis erhielten, die der ehemalige Coiffeur nicht eingeweiht hatte. Denn auch wenn die Zahl der Coiffeur-Geschäfte in der Region Thun beträchtlich ist, dürfte es kaum einen zweiten Geschäftsinhaber geben, auf den die im Artikel enthaltenen Angaben gleichermassen zutreffen. Die Verständlichkeit der Darlegung hätte durch Weglassen dieser zusätzlichen Angaben jedenfalls in keiner Weise gelitten.

3. Nicht verletzt ist hingegen die Ziffer 8 der «Erklärung». Der Klient der Beschwerdeführerin wird durch blosse Erwähnung seiner HIV-Ansteckung weder in seinem Menschsein herabgesetzt noch stellt das «Thuner Tagblatt» die Fakten in sensationeller Weise dar. Ohnehin begründet die Beschwerdeführerin die behauptete Verletzung der Ziffer 8 der «Erklärung» in ihrer Eingabe nicht näher.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Das «Thuner Tagblatt» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «IV-Betrügerin muss 50’000 Franken zurückzahlen» vom 19. Januar 2011 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Das «Thuner Tagblatt» hat die Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde) nicht verletzt.