Zusammenfassung
Der Schweizer Presserat hat eine Beschwerde der Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind gegen die Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung «Die Zeit» abgewiesen. Die Zeitung hatte im August 2013 über das Beratungsgespräch einer Schwangeren bei der Stiftung berichtet. Es ging um abtreiben ja oder nein. Die Autorin gab sich dabei als Hilfesuchende aus, die ungewollt und ausserehelich schwanger ist. Die Journalistin durfte laut Presserat in ihrem Selbstversuch unter falscher Identität auftreten, damit sie ein möglichst authentisches Bild der Beratung zeichnen konnte. Dies umso mehr, als sich die Stiftung ausführlich und prominent zum Inhalt der verdeckten Recherche äussern konnte.
Wann dürfen Medienschaffende bei einer verdeckten Recherche selbst zu Akteuren werden? Ausnahmsweise, meint der Presserat. Erstens muss das öffentliche Interesse an den recherchierten Informationen überwiegen. Zweitens muss der Journalist die Informationen auf keinem anderen Weg beschaffen können. Drittens muss er die Verhältnismässigkeit zwischen dem Eingriff in die Privatsphäre und dem Interesse der Öffentlichkeit an dieser Information wahren.
Résumé
Le Conseil suisse de la presse a rejeté une plainte de la Fondation Aide suisse pour la mère et l’enfant contre l’édition suisse de l’hebdomadaire «Die Zeit». En août 2013, le journal rendait compte d’un entretien de conseils donnés à une femme enceinte à la Fondation. Avorter ou non, telle était la question. L’auteur se faisait passer pour une personne demandant de l’aide suite à cette grossesse non désirée et extraconjugale. La journaliste était légitimée, selon le Conseil de la presse, à faire cette expérience sous une fausse identité afin de pouvoir décrire le plus authentiquement possible la séance de conseils. C’est d’autant plus vrai que la Fondation a pu s’exprimer dans le même article de façon approfondie et compétente sur le contenu de la recherche sous couverture.
Quand un agent des médias est-il en droit de devenir lui-même acteur d’une recherche sous couverture ? Exceptionnellement, estime le Conseil de la presse. L’intérêt public aux informations recherchées doit être prédominant, tout d’abord. Secundo, le journaliste ne doit pas avoir le moyen d’obtenir les informations par une autre voie. Tertio, la proportionnalité entre l’atteinte à la sphère privée et l’intérêt public à cette information doit être respectée.
Riassunto
Il Consiglio svizzero della stampa ha respinto un reclamo presentato dalla fondazione „Aiuto svizzero per madre e bambino“ contro l’edizione elvetica del settimanale “Die Zeit”. Un servizio pubblicato nell’agosto 3013 descriveva un colloquio condotto con una donna in gravidanza in un ufficio della fondazione. Argomento del colloquio: aborto sì o no. L’autrice del servizio si era annunciata come richiedente la consulenza in prima persona, in quanto in attesa di un bimbo non voluto da un partner non suo marito. L’aver fornito una falsa identità era, secondo l’autrice del servizio, necessario per assicurare autenticità al servizio. In ogni caso la fondazione ha potuto dire la sua sul contenuto del servizio prima della pubblicazione.
Il problema è: fino a che punto il giornalista può/deve compromettersi in prima persona? Solo in casi eccezionali, dice il Consiglio della Stampa In primo luogo, deve esistere un interesse pubblico evidente. Inoltre, non dev’esservi nessun altro mezzo per conseguire lo stesso risultato. In terzo luogo, deve essere rispettata la proporzionalità tra l’intrusione nella sfera privata e l’interesse del pubblico.
I. Sachverhalt
A. Am 29. August 2013 berichtete «Die Zeit» in ihrer Schweizer Ausgabe über ein Beratungsgespräch einer schwangeren Frau bei der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK). Die Autorin, Sarah Jäggi, schildert darin das (fiktive) Schicksal von Hannah Graber, die – ungewollt schwanger – Hilfe bei der SHMK sucht. Bereits im 2. Abschnitt macht sie klar: «Hannah Graber, das bin ich.» Um zu erfahren, wie eine Beratung bei der SHMK vor sich geht, hat sie das Mittel der verdeckten Recherche gewählt. Die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, mehr über diesen Verein zu wissen. Denn die Spitäler verschiedener Schweizer Orte arbeiteten mit der Organisation zusammen, indem sie von dieser Babyfenster finanzieren und unterhalten liessen.
Die «Zeit»-Autorin schildert im Text, wie die Beraterin alles daran setzt, die schwangere Frau davon zu überzeugen, das Kind auszutragen. Dies auch mit grosszügigen finanziellen Hilfsangeboten, die aus Spendengeldern der Zewo-zertifizierten Stiftung stammen. Sie stellt dem Ablauf einer Beratung bei der SHMK auch das Vorgehen einer staatlich anerkannten Beratungsstelle gegenüber, wo Ergebnisoffenheit der Beratung herrschen soll. Ganz anders eben bei der SHMK: Dort werde den Frauen mit Falschinformationen und mit Horrorszenarien bezüglich Ablauf und Folgen einer Abtreibung Angst gemacht.
Den Artikel ergänzen Zeichnungen im Comicstil. Sie zeigen Hannah Graber/Sarah Jäggi im Gespräch mit der Beraterin und geben auch einzelne prägnante Teile des Gesprächs in Sprechblasen wieder. Als Ergänzung zum «Selbstversuch» von Sarah Jäggi erhält SHMK-Präsident Dominik Müggler schliesslich Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Ergebnissen ihrer Recherche – dies unter dem Titel: «Unsere Beratung ist unabhängiger». Die Stiftung werde nicht vom Staat finanziert. Sie übersehe auch nicht, dass «das Kind vom Ausgang des Beratungsgesprächs existentiell betroffen» sei und dass deshalb konkrete finanzielle Hilfe angeboten werden müsse.
B. Am 5. Dezember 2013 beschwerte sich die anwaltlich vertretene SHMK beim Schweizer Presserat über den «Zeit»-Artikel. Die Klage bezieht sich im Wesentlichen auf folgende Punkte: Mit der verdeckten Recherche seien Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» und die zugehörigen Richtlinien sowie insbesondere Richtlinie 4.6 (Recherchegespräche) verletzt worden, welche die Autorisierung von Zitaten vorschreibt, ebenso Ziffer 3 der «Erklärung» (u.a. durch unkorrekte Zitate).
Im Einzelnen sieht die Beschwerdeführerin die Regeln für verdeckte Recherchen dadurch verletzt, dass die Journalistin selbst als Akteurin aufgetreten sei, was zu vermeiden sei. Das geschilderte Gespräch erscheine mehr als Karikatur. Die Verfasserin des Artikels habe sich schon früher kritisch zur SHMK geäussert. Es sei ihr mithin nur darum gegangen, die «vorgefertigte Meinung süffig aufzubereiten», wohingegen die Beschwerdeführerin bereit gewesen wäre, umfassend über ihre Beratungstätigkeit Auskunft zu geben. Sie hätte auch nichts gegen die Teilnahme an einem echten Beratungsgespräch einzuwenden gehabt, das Einverständnis der Betroffenen vorausgesetzt. Die Zitate aus dem Gespräch seien höchstens sinngemäss richtig, hätten also keinesfalls als wörtliche Zitate dargestellt werden dürfen. Auch die Bilder stünden diametral in Widerspruch zu den Tatsachen, alles in allem verletze die Darstellung des Gesprächs demnach Ziffer 3 der «Erklärung».
C. In ihrer Beschwerdeantwort vom 17. April 2014 weist die anwaltlich vertretene Redaktion der «Zeit» die Beschwerde zurück. Die Beschwerdeführerin habe sich vor Veröffentlichung des Artikels umfassend äussern können, ihre Stellungnahme sei gleichermassen prominent aufgemacht gewesen wie der Artikel und integral abgedruckt worden. Es habe ein eminentes öffentliches Interesse bestanden an einer unverfälschten Innensicht auf die Beratungstätigkeit der SHMK,
zumal diese Zewo-zertifiziert sei. Das «Innenleben» solcher Beratungen sei nur durch einen Selbstversuch zu illustrieren gewesen. Selbst die Beschwerdeführerin bestreite dabei nicht, dass das Gespräch sinngemäss richtig wiedergegeben worden sei. Zudem habe Sarah Jäggi ein durchwegs freundliches Bild der Beraterinnen gezeichnet. Schliesslich sei das Gebot der Verhältnismässigkeit auch dadurch gewahrt worden, dass bei der Recherche weder Fotos noch Tonbandaufnahmen gemacht worden seien.
D. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Präsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried angehören.
E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 4. Juni 2014 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Im Vordergrund steht vorliegend die Frage, ob die Journalistin mit ihrem Vorgehen die berufsethischen Regeln zur verdeckten Recherche verletzt hat. Verdeckte Recherchen sind nur ausnahmsweise zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf einem anderen Weg hätten beschafft werden können. Besonders wichtig ist dabei der Persönlichkeitsschutz. In seiner Stellungnahme 58/2009 («Krankenkassenvermittler») hielt der Presserat fest, verdeckte Recherche beinhalte immer auch einen Vertrauensbruch und gaukle den Betroffenen etwas vor. Deshalb sei die «Relevanzschwelle» hoch anzusetzen. In Stellungnahme 45/2010 hielt er zudem fest, Medienschaffende sollten auch bei verdeckten Recherchen darauf achten, dass sie nicht selber zu Akteuren würden. Als zentral erachtete er insbesondere, die Verhältnismässigkeit zu wahren. «Je intensiver Medienschaffende in die Persönlichkeit von privaten Personen oder in die Geschäftsgeheimnisse von Firmen eindringen, desto höher muss das Interesse der Öffentlichkeit an der Enthüllung eines Missstandes sein.»
b) Was bedeuten diese grundsätzlichen Überlegungen für den vorliegenden Fall? Der Journalistin ging es darum, zu erfahren, wie Beraterinnen der SHMK auf ihre Fragen und Einwände reagieren würden, sie wollte ein authentisches Bild der Beratungstätigkeit der Stiftung zeichnen. Sie tat dies, unter falscher Identität, mit einem Selbstversuch und konnte so teilhaben an der täglichen Arbeit der Stiftung. Ein Eingriff in die Privatsphäre der Beschwerdeführerin oder deren Mitarbeiterinnen liegt damit nicht vor.
Die SHMK ist eine Organisation, die Zewo-zertifiziert ist und damit von einem Vertrauensbonus profitiert. Sie tritt pointiert in der Öffentlichkeit auf und arbeitet mit verschiedenen Spitälern – somit staatlichen Stellen – in Bezug auf die Einrichtung und Finanzierung von Babyfenstern zusammen. Hinzu kommt, dass das Thema Abtreibung bei der Veröffentlichung des Artikels im Vorfeld der Abstimmung über die Abtreibungsfinanzierung im Fokus der Öffentlichkeit stand. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an Informationen über die Beratungsdienstleistungen dieser Organisation bestand demnach zweifelsohne.
Wie ist jedoch die Tatsache zu werten, dass die Journalistin dabei selbst als Akteurin auftrat, zumal die Beschwerdeführerin geltend macht, sie hätte nichts gegen deren Teilnahme an einem echten Beratungsgespräch gehabt? Sarah Jäggi war der SHMK als kritisch eingestellte Journalistin bekannt, wie die Beschwerdeführerin selbst ausführt. Vor diesem Hintergrund ist ihr Angebot zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Letztlich kann diese Frage jedoch offen bleiben. Denn ein authentisches Beratungsgespräch liess sich nur auf die von der Journalistin gewählte Weise nachzeichnen. Sie war deshalb legitimiert, zum Mittel der verdeckten Recherche zu greifen. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerin ausführlich, gleichzeitig und prominent zum Inhalt der verdeckten Reportage Stellung nehmen konnte. Ziffer 4 der «Erklärung» ist demnach nicht verletzt.
2. Ziffer 3 der «Erklärung» verlangt, dass Medienschaffende keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen und weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen entstellen. Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, infolge der verdeckten Recherche seien Tatsachen entstellt worden, sodass im Ergebnis ein sinnentstelltes Bild der Beratung entstehe. Die Bilder und Texte im Comicstil hätten zusätzlich zur Desinformation beigetragen. Ein falsches Bild sei auch dadurch entstanden, dass sinngemässe Aussagen als wörtliche Zitate wiedergegeben worden seien, was wiederum eine Verletzung von Richtlinie 4.6 (Recherchegespräche) darstelle. Die betroffenen Personen hätten die Zitate autorisieren müssen. Gleichzeitig unterstreicht die Beschwerdeführerin, die nur sinngemässe Wiedergabe der Zitate habe nicht per se zu einer «Sinnentstellung» geführt.
Für den Presserat ist letztlich nicht nachzuvollziehen, welche Tatsachen wie entstellt bzw. inwiefern das Gespräch verfälscht wiedergegeben worden sein soll. Auch die Comic-Bilder bzw. Sprechblasen geben im Wesentlichen Ausschnitte aus dem Gespräch wieder, enthalten also keine verzerrenden Informationen. Die Beschwerdeführerin selbst erklärt – wie erwähnt – der Text gebe die Aussagen der Beraterin dem Sinn nach wieder. Ziffer 3 der «Erklärung» ist demnach nicht verletzt.
Richtlinie 4.6 hingegen ist im Rahmen einer verdeckten Recherche nicht direkt anwendbar, da eine Autorisierung von Zitaten Sinn und Zweck einer verdeckten Recherche zuwiderläuft. Es handelt sich um relativ wenige Zitate in direkter Rede, deren Wahrheitsgehalt von der Beschwerdeführerin nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die Beraterinnen, die diese Aussagen machen, sind anonymisiert, sie stehen stellvertretend für die Organisation. Die Beschwerdeführerin wurde mit den im Artikel erhobenen Vorwürfen in detaillierter Weise konfrontiert und konnte sich ebenso detailliert dazu äussern. Wenn die Kernaussagen der Zitate in den vorgängig vorgelegten Vorwürfen vorkommen, können diese Zitate als Stilmittel gelten, welches für den Leser Authentizität herstellt und in dieser Form im Rahmen einer verdeckten Recherche zulässig ist. Die Journalistin hätte die Aussagen auch beschreiben können, an den Aussagen selbst hätte sich jedoch nichts geändert. Im Mittelpunkt des Berichts steht die Organisation und deren Vorgehen bei Beratungen und nicht einzelne Personen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. «Die Zeit» hat mit dem Artikel «Hannah, wir helfen Ihnen» vom 29. August 2013 die Ziffern 3 (Entstellung von Tatsachen) und 4 (verdeckte Recherche) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt, sondern weitgehend sachlich über die Welt strenger Abtreibungsgegner/innen berichtet. Es bestanden triftige Gründe für eine verdeckte Recherche, zudem erhielt die Beschwerdeführerin Gelegenheit, ihren Standpunkt prominent darzulegen.