Nr. 4/2012
Entstellung von Tatsachen

(X. c. «Tages-Anzeiger Online») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 9. März 2012

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 10. Oktober 2011 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger Online» einen Artikel von Philipp Löpfe mit dem Titel «Den Algo-Tradern wird das Handwerk gelegt». Der Lead des Berichts lautet: «Auf beiden Seiten des Atlantiks will man nun den Börsenhandel mit superschnellen Computern eindämmen oder gar verbieten.» Einleitend erläutert der Autor, im Jargon spreche man von «High-Frequency»- oder auch von «Algo-Tradern». Gemeint damit seien Börsenhändler, die für ihren Job «hochgezüchtete Supercomputer und künstliche Intelligenz» einsetzten. «Sie wickeln ihre Transaktionen innerhalb von Mikrosekunden ab und verdienen damit ein Heidengeld. Gegen sie haben normale institutionelle Anleger wie Versicherungen und Pensionskassen keinen Stich mehr. Völlig chancenlos sind die Kleinanleger.» Doch damit solle nun bald Schluss sein. In Nordamerika und Europa machten sich die Überwachungsbehörden Gedanken, «wie man den Algo-Tradern das Handwerk legen kann». Die Behörden verfolgten dabei zwei Ziele. Einerseits sollten die Wettbewerbsvorteile der mit Supercomputern ausgerüsteten Hedgefonds-Profis abgebaut und die konservativen institutionellen Anleger begünstigt werden. Andererseits solle das System sicherer gemacht werden. «Die Algo-Trader werden nämlich auch für die zunehmende Volatilität der Börsen verantwortlich gemacht. Für die High-Frequency-Spezialisten ist Volatilität die Basis ihres Erfolgs. Dank ihren hochkomplexen Algorhythmen (…) können sie kleinste Kursdifferenzen sofort gewinnbringend ausnützen. Für langfristig orientierte Anleger hingegen verursachen die wild schwankenden Kurse bloss unnütze Kosten und schmälern ihren Profit.»

B.
Am 11. Oktober 2011 beschwerte sich X. beim Presserat über die «suggestive, reisserische Schlagzeile» – «Den Algo-Tradern wird das Handwerk gelegt» – des Berichts von Philipp Löpfe. Damit suggeriere der «Tages-Anzeiger», das Handwerk der «Algo-Trader» sei verwerflich oder sogar illegal. Die Schlagzeile sei zudem für eine Hintergrundseite eines Qualitätsblatts unangemessen, von dem die Leserschaft zu Recht eine vertiefende Behandlung von Fakten zu einem bestimmten Thema und keinen subjektiven Kommentar erwarte.

Zudem enthalte der Bericht falsche, schlecht recherchierte Fakten. Mit Sätzen wie «Im Jargon spricht man von ‹High-Frequency› oder ‹Algo-Tradern›» entlarve sich der Autor als «absoluter Laie im Bereich des elektronischen Börsenhandels». Unter «High-Frequency» verstehe man den elektronischen Handel mit Finanzinstrumenten, bei dem Positionen oft nur während Sekunden gehalten würden. Durch eine hohe Anzahl an kleinen Transaktionen mit kleiner Gewinnmarge liessen sich erhebliche Gewinne erzielen. Demgegenüber verstehe man unter «Algo-Trading» den Handel mit Hilfe von mathematischen Algorhythmen. Mit «High-Frequency» habe dies nichts zu tun.

Ebenso lasse der Begriff «hochgezüchtete Supercomputer» jedem gestandenen Informatiker die Haare zu Berg stehen. Als Maschinen könne man Computer nicht wie Kühe hochzüchten. Supercomputer würden beispielsweise in der Klimaforschung verwendet, um sehr komplexe, aufwändige Berechnungen schneller durchzuführen. «Im elektronischen Börsenhandel kommen Supercomputer kaum zum Einsatz.»

Und Transaktionen in «Mikrosekunden abzuwickeln» sei schon rein physikalisch nicht möglich, da «Orders über ein Computernetzwerk an die Börse übermittelt, von dieser ‹gematched› und an den Auftraggeber rückbestätigt werden müssen. Das spielt sich im Bereich von Millisekunden ab, also drei Grössenordnungen langsamer, als von Philipp Löpfe suggeriert.»

Weiter seien institutionelle Anleger und Kleinanleger überwiegend nicht an «Intraday-Trading» interessiert, sondern an Erträgen aus langfristigen Anlagen. «Sie profitieren sogar von einer verbesserten Liquidität der Märkte.» Zudem bestehe kein Zusammenhang zwischen den im Artikel kritisierten «Algo-Tradern» bzw. dem «High-Frequency-Trading» und dem «Businessmodell von Banken und Fonds, die bei jeder Aktion mitschneiden».

Im Zusammenhang mit der diskutierten Regulierung gehe der Autor schliesslich auf «vermeintliche Wettbewerbsvorteile von ‹Algo-Tradern› und ‹Hedgefonds-Profis› ein, ohne zu hinterfragen, wer von einer Einschränkung dieser Marktteilnehmer profitieren würde und daher massives Lobbying in diese Richtung betreibt. Es sind dies die grossen Banken, die aufgrund der höheren Liquidität und der engeren ‹spreads› ihre Gewinnmargen dahinschmelzen sehen.»

Insgesamt sieht der Beschwerdeführer durch die Veröffentlichung des beanstandeten Berichts insbesondere die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Entstellung von Tatsachen) verletzt.

C. Am 28. November 2011 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion von «Tages-Anzeiger Online» die Beschwerde als unbegründet zurück. Über Titel könne man immer diskutieren. Es sei aber nicht auszumachen, inwiefern der Titel «Den Algo-Tradern wird das Handwerk gelegt» gegen den Journalistenkodex verstossen solle. Der beanstandete Bericht stelle Fakten dar, ohne sie zu kommentieren. Ohnehin verlange die «Erklärung» aber keine formelle Trennung von Fakten und Meinungen.

Der «Tages-Anzeiger» weist den Vorwurf zurück, dass er falsche oder schlecht recherchierte Fakten publiziert habe. «Richtig ist einzig, dass der Beschwerdegegner nicht alle möglichen Fakten publiziert, sondern eine Auswahl getroffen hat, die dem Beschwerdeführer offensichtlich missfällt, die aber in keiner Weise wichtige Elemente unterschlägt und damit falsche Eindrücke erweckt.» Von einer Entstellung von Tatsachen könne keine Rede sein und der Beschwerdeführer belege seinen Vorwurf nicht, sondern präsentiere «eine Serie von angeblichen Fehlern, was sich aber bei näherem Hinsehen als blosse Haarspalterei erweist».

Die Begriffe «High-Frequency-Trading» und «Algo-Trader» würden häufig im gleichen Zusammenhang verwendet. Und auch der Ausdruck «hochgezüchtete Supercomputer» sei völlig unbedenklich – für den Durchschnittsleser sei absolut klar, wovon die Rede ist.

D. Am 2. Dezember 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

E. Am 20. Januar 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, dass Esther Diener-Morscher und Edy Salmina per 31. Dezember 2011 aus dem Presserat zurückgetreten und durch Francesca Snider sowie Max Trossmann ersetzt worden sind.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 9. März 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde beanstandet im Wesentlichen zweierlei: Einerseits die Unangemessenheit des Titels «Den Algo-Tradern wird das Handwerk gelegt» und andererseits die aus Sicht des Beschwerdeführers fachlich unausgereifte Auseinandersetzung mit einem komplexen Thema, was sich in einer Reihe sachlicher Fehler manifestiere. Auf diese Rügen geht der Presserat in den nachfolgenden Erwägungen je separat ein.

2. Zur Kritik des Beschwerdeführers am Titel ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Presserat gemäss seiner ständigen Praxis aus der «Erklärung» keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung ableitet. Vielmehr sind berufsethisch auch einseitige, unausgewogene und parteiergreifende Medienberichte zulässig (vgl. unter vielen die Stellungnahme 50/2009). Ebenso wenig schreibt der Journalistenkodex eine formale Trennung von Information und
Kommentar vor (Stellungnahme 36/2011).

Dem Beschwerdeführer ist zuzugestehen, dass die Redewendung «jemandem das Handwerk legen» meist im Zusammenhang mit dem Vorwurf eines illegalen Verhaltens verwendet wird. Bereits der Lead «Auf beiden Seiten des Atlantiks will man den Börsenhandel mit superschnellen Computern eindämmen oder gar verbieten» macht vorliegend aber klar, dass der Autor des Berichts etwas anderes meint: Nämlich, dass die Börsenaufsichtsbehörden über neue Regulierungen nachdenken, um unerwünschte Folgen zu beseitigen oder zumindest abzufedern, für die nach ihrer Auffassung die massive Zunahme des computergestützten Intraday-Trading verantwortlich ist. Der Presserat masst sich nicht an, zu beurteilen, ob diese Analyse zutreffend und eine entsprechende rechtliche Regulierung notwendig und zielführend ist. Auch der Beschwerdeführer bestreitet aber nicht, dass sich Börsenaufsichtsbehörden in Amerika und Europa entsprechende Gedanken machen. Gestützt auf dieses unbestrittene Faktum erscheint die Umschreibung, die Behörden wollten den «Algo-Tradern» damit «das Handwerk legen», als eine sich im Rahmen der Kommentarfreiheit bewegende Wertung, die für die Leserschaft als solche erkennbar ist.

3. Es ist nicht Sache des Presserats, zu wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen inhaltlich Stellung zu nehmen (Stellungnahme 13/2000). Ohnehin wäre er fachlich nicht in der Lage, sich zur Kontroverse über die negativen – beziehungsweise gemäss Darlegung des Beschwerdeführers in mehrfacher Hinsicht im Gegenteil positiven – Folgen des computergestützten «Intraday»-Börsenhandels zu äussern. Und er masst sich auch nicht an, die harsche Kritik zu beurteilen, wonach der Bericht dessen Autor als «absoluten Laien» im Bereich des elektronischen Börsenhandels entlarve. Ungeachtet davon erinnert der Presserat aber daran, dass an die «Wissenschaftlichkeit» von tagesaktuellen Medien keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen. Im Gegenteil besteht die schwierige journalistische Aufgabe gerade darin, komplexe Sachverhalte in einer auch für Laien verständlichen Sprache darzulegen (Stellungnahme 28/2000).

Die einzelnen Kritikpunkte der Beschwerde am Artikel von Philipp Löpfe – Vermengung der Begriffe «Algo-Trader» und «High-Frequency»; im Börsenhandel kämen «Supercomputer» kaum zum Einsatz; wennschon spiele sich der elektronische Börsenhandel in Millisekunden und nicht in Mikrosekunden ab; die Interessen von eher langfristig orientierten institutionellen Anlegern und Kleinanlegern seien kaum beeinträchtigt es gehe mehr um die Sicherung der Gewinnmargen der Grossbanken – erscheinen aus der Laiensicht des Presserats zwar plausibel. Doch auch wenn die präzisierenden Ausführungen des Beschwerdeführers zu einer differenzierten Debatte beizutragen vermöchten – erscheinen sie für das Verständnis der Leserschaft des «Tages-Anzeiger» nicht als derart relevant, um aus ihrer Weglassung eine Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung» abzuleiten. Aus dem Bericht des «Tages-Anzeiger» geht für die Leserinnen und Leser mit genügender Klarheit hervor, dass und weshalb Börsenaufsichtsbehörden über eine Regulierung des computergestützten «Intraday»- Börsenhandels diskutieren.

 
III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem am 10. Oktober 2011 veröffentlichten Bericht «Den Algo-Tradern wird das Handwerk gelegt» die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Entstellung von Tatsachen) nicht verletzt.