Nr. 19/2003
Diskriminierungsverbot

(David c. «Neue Luzerner Zeitung») Stellungnahme des Presserates vom 2. Mai 2003

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 9. Januar 2003 veröffentlichte die «Neue Luzerner Zeitung» (nachfolgend: NLZ) folgenden Leserbrief: «Warum gibt es in Israel eigentlich keinen Frieden? Die Juden haben vergessen, wie es ihnen im zweiten Weltkrieg ergangen ist. Jetzt macht die Regierung unter Ministerpräsident Sharon das gleiche Verbrechen, wie damals Hitler, an den Palästinensern. Ich kann nicht verstehen, warum die Amerikaner den Juden Land gegeben haben für einen jüdischen Staat; man hätte doch auch den Palästinensern Land geben können, denn die haben genau das gleiche Recht auf Leben. Jeden Tag werden in diesem Land Häuser zerstört und wahllos Leute ermordet. Warum legt kein Staat ein Veto gegen Israel ein? Ich wäre dafür, dass man die israelitischen Botschaften in Europa schliessen sollte, und es sollte auch kein Handel mehr mit den Juden gemacht werden dürfen.»

B. Am 13. Januar 2003 beschwerte sich Frank Lübke namens der Organisation «David, Das Zentrum gegen Antisemitismus und Verleumdung» beim Presserat über die Publikation des oben zitierten Leserbriefes. Dieser vermenge «in absolut unstatthafter Weise die Begriffe Israel und Juden, israelisch und israelitisch». Damit würden «alle Juden direkt mitverantwortlich für sämtliche Aktionen» gemacht, «die im Namen des Staates Israel ausgeführt werden. «Nicht zuletzt wird, wohl im Konjunktiv, doch unverblümt, zum Boykott aufgerufen. Nicht gegen Israel, sondern gegen Ðdie Judenð». Mit der Publikation dieses Textes habe die Redaktion der NLZ klar gegen Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierungsverbot) verstossen.

C. In einer Stellungnahme vom 19. Februar 2003 beantragte die anwaltlich vertretene Redaktion der NLZ, die Beschwerde sei abzuweisen. Der Abdruck des beanstandeten Leserbriefs sei im Zusammenhang mit der kontroversen Diskussion über die Nahostpolitik und insbesondere über die Politik Israels gegenüber den Palästinensern erfolgt. Terminologisch würden zwar sowohl die Begriffe «Israel» und «israelitisch» wie auch derjenige der «Juden» verwendet. «Die Vorwürfe des Leserbrief-Schreibers richten sich allerdings klar und eindeutig gegen den Staat Israel und dessen Politik im Zusammenhang mit den Palästinensern.» Bei Leserbriefen dürften die Anforderungen an die terminologische Richtigkeit im Vergleich zum redaktionellen Teil nicht gleich hoch angesetzt werden. «Hier sollen Leserinnen und Leser möglichst frei ihre Meinung äussern können und wissenschaftliche Belege für Faktentreue sind nicht das oberste aller publizistischen Kriterien. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers enthalte der Leserbrief keine generelle Schuldzuweisung an sämtliche Angehörige jüdischen Glaubens für die Aussenpolitik des Staates Israel. Hinsichtlich des Boykott-Aufrufs sei unbestritten, dass jegliche Form der Diskriminierung der Juden als Ethnie unzulässig sei. Allerdings habe der Leserbriefschreiber «den personifizierenden Begriff der Juden mit dem Staat der Juden, mithin mit Israel, gleichgesetzt und nicht die Religionszugehörigkeit» gemeint.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 28. Februar 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 2. Mai 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Ziffer 8 der «Erklärung» haben Journalistinnen und Journalisten diskriminierende Anspielungen zu unterlassen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben. Der Presserat hat in diesem Zusammenhang (Stellungnahme 21/01 i.S. W. c. «Tages-Anzeiger») auch eine harsche Kritik am Staat Israel und an den Handlungen der Verantwortlichen dieses Staates berufsethisch als zulässig erachtet. Dies gilt jedenfalls solange, als die Kritik nicht in sachlich unbegründeter Weise verallgemeinert wird (Stellungnahme 49/01 i.S. David c. «Berner Zeitung»). Kritik überschreitet die Grenze zu diskriminierender Verallgemeinerung dann, wenn sie nicht nur den Staat Israel und dessen Organe oder Akteure tadelt, sondern die Begriffe «Israel, israelisch usw.» und «Juden, jüdisch usw.» vermengt. So dehnt sich Kritik auf die Gesamtheit der Angehörigen jüdischen Glaubens aus. Dabei darf entgegen der Auffassung der Redaktion der NLZ die Intention des Leserbriefschreibers – über die der Presserat ohnehin nur mutmassen könnte – nicht massgebend sein. Entscheidend ist vielmehr, ob ein Text zumindest von einem erheblichen – über den Kreis der thematisch besonders sensibilisierten Personen hinausgehenden – Teil des Publikums als diskriminierend verstanden werden kann. Schliesslich hat der Presserat die Redaktionen in den Stellungnahmen 23/99 i.S. S. c. «Tages-Spiegel» sowie 34/00 i.S. L. c. «Thurgauer Zeitung» aufgefordert, redigierend einzugreifen, wenn ein Leserbrief Ehrverletzungen enthält. Entsprechend ist eine redaktionelle Bearbeitung auch von Passagen in Leserbriefen zu verlangen, die als rassistisch und / oder diskriminierend verstanden werden können.

2. Bezugnehmend auf den am 9. Januar 2003 veröffentlichten Leserbrief wäre es mit geringen redaktionellen Eingriffen ohne weiteres möglich gewesen, den Text im Sinne der oben dargelegten Grundsätze zu überarbeiten, ohne dass dabei die Kritik am Staat Israel – soweit diese nicht als antisemitisch verstanden werden kann – abgeschwächt worden wäre. Denn insbesondere der letzte Halbsatz «und es sollte kein Handel mehr mit den Juden gemacht werden dürfen» kann vom unbefangenen Leser nur als Boykottaufruf gegen eine Religionsgemeinschaft und damit als offensichtlich diskriminierend im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung» verstanden werden.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die Grenze zwischen zulässiger Kritik am Staat Israel und am Handeln der dafür politisch Verantwortlichen wird überschritten, wenn diese aufgrund der undifferenzierten Vermengung der Termini «Israel, israelisch usw.» und «Juden, jüdisch usw.» auf die Gesamtheit der Angehörigen jüdischen Glaubens ausgedehnt wird. Ebenso wie bei Ehrverletzungen sind Redaktionen auch dann verpflichtet, redigierend einzugreifen, wenn ein Leserbrief Passagen enthält, die von einem erheblichen – über den Kreis der thematisch besonders sensibilisierten Personen hinausgehenden – Teil des Publikums als diskriminierend verstanden werden können.