I. Sachverhalt
A. Die «Rundschau» von Schweizer Fernsehen DRS strahlte am 21. Januar 2004 einen Beitrag über die Migros und die von ihr bezahlten Löhne an Festangestellte und Temporärarbeitskräfte aus. Berichtet wurde dabei vor allem über das Verteilzentrum Suhr. Dort zahlt die Migros den Festangestellten Löhne gemäss Gesamtarbeitsvertrag (GAV), die höher sind als jene für Temporäre. Für die Festangestellten ist die Migros selbst Arbeitgeber; bei den zum Teil über längere Zeit beschäftigten Temporären sind es Verleihfirmen für Personal. Im Film beklagen Temporärarbeitskräfte ihre tieferen Löhne für gleiche oder ähnliche Arbeit und sonstige Benachteiligungen bei den Arbeitsbedingungen gegenüber den Festangestellten. Gezeigt hat die «Rundschau» auch eine Sequenz, in der Gewerkschafter mit dem Leiter der Verteilzentrale debattieren. Dabei nennt ein Gewerkschaftsfunktionär die Personalverleiher abschätzig «Sklaventreiber». Zwei Wochen nach Ausstrahlung des TV-Beitrags hob die Migros die Löhne der Temporärarbeitnehmer auf die Höhe des Migros-Mindestlohns gemäss GAV an.
B. Am 2. Februar 2004 erhob der Verband der Personaldienstleister der Schweiz (VPDS) beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den «Rundschau»-Beitrag: Verletzt sei die Regel «audiatur et altera pars», die Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen, wie sie die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» vorsieht. Der Verband moniert, dass ein Gewerkschaftsvertreter prominent und ausführlich zu Wort komme und dabei die Temporärunternehmen unwidersprochen als Sklaventreiber bezeichnen dürfe, «eine extrem unqualifizierte und herabwürdigende Aussage». Zudem werde noch «Reklame» für einen SP-Vorstoss gegen die Temporärfirmen gemacht «und damit das ,Feindbild’ Temporärunternehmen unausgewogen unterstützt». Die Sicht der Verleihfirmen aber habe keiner ihrer Vertreter darlegen können.
C. Am 3. März 2004 bat die Redaktion der «Rundschau» zunächst, der Presserat möge die Beschwerde doch an den Ombudsmann DRS weiterreichen, bei dem der beschwerdeführende Verband offenbar bereits ein Verfahren eingeleitet habe. Zudem mache der Beschwerdeführer keine grundlegenden berufsethischen Mängel geltend.
D. Die Nachfrage des Presserats beim Verband der Personaldienstleister der Schweiz ergab, dass dieser kein Verfahren beim DRS-Ombudsmann anhängig gemacht hatte. Der Presserat forderte deshalb die Redaktion der «Rundschau» am 10. März 2004 erneut auf, zur Beschwerde materiell Stellung zu nehmen. Der Presserat wies zudem darauf hin, dass mit dem Anhörungsprinzip durchaus eine wichtige berufsethische Regel als verletzt gerügt werde.
E. Am 6. April 2004 nahm Redaktionsleiterin Belinda Sallin für die «Rundschau» zur Beschwerde Stellung. Sie beantragte, diese abzulehnen. Denn Gegenstand des «Rundschau»-Beitrags «Migros-Löhne» vom 21. Januar 2004 seien nie die Verträge des Temporärpersonals mit seinen Arbeitgebern, den Verleihfirmen, gewesen. «Thema war ausschliesslich die Migros und ihr Gesamtarbeitsvertrag. Die Kernfrage lautete: Ist es legitim, wenn die Migros Temporärangestellte über längere Zeit hinweg beschäftigt, die nicht den Migros-Mindestlohn erhalten?» Die Sicht der Migros lege deren Logistik-Chef Armin Meier dar. Meier erkläre ausserdem, dass die Migros nur mit professionellen Verleihfirmen arbeite, für welche auch ethische Grundsätze wichtig seien und dass sich die Migros davon überzeugen konnte, dass diese Firmen nach guten Grundsätzen arbeiteten. Das widerspreche dem Vorwurf des Beschwerdeführers, die «Rundschau» unterstütze das Feindbild Temporärunternehmen unausgewogen.
Dem zentralen Vorwurf der Beschwerde, die Personalverleihfirmen würden als «Sklaventreiber» herabgewürdigt und könnten dazu nichts sagen, begegnet die Redaktionsleiterin wie folgt: Die «Rundschau»-Kamera beobachte hier nur eine Gesprächssituation zwischen zwei Gewerkschaftern und dem Leiter der Verteilzentrale auf dem Migros-Areal. Dabei spreche der Gewerkschafter gegenüber dem Migros-Mann von den Verleihfirmen als «Sklaventreibern». «Die Situation ist weder gestellt noch inszeniert. Die Beteiligten geben kein Statement vor der Rundschau-Kamera ab, sondern sind miteinander im Gespräch. Dieser Dialog verlangt keinesfalls nach einer Stellungnahme der Temporärfirmen. Sie sind nicht das Thema. Die Regel ,audiatur et altera pars’ gilt in diesem Fall für die Migros, die gegenüber den Vorwürfen der Gewerkschaften im Beitrag ausführlich Stellung nehmen konnte und nicht für die Verleihfirmen.» Deshalb habe sie als Redaktionsleiterin entschieden, die Temporärfirmen nicht in den Beitrag mit einzubeziehen, «da sie auch kein Vorwurf trifft».
F. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 17. Juni 2004 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der beschwerdeführende Verband der Personaldienstleister der Schweiz rügt, die Redaktion der «Rundschau» habe ihn zu schweren Vorwürfen nicht zu Wort kommen lassen und die Anhörungspflicht verletzt. Gegenstand der Beschwerde ist damit ein Thema, mit dem sich der Schweizer Presserat in den letzten Jahren vermehrt auseinanderzusetzen hatte. Ein recht erheblicher Teil der Beschwerden drehte sich nämlich um diesen Vorwurf. Und in einigen Fällen stellte der Presserat tatsächlich fest, dass Redaktionen der Pflicht zur Anhörung gar nicht oder nur ungenügend nachgekommen waren (vergleiche dazu nur die neueren Stellungnahmen 27/2003 i.S. Canton du Jura c. «Le Matin» und 39/2003 i.S. Schweizerische Flüchtlingshilfe c. «Weltwoche»). Der Presserat hielt es deshalb für geboten, zur Anhörungspflicht die präzisierende Richtlinie 3.8 herauszugeben. Dies, obwohl die Pflicht zur Anhörung schon aus dem Fairnessprinzip in der Präambel zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» hervorgeht. Die explizite Richtlinie 3.8 (verabschiedet im Februar 2003) lautet wie folgt:
Richtlinie 3.8: Anhörung bei schweren Vorwürfen Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten («Audiatur et altera pars») leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.
2. Bei der Beschwerde der Personaldienstleister ist zwischen «Rundschau»-Redaktion und Beschwerdeführer strittig, ob im Fernsehbeitrag überhaupt schwere Vorwürfe an die Temporärfirmen gerichtet worden sind.
Die beschwerdeführenden Verleihfirmen von Temporärarbeitskräften fühlen sich von der «Rundschau»-Journalistin, die den Beitrag realisierte, unfair behandelt. Denn diese habe bei der Recherche vom Sekretär ihres Verbands nur die Erklärung erreichen wollen, dass auch der Verband der Verleihfirmen das Verhalten der Migros unethisch finde, Temporären weniger Lohn als Festangestellten zu zahlen. Als das nicht gelang, sei die Journalistin nicht mehr an einer Stellungnahme interessiert gewesen. Dagegen habe eben ein Gewerkschaftsvertreter die Temporärunternehmen unwidersprochen als «Sklaventreiber» bezeichnen dürfen.
Die «Rundschau» argumentiert, in ihrem Beitrag sei es ausschliesslich um die Migros, deren Löhne und deren Gesamtarbeitsvertrag gegang
en. Die Temporärfirmen habe sie gar nicht im Visier gehabt und daher auch nicht mit einbezogen.
3. Nun ist allerdings unstrittig, dass im gesamten Beitrag immer wieder von Temporärarbeitenden und deren tieferen Löhnen gegenüber den gemäss GAV Festangestellten und besser Entlöhnten die Rede ist. Solche Temporäre führen über ihre Benachteiligung im Film ja auch bewegt Klage. Und aus dem Zusammenhang wird klar, dass ihre Benachteiligung auch daher rührt, dass die Migros solche Arbeitskräfte von Dritten, eben den Personaldienstleistern, zumietet.
4. Unstrittig ist auch, dass ein Gewerkschaftsvertreter im TV-Beitrag an einer kurzen Stelle von den Personalverleihfirmen als «Sklaventreibern» spricht. Umstritten ist dagegen, wie dieser Auftritt zu werten sei: Ob als schwerer Vorwurf, für den die Redaktion die Gegenseite zu Wort hätte kommen lassen müssen, wie die Verleihfirmen meinen. Oder nur als Moment in einer unbefangenen Diskussionssituation zwischen Gewerkschaftern und dem Leiter des Migros-Verteilcenters, den die Kamera der «Rundschau» nur beobachtend aufnahm. Und bei der es nur um die Migros, nicht um die Temporärfirmen gegangen sei.
5. Die «Rundschau»-Redaktion betont, in der fraglichen Filmsequenz gäben die Diskutierenden kein Statement vor der Kamera ab, sondern die Kamera beobachte nur eine natürliche, ungestellte, nicht inszenierte Diskussion. Diese Argumentation ist nach Meinung des Presserates nun doch etwas blauäugig. Denn wer die entsprechende Sequenz betrachtet, der sieht, dass sowohl den Gewerkschaftern wie dem Migros-Mann durchaus bewusst ist, dass das Fernsehen eben mitfilmt, dass Kamera und Mikrofon ihre Diskussion aufnehmen. Und deshalb ist die Gesprächssituation nicht ganz so unverfänglich wie die «Rundschau»-Redaktion sie gern sähe und kennzeichnet. Die redaktionelle Verantwortung erstreckt sich auf alle veröffentlichten Aussagen von Dritten, auch wenn diese nur in einer «beobachten Gesprächssituation» geäussert werden und nicht in einem direkten Statement vor der Kamera. Andererseits wird aber auch deutlich, dass der Gewerkschaftsfunktionär die Bemerkung von den «Sklaventreibern» nur so nebenhin anbringt.
6. Der Presserat hält die kurze «Rundschau»-Passage, in der ein Gewerkschafter Personalverleihfirmen in allgemeiner Form als «Sklaventreiber» bezeichnet, als für den TV-Beitrag «Migros-Löhne» nicht zentral. Und die Bezeichnung «Sklaventreiber» ist zwar eindeutig abwertend und abschätzig, im gegebenen Kontext aber nicht so schwerwiegend, dass sie in dieser allgemeinen Form als schwerer Vorwurf zu qualifizieren ist, zu dem der Angegriffene zwingend anzuhören wäre. Zumal sich der Vorwurf nicht gegen eine bestimmte natürliche oder juristische Person, sondern bloss gegen die Temporärfirmen im Allgemeinen richtete. Unter diesen Umständen wäre es auch nicht von vornherein klar gewesen, wer zu diesem Vorwurf überhaupt hätte angehört werden müssen (zur Schwere eines polemisierenden Vorwurfs gegen eine unbestimmte Personenmehrheit vgl. die Stellungnahme 50/2002). Die «Rundschau» hat hier deshalb die Anhörungspflicht gemäss Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten» nicht verletzt.
7. Trotzdem wäre es aus Sicht des Publikums zu begrüssen gewesen, hätte die «Rundschau» – auch wenn sie berufsethisch dazu nicht verpflichtet war – im genannten Beitrag auch einem Vertreter der Temporärfirmen kurz das Wort erteilt. Nicht unbedingt wegen des Worts «Sklaventreiber», mit dem ein Gewerkschafter diese Unternehmen belegt. Sondern weil es im Beitrag zentral um von solchen Firmen an die Migros vermittelte Temporärangestellte und ihre Löhne geht. Der Vertreter der Verleihfirmen hätte knapp deren Sicht umreissen können: Dass für das temporäre Personal eben sie Arbeitgeber seien und nicht die Migros. Dass sie eben Marktlöhne und nicht GAV-Löhne zahlten. Und dass sie nicht Vertragspartner des Gesamtarbeitsvertrags seien, dieser nicht allgemein verbindlich erklärt sei und sie diesem folglich nicht unterstünden. Eine solche Stellungnahme hätte den Fernsehbeitrag abgerundet, ohne ihm seine Zielgerichtetheit zu nehmen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «Rundschau» von SF DRS hat in ihrem Beitrag «Migros-Löhne» vom 21. Januar 2004 die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen gemäss Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.