Nr. 75/2012
Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Schweizerische Rettungsflugwacht c. «Handelszeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 14. Dezember 2012

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Retter in Bedrängnis» veröffentlichte die «Handelszeitung» am 3. Mai 2012 einen Artikel von Jean François Tanda, der sich kritisch mit der Schweizerischen Rettungsflugwacht (nachfolgend: Rega) auseinandersetzt. Der Lead des Bericht lautet: «Zum 60-Jahr-Jubiläum sorgt ein Konkurrent für Preisdruck. Die Rega sucht neue Aufträge und fliegt US-Soldaten.»

Laut Einschätzung des Autors hat die Rega «nicht viel Grund zum Jubeln». Aufgrund der Konkurrenz der Alpina Air Ambulance (AAA) bei den Repatriierungsflügen purzelten die Preise. Die Rega gebe sich allerdings gelassen. Die Erträge in diesem Bereich seien schon einige Zeit rückläufig. Mit ein Grund sei die Wirtschaftskrise, die zur Folge habe, dass Anbieter der Business Aviation freie Kapazitäten zunehmend auch als Ambulanzdienstleistungen verkauften. Gemäss der «Handelszeitung» hat die Rega dennoch auf «die neue AAA reagiert und die Erfolgsrechnung verschönert. 2011 hat sie die Nutzungsdauer für die Helikopterflotte erstmals um 6 auf 14 Jahre erhöht und damit die Abschreibungen verkleinert. Fast allein dank dieser rund 9000 Franken Einsparungen hat sich das letzte Jahresergebnis um 12’000 Franken verbessert.» Gleichzeitig suche die Rega nach zusätzlichen Aufträgen zur Auslastung ihrer drei Langstreckenflugzeuge. Deshalb transportiere sie nun verletzte US-Soldaten aus dem Irak und Afghanistan nach Deutschland. Angekündigt wurde der Bericht auf der Titelseite mit der Schlagzeile «Rega. Im Solde fremder Armeen».

B. Am 5. Mai 2012 protestierte Sascha Hardegger, Leiter Kommunikation und Gönner bei der Rega, beim Chefredaktor der «Handelszeitung», Beat Balzli, gegen den reisserisch aufgemachten Titel, die mangelhafte Recherchearbeit und die Fehlinterpretation von Fakten. Falsch sei insbesondere die Hauptthese des Berichts, wonach die Rega unter Druck neuer Konkurrenz und sinkender Preise neue Missionen suche. Ebenso falsch sei es, «die verlängerte Nutzungsdauer unserer Helikopterflotte in diesen Kontext zu stellen und davon zu sprechen, dass die Rega ‹die Erfolgsrechnung verschönert›». Die Verlängerung der Nutzungsdauer sei vielmehr die Folge neuer Rechnungslegungsnormen, denen die Rega als soziale Non-Profit-Organisation nachkomme. «Die Rega hat festgestellt, dass sie die Helikopter länger fliegt als angenommen und deshalb die Abschreibungsfrist angepasst.» Dass der Autor von rund 9’000 Franken und einer Verbesserung des Jahresergebnisses von 12’000 Franken schreibe, zeuge von mangelnder Sorgfalt. Tatsächlich handle es sich um 9 respektive 12 Millionen Franken.

C. Am 10. Mai 2012 veröffentlichte die «Handelszeitung» ein «Korrigendum». Darin hält die Redaktion fest, die Verlängerung der Nutzungsdauer stehe weder mit einer gezielten Optimierung der Ertragsrechnung noch mit dem neuen Marktauftritt von AAA in Zusammenhang. «Sie führt zu einer Ersparnis von 9 Millionen Franken und nicht wie berichtet 9’000 Franken. Das Jahresergebnis verbesserte sich 2011 um 12 Millionen Franken und nicht um 12’000 Franken.»

D. Am 26. Juni 2012 beschwerte sich die Schweizerische Rettungsflugwacht beim Schweizer Presserat über den obengenannten Bericht der «Handelszeitung». Letztere habe die Beschwerdeführerin im Vorfeld der Veröffentlichung des Berichts vom 3. Mai 2012 zu keinem Zeitpunkt über die Absicht informiert, ihr die Verschönerung der Erfolgsrechnung vorzuwerfen. Dieser Vorwurf wiege schwer. Denn damit werde der Rega ein illegales beziehungsweise zumindest ein unredliches Verhalten vorgeworfen. Mit dieser Unterlassung habe die Handelszeitung die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

E. Am 20. August 2012 beantragte die anwaltlich vertretene Redaktion der «Handelszeitung», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, da die Redaktion bereits ein Korrigendum veröffentlich habe. Zudem handle es sich um eine Angelegenheit von geringer Relevanz.

Falls der Presserat trotzdem auf die Beschwerde eintrete, sei sie abzuweisen. Die «Handelszeitung» habe sich bei der beanstandeten Passage auf den Jahresbericht der Rega gestützt und detailliert dargestellt, weshalb die Rega im Betriebsjahr 2011 ihr Betriebsergebnis verbessern konnte. «Dem Leser war es bei der Lektüre des besagten Textes also jederzeit klar, wieso der Autor in Form einer kommentierenden Wertung (…) den Schluss zieht, die Erfolgsrechnung sei ‹verschönert› worden: nicht aufgrund eines rechtswidrigen oder unredlichen Verhaltens, sondern aufgrund einer buchhalterischen Anpassung.» Die Aussage, die Rega habe ihre Erfolgsrechnung verschönert, sei deshalb kein schwerer Vorwurf im Sinne der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung».

F. Am 22. August 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 14. Dezember 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 10 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn sich die betroffene Redaktion bei einer Angelegenheit von geringer Relevanz bereits öffentlich entschuldigt und/oder Korrekturmassnahmen ergriffen hat.

Zwar hat die «Handelszeitung» eine Berichtigung veröffentlicht. Hingegen ist zwischen den Parteien nach wie vor strittig, ob die Redaktion verpflichtet gewesen wäre, die Beschwerdeführerin vor der Veröffentlichung des umstrittenen Satzes im Sinne der Richtlinie 3.8 zu kontaktieren, wonach die Rega ihre Erfolgsrechnung «verschönert» habe. Der Presserat tritt deshalb auf die Beschwerde ein.

2. a) Die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» auferlegt Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe zu befragen und deren Stellungnahme im gleichen Medienbericht fair wiederzugeben. Gemäss der Praxis des Presserats gelten Vorwürfe als schwer, wenn sie den Betroffenen ein illegales oder damit vergleichbares unredliches Verhalten unterstellen (vgl. dazu zuletzt die Stellungnahme 25/2012).

b) Vorliegend ist wie ausgeführt umstritten, ob der Satz im Bericht vom 3. Mai 2012, die Rega habe im Betriebsjahr 2011 «die Erfolgsrechnung verschönert» als schwerer Vorwurf gemäss der dargelegten Spruchpraxis zu werten ist. Nach Auffassung des Presserats ist dies zu verneinen. Zunächst erscheint fraglich, ob die Aussage von der Leserschaft überhaupt als Faktenbehauptung wahrgenommen wird oder ob sie im Kontext des Artikels nicht im Gegenteil als kommentierende Wertung des Autors erkennbar ist. Zumal der Autor die Fakten anführt, auf der seine Einschätzung beruht. Kommentierende Wertungen entziehen sich der Pflicht zur Anhörung (Stellungnahme 27/2010).

Und selbst wenn der Presserat die beanstandete Äusserung als sogenannt gemischtes Werturteil (Tatsachenbehauptung mit wertenden Elementen) qualifizieren würde, wäre die Relevanzschwelle nicht erreicht, um eine Verletzung der «Erklärung» festzustellen (vgl. hierzu die Stellungnahme 53/2009 mit weiteren Hinweisen). Denn eine Verschönerung der Rechnungslegung ist als solche nicht unzulässig, sondern klar von einer illegalen Buchhaltungsmanipulation zu unterscheiden. Entsprechend ist die Beschwerde abzuweisen, auch wenn der Beschwerdeführerin zuzugestehen ist, dass es im Sinne einer sorgfältigen Überprüfung von Informationen besser gewesen wäre, wenn der Autor die Rega vor der Veröffentlichung der
Artikels mit dem Thema Rechnungslegung konfrontiert hätte.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen die «Handelszeitung» wird abgewiesen.

2. Die «Handelszeitung» hat mit dem Artikel «Retter in Bedrängnis» vom 3. Mai 2012 die Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.