Nr. 7/2007
Anhörung bei schweren Vorwürfen / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(Eternit Schweiz AG c. «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens) Stellungnahme des Presserates vom 23. März 2007

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I. Sachverhalt

A. In der Hauptausgabe der «Tagesschau» strahlte das Schweizer Fernsehen am 3. Juni 2006 einen kurzen Beitrag über einen «Asbest-Gipfel» in Payerne aus. Der Moderator leitete den Bericht wie folgt ein: «Die Asbestproblematik ist seit längerem bekannt, auch einer breiten Öffentlichkeit, doch das nützt den Asbestopfern wenig, denn die Krankheit ist nicht einfach zu diagnostizieren und so müssen sich die Menschen, die mit krebserregenden Asbestfasern in Berührung kommen und dann später erkranken, selber wehren. In verschiedenen Ländern haben sich die Asbestopfer zusammengeschlossen. Wie man fehlbare Firmen zur Verantwortung ziehen will, darüber hat eine Gruppe von direkt Betroffenen in Payerne in der Schweiz beraten.» Westschweiz-Korrespondent Bruno Bosshart berichtete: «Zum heutigen Asbest-Gipfel in Payerne kamen rund 50 Opfer aus Frankreich, Belgien und der Schweiz. Sie schilderten ihren lebensgefährlichen Alltag in den verschiedenen Eternit-Betrieben (…) Trotz neuerer Schutzmassnahmen in den Asbestbetrieben, sitzt den Arbeitnehmern noch heute die Angst vor gravierenderen Folgen im Nacken. Denn Asbestose tritt oft erst viel später an den Tag. (…) Das Treffen in Payerne als Anstoss zu europaweiter Solidarität unter den Asbest-Opfern. (…) Das angeprangerte Asbest-Unternehmen Eternit blieb dem heutigen Treffen fern. In einem offenen Brief weist Eternit alle erhobenen Vorwürfe zurück. Tenor: Es fehle an konkreten Zahlen und Beweisen, es handle sich um schiere Panikmache. Fest steht, dass dieses Asbest-Treffen hier in Payerne das Problem nun auch im Welschland zum Politikum macht.»

B. Am 11. September 2006 gelangte die anwaltlich vertretene Eternit (Schweiz) AG mit einer Beschwerde gegen den «Tagesschau»-Beitrag vom 3. Juni 2006 an den Presserat. Die «Tagesschau» habe darin den unzutreffenden Eindruck vermittelt, die Eternit Schweiz habe in fehlbarer Weise zahlreiche Asbest-Opfer verschuldet und gefährde noch heute die Mitarbeiter, die sich deshalb wehrten. Damit sei insinuiert worden, auch aus den Werken Niederurnen und Payerne der Eternit Schweiz seien zahlreiche Opfer anwesend gewesen, in Tat und Wahrheit seien aber bloss vier Teilnehmer aus Payerne und keiner aus Niederurnen dabei gewesen. Und trotz der gegenüber ihr erhobenen Vorwürfe sei die Eternit Schweiz vor der Ausstrahlung nicht einmal kontaktiert worden. Der Beitrag habe die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Kommentarfreiheit), 3 (Kennzeichnung von unbestätigten Meldungen, irreführende Verwendung von Bildern, Anhörung bei schweren Vorwürfen) sowie 7 (sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

C. Am 12. Oktober 2006 wies Redaktionsleiter Heiner Hug die Beschwerde namens der «Tagesschau» als unbegründet zurück. Westschweiz-Korrespondent Bruno Bosshart habe zweimal versucht, bei Eternit Payerne eine Stellungnahme zu erhalten. Beide Male sei ihm mitgeteilt worden, es sei niemand da, der dazu befähigt wäre. Auch ein anwesender Kollege der Télévision suisse romande sei abgeblitzt. Bosshart habe es unter diesen Umständen aufgegeben, sich um eine Stellungnahme vor der Kamera zu bemühen. Stattdessen habe er die Haltung von Eternit in seinem Aufsager referiert. Es treffe zu, dass bloss vier Eternit-Arbeiter aus Payerne an der Tagung anwesend gewesen seien. Sie seien aus Angst vor möglichen Konsequenzen nicht zu einer Aussage vor der Kamera bereit gewesen. Daraus die Behauptung zu konstruieren, es seien gar keine Asbestopfer aus der Schweiz anwesend gewesen, sei jedoch absurd. Bei den aus Frankreich angereisten Asbestopfern sei ihre Herkunft für jedermann verständlich mit einem F deklariert worden. Im Rahmen des kurzen «Tagesschau»-Beitrags sei es schliesslich nicht möglich gewesen, zwischen Eternit Frankreich und Eternit Schweiz zu differenzieren. In einem «Tagesschau»-Beitrag von 1 Minute 40 Sekunden Länge könnten nicht sämtliche Facetten eines Problems ausgebreitet werden. Beim Thema Asbest könnte zudem generell ein grosses Vorwissen des Publikums vorausgesetzt werden.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 19. Oktober 2006 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever sowie Esther Diener-Morscher.

F. Am 7. Februar 2007 machte die Eternit AG geltend, die Behauptung in der Stellungnahme der «Tagesschau»-Redaktion vom 12. Oktober 2006 erstaune, wonach Bruno Bosshart sogar zweimal erfolglos versucht habe, eine Stellungnahme zu erhalten. Die zuständigen Personen einschliesslich des Mediensprechers seien am massgebenden Tag jederzeit erreichbar gewesen.

G. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Presseratspräsidenten Peter Studer und den beiden Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 23. März 2007 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit die Beschwerdeführerin ausdrücklich oder sinngemäss die Einseitigkeit des «Tagesschau»-Berichts beanstandet, ist daran zu erinnern, dass der Presserat in ständiger Praxis eine Pflicht zu ausgewogener, «objektiver» Berichterstattung verneint. Die Berufsethik lässt auch eine einseitige, parteiergreifende Berichterstattung zu.

2. a) Allerdings sind Betroffene gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören, und deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Vorliegend ist zwischen den Parteien strittig, ob Westschweiz-Korrespondent Bruno Bosshart am 3. Juni 2006 tatsächlich versucht hat, eine Stellungnahme der Beschwerdeführerin einzuholen. Da der Presserat keine Beweisverfahren zu umstrittenen Tatsachenbehauptungen führt, muss dieser Punkt hier offen bleiben. Denn eine entsprechende Unterlassung der Beschwerdegegnerin ist einzig aufgrund der dem Presserat vorliegenden Unterlagen nicht nachgewiesen. Unstrittig ist zudem, dass die «Tagesschau» zumindest ersatzweise aus einem offenen Brief von Eternit Schweiz zitierte, wenn auch nach Auffassung der Beschwerdeführerin in verzerrender Art und Weise.

b) Der unbefangene Zuschauer der «Tagesschau», der allgemeine Kenntnisse über die Asbestproblematik hat, jedoch nicht über die näheren Umstände bei den verschiedenen Eternit-Betrieben informiert ist und insbesondere deren rechtliche Struktur kaum kennen dürfte, wird dem beanstandeten Bericht Folgendes entnehmen: Asbestopfer aus Frankreich, Belgien und der Schweiz sind in Payerne zu einem «Asbest-Gipfel» zusammengekommen. Sie haben dort darüber beraten, wie sie ihre Rechte durchsetzen können. Sie wollen rechtlichen und politischen Druck auf Versicherungen, Regierungen und insbesondere auch auf das «Asbest Unternehmen Eternit» machen. Letzteres nahm nicht an der Veranstaltung teil, weist aber in einem offenen Brief die gegenüber ihm erhobenen Vorwürfe zurück.

c) Der Bericht wirft den Eternit-Herstellern im Allgemeinen und damit auch der Beschwerdeführerin vor, die Arbeit in den entsprechenden Betrieben und die damit verbundene Konfrontation mit Asbest sei ursächlich für die schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dieser Vorwurf ist keineswegs neu, sondern kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Entsprechend scheint es fraglich, ob bei Wiederholung dieses Vorwurfs gestützt auf das Anhörungsprinzip jedes Mal wieder eine Stellungnahme des oder der betroffenen Unternehmungen eingeholt werden muss. Zumal der Bericht auch ein genere
lles Dementi der Beschwerdeführerin enthält und über den allgemein bekannten Vorwurf hinaus höchstens noch den zusätzlichen Vorwurf erhebt, die Asbest-Opfer seien im Kampf um ihre Rechte allein gestellt.

d) Hinzu kommt, dass die «Tagesschau» gemäss ihren Angaben zumindest versucht hat, eine Stellungnahme der Beschwerdeführerin einzuholen. Und dass sie sich zumindest darum bemüht hat, auch der Gegenposition der Eternit Schweiz AG eine Stimme einzuräumen, lässt sich dem Zitat aus dem offenen Brief entnehmen. Aus Sicht der Zuschauerinnen und Zuschauer wäre es dabei zwar wünschbar gewesen, einerseits im Bericht darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin am 3. Juni für eine Stellungnahme nicht erreichbar und dass das Zitat aus dem offenen Brief nicht ganz tagesaktuell, sondern 10 Tage alt war. Nach Auffassung des Presserates genügen diese Unschärfen jedoch nicht, um eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» zu begründen. Denn immerhin konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer dem allgemeinen Dementi «Eternit weist alle erhobenen Vorwürfe zurück» entnehmen, dass die Beschwerdeführerin für sich ein in jeglicher Hinsicht rechtmässiges und korrektes Verhalten in Anspruch nimmt.

3. Über den Vorwurf der nicht erfolgten Anhörung bei schweren Vorwürfen hinaus enthält der Bericht nach Auffassung der Beschwerdeführerin eine ganze Reihe von «unzulässigen Behauptungen und Unterstellungen».

a) So insinuiere der Bericht fälschlicherweise, an der Tagung hätten Mitarbeiter von Eternit Schweiz über ihren lebensgefährlichen Arbeitsalltag berichtet. Dabei hätten lediglich vier Mitarbeiter des Werks Payerne und keiner des Werks Niederurnen daran teilgenommen. Zudem unterscheide der Bericht fälschlicherweise nicht zwischen der Situation in Frankreich und der Schweiz.

Der Presserat hält diesen Vorwurf für unbegründet. Aus dem Bericht ging für die Zuschauerinnen und Zuschauerinnen hervor, dass es sich um eine internationale Tagung mit Teilnehmern aus Belgien, Frankreich und der Schweiz handelte. Zudem erweckte die Auswahl der von der «Tagesschau» interviewten Personen und ihre Kennzeichnung im Bericht gerade nicht den Eindruck, es gehe primär um die Arbeitssituation in der Schweiz. Beim Schweizer Publikum dürfen zudem allgemeine Kenntnisse über das Asbestverbot vorausgesetzt werden. Es erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass der Beitrag missverständlich den Eindruck erweckte, darin würden die aktuellen Arbeitsbedingungen in (schweizerischen) Eternitbetrieben angeprangert. Weiter trifft es zwar zu, dass der kurze «Tagesschau»-Beitrag nicht klar zwischen den verschiedenen – gemäss Darstellung der Beschwerdeführerin – voneinander unabhängigen Eternit-Gesellschaften unterscheidet. Im Zentrum des Beitrags stand die Information, dass in Payerne eine Tagung von Asbestopfern aus verschiedenen Ländern stattfand und welche allgemeinen Forderungen die Teilnehmer erhoben. Hingegen thematisierte der Beitrag weder das Ausmass der Gesundheitsschädigungen noch erhob er weitere Vorwürfe. Angesichts der allgemein formulierten Vorwürfe genügte es bei einem Medienbericht mit einem Bezug zur Schweiz und zu den schweizerischen Eternit-Betrieben den allgemeinen Vorwürfen ein allgemeines Dementi der Beschwerdeführerin gegenüberzustellen.

c) Weiter beanstandet die Beschwerdeführerin, der Bericht erwecke bei unbefangenen Zuschauern den falschen und rufschädigenden Eindruck, Eternit Schweiz sei noch heute ein «Asbestunternehmen». In der Anmoderation (und ebenso im Internet) sei zudem fälschlicherweise von «fehlbaren Firmen» die Rede.

Auch diese Rügen sind abzuweisen. Bei den Zuschauerinnen und Zuschauern in der Schweiz darf wie ausgeführt vorausgesetzt werden, dass in der Schweiz seit einiger Zeit ein Asbestverbot gilt. Zudem erwähnt der Bericht ausdrücklich die neueren Schutzmassnahmen und weist darauf hin, dass es sich um eine Langzeitproblematik handelt. Das Wort «fehlbar» war im Kontext des Berichts nicht zwingend in einem juristischen Sinne als schuldhaftes und rechtswidriges Verhalten zu verstehen, sondern im Tenor der Forderungen des «Asbest-Gipfels» mehr im Sinne einer allgemeinen Verantwortlichkeit nach dem Verursacherprinzip.

d) Die Beschwerdeführerin kritisiert als «unseriös», dass im Beitrag als Tatsache davon ausgegangen werde, zahlreiche Asbest-Opfer von Payerne seien auf Hilfe angewiesen und erst noch solche, die für die Eternit Schweiz gearbeitet hätten. Dies sei die Sichtweise der CAOVA (Vereinigung der Asbestopfer), die aber von den meisten Beteiligten, insbesondere auch von der Belegschaft des Werks Payerne, nicht geteilt werde.

Aus dem «Tagesschau»-Beitrag vom 3. Juni 2006 geht für die Zuschauerinnen und Zuschauer hervor, dass an der Tagung in Payerne und damit auch im Beitrag selber in erster Linie die Sichtweise der «Asbest-Opfer» und deren Forderungen wiedergeben werden. Es war nicht Aufgabe der «Tagesschau» – und auch nicht des Presserates – zu überprüfen, ob die nicht im Detail wiedergegebenen Behauptungen und Forderungen der Vereinigung materiell gerechtfertigt sind oder nicht. Vielmehr genügte es, einerseits über die generelle Stossrichtung dieser Forderungen zu berichten und diesen anderseits das generelle Dementi der Beschwerdeführerin entgegenzustellen.

e) Die Beschwerdeführerin behauptet weiter, die «Tagesschau» habe fälschlicherweise berichtet, die Eternit Schweiz hätte sich geweigert, an der Veranstaltung zu erscheinen. Man kann die Formulierung «blieb der Veranstaltung fern» auf zweierlei Weise verstehen: Sie verweigerte eine Teilnahme, oder sie war nicht eingeladen. Letzteres traf zu; das hätte die «Tagesschau» präzis sagen sollen. Allein aus der Zweideutigkeit der Formulierung lässt sich jedoch noch kein berufsethisch relevanter Vorwurf ableiten. Die Zuschauerinnen und Zuschauern wurden zumindest darüber informiert, dass Eternit an der Tagung – aus welchem Grund auch immer – nicht vertreten war. Zumal gerade diese Information dem Publikum einen wichtigen Hinweis zur Einordnung der aus einseitiger Quelle stammenden Informationen der Tagung gab.

f) Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin, der Beitrag differenziere in ungenügender Weise zwischen Asbestose, einer mit der Silikose (Staublunge) vergleichbaren Krankheit, und dem Mesotheliom, einer heute noch unheilbaren Krebskrankheit, die meistens durch Asbest verursacht werde. Da die Latenzzeit bei Asbestose verglichen mit dem Mesotheliom relativ kurz sei, bestehe heute für die Mitarbeiter der Eternit Schweiz kein Grund mehr zur Angst vor Neuerkrankungen. Demgegenüber könnten Neuerkrankungen an Mesotheliomen wegen der sehr langen Latenzzeit von bis zu 40 und mehr Jahren leider noch nicht ausgeschlossen werden. Der «Tagesschau»-Beitrag suggeriere dabei in irreführender Weise, die Asbestose sei eine Krebskrankheit.

Mit ihren vom Presserat nicht zu überprüfenden fachlichen Ausführungen überspannt die Beschwerdeführerin die Anforderungen an die Differenziertheit eines Nachrichtenbeitrags von gut eineinhalb Minuten Länge. Denn für das «Tagesschau-Publikum» stand nicht die unterschiedliche Latenzzeit zweier verschiedener gesundheitsschädlichen Folgen der (Langzeit)Exposition mit Asbest(fasern), sondern die Information im Vordergrund, dass die gesundheitlichen Folgen von Asbest und deren Bewältigung auch Jahre nach Erlass des Asbestverbots in der Schweiz von einer Vereinigung von Asbestopfern an einer Tagung zum Thema gemacht werden. Darüber durfte die «Tagesschau» in einem kurzen Beitrag berichten, ohne dabei auf sämtliche Facetten und Differenzierungen des Themas «Asbest» einzugehen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Das Schweizer Fernsehen hat mit dem Beitrag der «Tagesschau» vom 3. Juni 2006 über den «Asbest-Gipfel» von Payerne die Ziffern 1, 3, 5 und 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.