I. Sachverhalt
A. Am 22. Dezember 2011 veröffentlichte der «Beobachter» einen Artikel von Andrea Haefely zum Thema Datenschutz. Die Autorin fragt dazu unter dem Titel «Rote Karte für schwarze Liste»: «Darf man unter dem Label ‹Schwarze Liste› eine Aufstellung von Menschen samt deren Privatadressen, Mobiltelefonnummern und Fotos ins Internet stellen – ohne deren Einverständnis?» Mit Urteil vom 18. August 2011 habe das Bezirksgericht Laufenburg dies verneint und dem Betreiber einer Website untersagt, weiterhin Richter, Gemeinderäte, Beistände und Sozialbehördevertreter, die sich angeblich um das Kindeswohl foutierten, auf einer «schwarzen Liste» anzuprangern. Weiter führt der «Beobachter» aus: «Jetzt taucht die verbotene Liste auf Papanews.ch auf, einer – ‹befreundeten› Website. Deren Betreiber, ein gewisser X. scheint sich nicht nur um richterliche Anordnungen zu foutieren, sondern auch ein sehr liberales Verhältnis zur Wahrheit zu pflegen.»
B. Am 24. Dezember 2011 forderte X., Betreiber von Papanews.ch, den «Beobachter» per E-Mail auf, zwei im Artikel «Rote Karte für schwarze Liste» enthaltene Fehler zu berichtigen. Weder habe je eine verbotene Liste auf seiner Homepage existiert noch habe er je eine richterliche Anordnung ignoriert.
C. Gleichentags beschwerte sich X. beim Presserat und rügte, der beanstandete «Beobachter»-Artikel verletze die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung). Im Urteil des Bezirksgerichts Laufen vom 18. August 2011 stehe nichts von einer «schwarzen Liste». Das Gericht habe lediglich angeordnet, einen von über 70 Einträgen zu entfernen. Laut «Aargauer Zeitung» begründe das Gericht dies damit, die von Michael Handel betriebene Website kinderohnerechte.ch erwecke bei Aussenstehenden den Eindruck, die Namen auf der schwarzen Liste stünden direkt oder indirekt in Zusammenhang mit Kindsmisshandlung. Gerade diesen Eindruck unterlasse der Beschwerdeführer auf Papanews.ch. X. sei zudem nicht Partei des Verfahrens vor dem Bezirksgericht Laufenburg und habe demzufolge keine richterlichen Anweisungen zu befolgen, welche sich ausschliesslich auf die Domainnamen von Michael Handel bezögen. Da der «Beobachter» mithin gleich mehrere Falschmeldungen veröffentlicht habe, wäre er verpflichtet gewesen, diese zu berichtigen.
D. Am 27. Dezember 2011 veröffentlichte der «Beobachter» auf seiner Website beobachter.ch eine aktualisierte Fassung des Artikels «Rote Karte für schwarze Liste». Die Zeitschrift präzisiert darin: «Ursprünglich war der Eintrag unter www.kinderohnerechte.ch des Thurgauers Michael Handel aufgeschaltet gewesen. Doch einer der betroffenen Richter, Guido Marbet, hatte gegen den diffamierenden Eintrag geklagt. Mit Urteil vom 18. August 2011 entschied das zuständige Bezirksgericht Laufenburg unter anderem, dass Handel den Eintrag zu Richter Marbet umgehend aus der Liste entfernen müsse. Allein der Eintrag in einer schwarzen Liste sei bereits geeignet, die Ehre beziehungsweise die soziale Geltung des Klägers herabzusetzen. Das Interesse der Öffentlichkeit rechtfertige in keiner Weise die vorliegende schwere Persönlichkeitsverletzung. Jetzt taucht die Liste auf Papanews.ch auf, einer ‹befreundeten› Website – samt dem Eintrag zu Richter Guido Marbet. Deren Betreiber, ein gewisser X. scheint sich nicht nur um richterliche Anordnungen zu foutieren, sondern auch ein sehr liberales Verhältnis zur Wahrheit zu pflegen.»
E. Am 30. Januar 2012 wies die anwaltlich vertretene Redaktion «Beobachter» die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Redaktion habe eine in der ersten Fassung des beanstandeten Artikels enthaltene Ungenauigkeit online umgehend korrigiert. Zudem werde in der Ausgabe 3/2012 ein «Korrigendum» veröffentlicht. Entsprechend sei der Vorwurf der Verletzung der Berichtigungspflicht offensichtlich unbegründet.
Die Vermutungen der «Beobachter»-Autorin, der Beschwerdeführer foutiere sich um das gegen Michael Handel ergangene Urteil und pflege ein liberales Verhältnis zur Wahrheit, beruhten auf unbestreitbaren Tatsachen. Das öffentliche Interesse an der Publikation dieser Information sei derart gross, «dass der Beschwerdeführer eigentlich zu keinem Zeitpunkt hätte angehört werden müssen». Trotzdem habe Andrea Haefely mehrfach versucht, X. telefonisch zu erreichen, habe von diesem aber bezeichnenderweise keinen Rückruf erhalten. Der vom «Beobachter» schliesslich veröffentlichte Wortlaut sei sehr vorsichtig formuliert und enthielte nur indirekte Vorwürfe, die nicht als schwer im Sinne der Richtlinie 3.8 zu bewerten seien.
F. In seiner Ausgabe 3/2012 vom 3. Februar 2012 veröffentlichte der «Beobachter» folgendes «Korrigendum»: Das Bezirksgericht Laufen hat Michael Handel nicht wie im Artikel behauptet angewiesen, die gesamte schwarze Liste vom Netz zu nehmen, sondern nur den Eintrag zum Aargauer Oberrichter Guido Marbet. Dies deshalb, weil nur Guido Marbet geklagt hatte, für die Entfernung der gesamten Liste hingegen jeder Einzelne der mehreren Dutzend Betroffenen hätte klagen müssen. Das Gericht hält im Urteil aber grundsätzlich fest, dass das Interesse der Öffentlichkeit in keiner Weise die vorliegende schwere Persönlichkeitsverletzung rechtfertige.»
G. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören.
H. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 31. Mai 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Beschwerdeführer hat am 24. Dezember 2011 gleichzeitig vom «Beobachter» eine Berichtigung gefordert und in einer Beschwerde an den Presserat eine Verletzung der Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung») gerügt. Nachdem der «Beobachter» den beanstandeten Bericht innert nützlicher Frist sowohl online als auch in seiner Printausgabe berichtigt hat, ist eine Verletzung der Berichtigungspflicht offensichtlich zu verneinen.
2. Kontrovers diskutiert hat der Presserat hingegen die Frage einer allfälligen Verletzung der Anhörungspflicht (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»). Danach sind von schweren Vorwürfen Betroffene vor der Publikation anzuhören und ist ihre Stellungnahme im gleichen Medienbericht fair wiederzugeben.
Zwar macht der «Beobachter» geltend, den Beschwerdeführer vor der Veröffentlichung des Artikels (erfolglos) kontaktiert zu haben. Gemäss der Praxis des Presserats zur Anhörungspflicht, sind Medienschaffende jedoch verpflichtet, dies im Medienbericht zu vermerken, wenn der von schweren Vorwürfen Betroffene für eine Stellungnahme nicht erreichbar war oder darauf verzichtet hat (Stellungnahmen 50/2008, 10/2011).
Sind die vom «Beobachter» erhobenen Vorwürfe aber überhaupt derart schwer, dass eine Anhörung zwingend war? Nach Auffassung des Presserats ist dies knapp zu verneinen. Zwar hat der Presserat in der Stellungnahme 55/2010 den gegenüber dem Betreiber der Website kinderohnerechte.ch erhobenen Vorwurf, auf seinen verschiedenen Internetseiten persönlichkeitsverletzende, diffamierende Vorwürfe zu verbreiten, als schwer bewertet. Vorliegend wirft der «Beobachter» dem Beschwerdeführer aber höchstens mittelbar Vergleichbares vor. Für die Leserschaft ist klar ersichtlich, dass sich die «Rote Karte» und das zitierte Urteil des Bezirksgerichts Laufenburg auf Michael Handel und nicht auf den Beschwerdeführer bezieht. Konkret enthält der «Beobachter
»-Artikel damit bloss zwei – zurückhaltend formulierte – Vorwürfe, die sich unmittelbar an X. richten: Er scheine sich um eine richterliche Anordnung zu foutieren und pflege offenbar ein liberales Verhältnis zur Wahrheit. Beide Kritikpunkte unterstellen dem Beschwerdeführer weder ein illegales noch ein damit vergleichbares Verhalten, bei dem eine Anhörung zwingend wäre. Wie der Beschwerdeführer selber betont, richtet sich das vom «Beobachter» erwähnte Urteil des Bezirksgerichts Laufenburg nicht gegen ihn, sondern gegen Michael Handel. X. ist mit anderen Worten formal nicht an dieses Urteil gebunden und kann sich darum «foutieren», ohne damit eine richterliche Anordnung zu verletzen. Und wenn der «Beobachter» dem Beschwerdeführer ein «liberales Verhältnis zur Wahrheit» unterstellt, bezichtigt er ihn damit nicht unmittelbar der Lüge.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Der «Beobachter» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Rote Karte für schwarze Liste» vom 22. Dezember 2011 die Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.