Nr. 98/2020
Wahrheit / Nicht gerechtfertigte Anschuldigungen / Diskriminierung

(ACT212 c. «Die Wochenzeitung WOZ»)

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I. Sachverhalt

A. Am 21. Mai 2020 erschien in «Die Wochenzeitung» (WOZ) ein Artikel von Sarah Schmalz unter dem Titel «Auf ‹Loverboy›-Mission» mit dem Untertitel: «Eine Organisation mit freikirchlichem Hintergrund schreibt sich den Kampf gegen Menschenhandel auf die Fahne. Sie tut dies mit viel Eifer und einer undurchsichtigen Mission.»

Der Artikel fragt nach dem Hintergrund, den Beweggründen und Zielen der Betreiber dieser Organisation, welche sich dem Kampf gegen den Menschenhandel verschrieben hat. ACT212 habe 2012 die Schweizer Meldestelle für Menschenhandel lanciert und seither betrieben. Ein Grossteil des Vorstands stamme aus evangelikalen Kreisen. Der Präsident sei Generalsekretär des Westschweizer Ablegers der Schweizerischen Evangelischen Allianz (was später korrigiert wurde in «Mediensprecher der weltweiten Evangelischen Allianz») und betreibe ein christlich geprägtes Kommunikationsbüro. Sein Vize stehe einer christlichen Polizeivereinigung vor. Finanziert werde die Organisation von gemeinnützigen Institutionen, darunter auch evangelikalen sowie landeskirchlichen Vereinigungen. Es sei aber auch Geld des Bundes involviert. Die Organisation betone konfessionelle Neutralität.

Es gebe aber Indizien, dass dies nicht stimme: ACT212 betreibe eine tendenziöse Aufklärungsarbeit und kooperiere mit einem christlich-missionarischen Wohnheim.

Die «tendenziöse Aufklärungsarbeit» wird damit erklärt, dass ACT212 das Thema «Loverboys» stark in den Vordergrund rücke, das Phänomen, wonach meist junge muslimische Männer Schweizer Frauen über Liebesbeziehungen in die Prostitution trieben. Dieses Thema transportiere nicht nur Fremdenfeindlichkeit, sondern es sei auch erstmals von einem holländischen evangelikalen TV-Sender aufgebracht worden. Die Fachstelle für Frauenhandel und -migration (FIZ) kritisiere die vereinfachende Sichtweise von «Loverboys» mit dem Hinweis, die Realität der Betroffenen sei komplexer. Auch kritisiere die FIZ, dass ACT212 schablonenhafte Indizien für eine Loverboy-Abhängigkeit aufführe: «Sexy Kleidung, viel chatten, sich von Eltern distanzieren». Auch hier, so der Artikel, scheine die christliche Moralvorstellung durchzudrücken. Die Spezialisten der Kantonspolizei Zürich distanzierten sich vom Begriff des «Loverboy» als eigenständiger Deliktsform, die Anwerbung zur Prostitution über Liebesbeziehungen betreffe stark auch Frauen aus dem Ausland.

Was die praktische Arbeit der Meldestelle für Menschenhandel angeht, weist der Artikel darauf hin, dass ACT212 kaum je Frauen an die FIZ oder die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb weiterleite. Vielmehr drücke man den Betroffenen nur ein Flugblatt mit Adressen in die Hand, worauf sich diese selber entscheiden müssten, an wen sie sich wendeten. ACT212 habe aber in dreissig Fällen mit einem Wohnheim in Glarus zusammengearbeitet, welches mit einer US-amerikanischen evangelikalen Bewegung in Verbindung stehe. Mit diesem Heim wiederum arbeiteten – so der Artikel – die angefragten zuständigen Behörden in Bern, Basel oder Zürich nicht zusammen. Der Schluss liege nahe, so die WOZ zum Schluss, dass ACT212 nicht nur als Meldestelle eine Rolle spielen wolle, sondern auch bei der Betreuung der Betroffenen und dabei die betroffenen Frauen im evangelikalen Dunstkreis behalten wolle. Denn im evangelikalen Weltbild sei der Sündegedanke zentral, und Sexarbeit sei äusserst sündenbehaftet.

B. Am 12. Juni 2020 reichte der Verein ACT212 (Beschwerdeführer, BF) Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, die WOZ verletze mit diesem Artikel die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die Ziffern 7 (Schutz vor nicht gerechtfertigten Anschuldigungen) und 8 (Achtung der Menschenwürde, Diskriminierungsverbot) der «Erklärung».

a. Zu den Ziffern 7 und 8 der «Erklärung»: Das Verbot ungerechtfertigter Anschuldigungen und das Diskriminierungsverbot seien verletzt mit den Bemerkungen, dass
– ACT212 eine christlich-moralisierende Grundhaltung an den Tag lege und einen freikirchlichen Hintergrund habe
– der Grossteil des Vorstandes Teil der evangelikalen Szene sei
– ACT212 eine tendenziöse Aufklärungsarbeit betreibe
– sich frage, ob ACT212 die Frauen in evangelikale Organisationen schleusen und im evangelikalen Dunstkreis behalten wolle.

Zur Begründung wird angeführt, dass ACT212 eine klare, in einem Leitbild verankerte Haltung habe: konfessionell neutral. Die Zuordnungen der Vorstandsmitglieder zu bestimmten religiösen Zugehörigkeiten verletzten das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und insbesondere das Diskriminierungsverbot der «Erklärung».

Im Übrigen sei die berufliche Bezeichnung des Präsidenten falsch. Und der Vorwurf sei haltlos, wonach die Vorstandsmitglieder die Tätigkeit des Vereins religiös prägten.

b. Zu Ziffer 1 der «Erklärung»: Die Behauptungen im Artikel seien unwahr und rufschädigend, wonach
– ACT212 eine «Organisation mit freikirchlichem Hintergrund» und «mit undurchsichtiger Mission» sei
– das Thema «Loverboy» von ACT212 gepusht werde
– die FIZ-Stelle behaupte, ACT212 drücke den Betroffenen lediglich einen Flyer in die Hand.

Das Thema «Loverboy» habe ACT212 aus dem einfachen Grund aufgegriffen, weil sich Klagen in dieser Hinsicht gehäuft hätten, worauf man entsprechend reagiert habe. Dass man den Betroffenen lediglich einen Flyer in die Hand drücke, sei unwahr, ACT212 unternehme sehr viel mehr, sowohl im Einzelfall als auch allgemein in der Aufklärungsarbeit.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 26. August 2020 beantragte die Anwältin der WOZ (Beschwerdegegnerin, BG), die Beschwerde sei abzuweisen.

a. Zum Vorwurf der falschen Anschuldigungen und diskriminierenden Anspielungen (Ziffer 7 und 8 der «Erklärung») erwidert die BG, die Autorin habe in den beanstandeten Passagen («Organisation mit freikirchlichem Hintergrund») Werturteile getroffen, die sie im umgebenden Text ausreichend abgesichert habe und zwar mit folgenden Beobachtungen: Mit dem starken Fokus von ACT212 auf dem Thema «Loverboy», insbesondere dessen Charakteristikum Schweizer Mädchen – muslimische Täter; mit der ursprünglichen Thematisierung dieses Phänomens von evangelikaler Seite; mit der Charakterisierung «sexy Kleidung, viel chatten, sich von Eltern distanzieren», welche christliche Wertvorstellungen beinhalte; mit der Zusammenarbeit mit der eindeutig freikirchlichen Institution «Team Challenge»; mit dem Eintreten der Geschäftsführerin für das schwedische Prostitutionsverbot; und vor allem mit der Zugehörigkeit eines Grossteils des Vorstandes (Belege dafür werden erwähnt) zur freikirchlichen Szene: Das seien alles Anzeichen, welche die Autorin im genannten Sinne interpretiere. Der BF habe Gelegenheit erhalten, dazu Stellung zu nehmen, habe dies in Teilen auch getan und sei damit auch zitiert worden («wir nehmen keine ideologische Position ein»). Dass ACT212 sich als konfessionell neutral deklariere, sei erwähnt worden, nur sei die WOZ nicht verpflichtet, diese Einschätzung zu übernehmen.

Des Weiteren führt die Redaktion an, es sei weder ein Eingriff in die Menschenwürde festzustellen noch eine Diskriminierung. Es liege im Übrigen im öffentlichen Interesse, die effektive Ausrichtung eines Vereins zu hinterfragen, insbesondere wenn dieser mit öffentlichen Mitteln unterstützt werde.

b. Zur gerügten Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») sagt die BG, davon könne ebenfalls keine Rede sein:

Zur beanstandeten Formulierung «Hirzels Organisation …» verweist die WOZ auf ein Interview, in welchem die Geschäftsführerin Hirzel selber Formulierungen dieser Art benutzt hat, welche sie als treibende Kraft erscheinen lassen («Die Ostmission unterstützt mich dabei grosszügig und wird mir ein wertvoller Partner bleiben»). Angesichts weiterer Angaben und der Tatsache, dass der Präsident von ACT212 Mediensprecher der weltweiten Evangelischen Allianz sei, dürfe mit Recht von «Hirzels Organisation» mit «freikirchlichem Hintergrund» gesprochen werden.

Dass ACT212 das Thema «Loverboy» pushe, sei erkennbar ein Werturteil der Autorin und als solches durch die Kommentarfreiheit gedeckt.

Für die Einschätzung einer «undurchsichtigen Mission», auf welcher sich ACT212 befinde, habe dasselbe zu gelten: eine Einschätzung der Autorin gestützt auf die im Artikel erwähnten Fakten und Quellen.

Was schliesslich die Stelle betrifft, an welcher die FIZ zitiert wird mit der Bemerkung, es reiche nicht, wenn man den Betroffenen einen Flyer (mit Adressen von möglichen Anlaufstellen, Anm. d. Presserates) in die Hand drücke, man müsse schon direkt einen Kontakt herstellen: Hier werde nichts Unrichtiges unterstellt. Die Geschäftsführerin habe im Mailverkehr vor Veröffentlichung des Artikels selber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass «die Frauen dann selber entscheiden ob sie sich irgendwo melden». Und ob man den Frauen «Adressen zur Hand gebe» oder «einen Flyer in die Hand drücke» laufe im Ergebnis auf dasselbe hinaus.

D. Am 21. August 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Zu Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot): Jemanden als «evangelikal» oder als «freikirchlich» zu bezeichnen ist per se nicht diskriminierend. Diskriminierend kann es nur sein, wenn die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verbunden wird mit «diskriminierenden Anspielungen», also mit pauschal negativen Verallgemeinerungen.

Im Artikel wird untersucht, ob der Verein in seiner Struktur nicht wie deklariert konfessionell und politisch neutral sei, sondern evangelikal ausgerichtet und was dies konkret für Auswirkungen haben könne. Ob eine Institution, welche sich um Opfer von Menschenhandel und Prostitution kümmert, streng und dogmatisch kirchlich geprägt ist, kann einen Einfluss darauf haben, wie sie mit den Betroffenen verfährt. Damit wird Evangelikalen nicht ihre Existenzberechtigung abgesprochen, auch nicht pauschal Negatives nachgesagt.

Das Recht auf freie Ausübung der verfassungsmässigen Glaubens- und Gewissensfreiheit wird mit der Fragestellung des Artikels nicht tangiert. Dieser fragt nur nach der Verbindung zu einer bestimmten religiösen Gruppierung im Hinblick auf allfällige Auswirkungen bei Tätigkeiten in einem sensiblen Bereich. Ziffer 8, insbesondere Richtlinie 8.2 sind nicht verletzt.

2. Die Frage, die sich im Zusammenhang mit den unter den Ziffern 7 und 8 kritisierten Textabschnitten weiter stellt, lautet: Hat die WOZ plausibel erscheinen lassen, dass der Verein ACT212 evangelikal beeinflusst ist oder in diesem Sinne geführt wird, was dieser bestreitet? Die Frage zu stellen ist an sich legitim und von öffentlichem Interesse angesichts des gesellschaftlich relevanten Themas Menschenhandel und der Tatsache, dass der Verein ACT212 von öffentlichen Spendensammlungen und von öffentlichen Mitteln lebt.

Zunächst erscheinen dem Presserat einige der Hinweise auf eine evangelikale Ausrichtung als wenig überzeugend. Wenn etwa gesagt wird, die von ACT genannten Symptome für eine «Loverboy»-Beziehung, nämlich «sexy Kleidung, viel chatten, sich von Eltern distanzieren» liessen die christliche Moralvorstellung durchdrücken: Diese Aufzählung stammt vom Bundesamt für Polizei, nicht von religiösen Eiferern. Auch dass ein Thema erstmals von einem holländischen evangelikalen Sender aufgegriffen wurde, macht es nicht zu einem notwendigerweise evangelikalen Anliegen oder Thema. Und das Verbot der Prostitution wird nicht nur von Evangelikalen befürwortet.

Dennoch erscheinen die Bewertungen im Artikel dem Presserat letztlich knapp genügend mit Fakten unterlegt. Insbesondere die Verankerung von Vorstandsmitgliedern im freikirchlichen Milieu, sowie der Umstand, dass ACT212 mit Unterstützung der «Ostmission» aufgebaut wurde, aber auch die im Jahresbericht des BF erwähnte Zusammenarbeit mit «Team Challenge»: Das sind alles Elemente, die zu Recht fragen lassen, nach welchen Kriterien und mit welchen Zielen gearbeitet wird. Der Artikel nimmt diesbezüglich nicht abschliessend Stellung, er stellt – wiewohl sehr skeptisch – eine naheliegende Problematik zur Diskussion. Auch die Ziffer 7 der «Erklärung» ist nicht verletzt, die geäusserten Vorbehalte sind nicht «ungerechtfertigt», nicht aus der Luft gegriffen.

3. Wenn der BF moniert, die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung», Richtlinie 1.1) werde verletzt, dann trifft dies zu, was die Beschreibung des Tätigkeitsfeldes des Präsidenten angeht. Dies hat die WOZ nach entsprechendem Hinweis sofort korrigiert, damit ist der Anforderung an die Wahrheitssuche und die Berichtigungspflicht gemäss der Praxis des Presserates Genüge getan.

Die übrigen unter diesem Titel kritisierten Passagen sind angesichts der aufgeführten Sachverhalte nicht zu beanstanden: «Hirzels Organisation», «Organisation mit freikirchlichem Hintergrund», «Organisation mit undurchsichtiger Mission», das Thema «Loverboy» werde «gepusht», das sind alles Einschätzungen, Schlussfolgerungen der Autorin, welche im Kontext der aufgeführten Informationen zulässig sind. Dort, wo die Schlussfolgerungen zu erheblichen Vorwürfen verdichtet werden, bleibt der Text erkennbar vorsichtiger: «Der Schluss liegt nahe, dass ACT212 (…) die betroffenen Frauen im evangelikalen Dunstkreis halten möchte» und «Ob den betroffenen Frauen hier zielgerecht geholfen wird, darf zumindest infrage gestellt werden». Mit diesen Formulierungen werden nicht Tatsachen falsch geschildert, sondern in kommentierendem Sinne Fragen im vorliegenden Zusammenhang aufgeworfen. Die Ziffer 1 der «Erklärung» und die Richtlinie 1.1 sind nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Die Wochenzeitung» hat mit dem Artikel «Auf ‹Loverboy›-Mission» vom 21. Mai 2020 die Ziffern 1 (Wahrheit), 7 (nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) und 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.