I. Sachverhalt
A. Zwischen dem 10. Juli 2020 und dem 12. Juli 2020 veröffentlichten «watson», «NZZ am Sonntag», «higgs.ch», «Pilatus Today», «Aargauer Zeitung», «St. Galler Tagblatt» jeweils Artikel über die Studie eines Teams des Instituts für Intensivmedizin des Universitätsspitals Zürich. Dies mit den Titeln «10 Prozent der bestätigten Fälle haben schweren Verlauf» bei «watson.ch», «10 Prozent aller Covid-19-Patienten schweben in Lebensgefahr» beim «St. Galler Tagblatt», der «Aargauer Zeitung» und «Pilatus Today», «‹Warum bin ich im Spital? Ich bin nicht krank!› – Die Geschichte eines Covid-19-Patienten, der nur knapp überlebt hat» bei der «NZZ am Sonntag», «Jeder zehnte Covid-19-Patient erkrankt lebensgefährlich» bei «higgs.ch». Dies basierend auf oder ausgelöst durch die Medienmitteilung «‹Kompass› für den Krankheitsverlauf bei schwer erkrankten COVID-19-Patienten» des Universitätsspitals Zürich (USZ) vom 10. Juli 2020.
B. Diesbezüglich gingen zwei Beschwerden ein.
a) Mit Schreiben vom 20. Juli 2020 erhob X. (Beschwerdeführer 1, BF 1) Beschwerde gegen den Titel des Artikels in der «Aargauer Zeitung» («10 Prozent aller Covid-19-Patienten schweben in Lebensgefahr»). Er macht geltend, der Titel sei übertrieben und diene seiner Meinung nach nur dazu, reisserisch «Angst und Schrecken zu verbreiten», und verweist auf den Tatbestand der «Schreckung der Bevölkerung» (Art. 258 Strafgesetzbuch).
b) Mit Schreiben vom 23. Juli 2020 erhob Y. (Beschwerdeführer 2, BF 2) Beschwerde gegen die Artikel von «watson», «NZZ am Sonntag», «higgs.ch», «Pilatus Today», «Aargauer Zeitung» und «St. Galler Tagblatt». Aufgrund einer Medienmitteilung des Universitätsspitals Zürich würden die Zeitungen in grossen Überschriften nur über den ersten Satz berichten, «und zwar so, als sei diese Zahl von 10 % das Ergebnis der Studie». Dies sei ein Irrtum, da es in der Studie darum gehe, den Krankheitsverlauf von 639 bereits kritisch kranken Patienten auszuwerten und nicht darum, wie hoch der Anteil der lebensgefährlich Erkrankten an der Gesamtheit der bestätigten Fälle sei. Die Redaktionen hätten lediglich den ersten Satz gelesen und daraus falsche Schlüsse gezogen. BF 2 macht geltend, den Redaktionen hätte klar werden müssen, dass dies nicht so sein könne. Damit sieht Y. Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletzt und verlangt von den betreffenden Publikationen eine Entschuldigung und eine Richtigstellung.
C. Zwischen dem 8. September und 1. Oktober 2020 haben die Redaktionen Stellung genommen. Wobei der Verlag CH Media das «St. Galler Tagblatt», die «Aargauer Zeitung» und «Pilatus Today» vertritt. Alle beantragen, die Beschwerden abzuweisen oder nicht darauf einzutreten. Im Einzelnen:
a) «watson» bestreitet die vom BF 2 aufgeführten Titel nicht («Jeder 10. Corona-Patient hat kritischen Verlauf», «Bei jedem zehnten Corona-Patient verläuft die Krankheit kritisch», «10 Prozent der bestätigten Fälle haben schweren Verlauf»). Weder seien die Titel falsch noch würden Informationen unterschlagen oder verfälscht, da sich die monierten Titel nicht auf den Hauptinhalt der Studie beziehen würden, sondern auf einleitende Feststellungen. Ausserdem sei die ganze Studie verlinkt worden.
b) CH Media gibt an, sich auf die Medienmitteilung des Universitätsspitals Zürich gestützt zu haben und auch die darin enthaltene allgemeine Feststellung übernommen zu haben. Es sei jedoch nicht wie gerügt auf den ersten Blick feststellbar, dass diese nicht Teil der Studie gewesen sei. Es übersteige das «übliche und angemessene Mass journalistischer Sorgfaltspflicht im Berufsalltag», an der grundsätzlichen wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit einer Medienmitteilung eines schweizerischen Universitätsspitals zu zweifeln. CH Media habe jedoch (ohne Anerkennung einer Rechtsfolge) die kritisierten Passagen entfernt, den Text aktualisiert und sich entschuldigt.
c) Das Wissenschaftsportal «higgs.ch» beruft sich auf einen Mailwechsel mit dem Studienleiter Pedro David Wendel Garcia, der die wissenschaftliche Aussage dahingehend einordnet, dass es bei den zitierten Studien (Zhou et al. und Huang et al.) schwierig einzugrenzen sei, was in China real als «kritisch kranker Patient» definiert worden sei. Die Aussage «eine Progression zur kritischen Krankheit von ungefähr 10 % aller positiv getesteten Patienten» sei im damaligen wissenschaftlichen Kontext durchaus plausibel. Damit sei auch der Titel legitim. Die Zuschreibung des Ergebnisses zur neuen Studie findet «higgs.ch» irrelevant – weist jedoch darauf hin, dass die Formulierung «zeigt die Studie» nicht eine eindeutige Zuschreibung der zehn Prozent als Ergebnis dieser Studie bedeute. Der Befund stimme aber insofern, als die Prozentzahl in der Studie erwähnt und somit in der Studie auch «gezeigt» werde.
d) Die «NZZ am Sonntag» (NZZaS) betont, dass in ihrem Artikel nicht die Studie im Zentrum stehe, sondern der Krankheitsverlauf eines schwer an Covid-19 erkrankten Mannes. Die Studie werde lediglich am Rande erwähnt. Die Aussage der NZZaS-Autorin, dass 10 Prozent der Covid-19-Patienten lebensgefährlich erkranken würden, behaupte nicht, dass es sich um die Gesamtheit der bestätigten Fälle handle. Zudem habe die Autorin die Medienstelle des USZ mehrfach kontaktiert – unter anderem, um sich die Zahl der 10 Prozent bestätigen zu lassen. Eventuelle Unklarheiten in der Terminologie zwischen den zitierten Studien und der Medienmitteilung des USZ seien angesichts des Wissensstandes nicht erstaunlich. Die Sicherung der Vergleichbarkeit der Daten sei jedoch in erster Linie Aufgabe der Forschung und Gesundheitsbehörden und nicht der Medien. Die NZZaS bezieht den Standpunkt, dass «an der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit einer Medienmitteilung eines schweizerischen Universitätsspitals» nicht gezweifelt beziehungsweise auf sie vertraut werden kann.
D. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2020 schloss der Presserat den Schriftenwechsel und teilte den Parteien mit, dass die beiden Beschwerden vereinigt und von der 1. Kammer, bestehend aus Casper Selg (Präsident a.i.), Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka und Francesca Luvini, behandelt werden.
E. Die 1. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 9. November 2020 und auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerden ein. Zwar macht der BF 1 nur einen Verstoss gegen Art. 258 des Strafgesetzbuches (Schreckung der Bevölkerung) geltend, welchen der Presserat nicht beurteilen kann. Die Anwendung des Strafgesetzbuches ist Sache der Strafgerichte. Aber seine Begründung lässt unzweifelhaft erkennen, dass der BF 1 – übersetzt auf die medienethischen Grundsätze – einen Verstoss gegen Ziffer 1 der «Erklärung», also gegen die Wahrheitspflicht meint.
Die Forderung des BF 2, wonach die betreffenden Redaktionen sich entschuldigen und Richtigstellungen veröffentlichen müssten, kann der Presserat nicht behandeln, denn dieser hat kein Weisungsrecht gegenüber den Redaktionen. Er überprüft nur, ob publizierte Texte den Anforderungen der «Erklärung» entsprechen. Bezüglich dieser beiden Aspekte tritt der Presserat somit nicht auf die Beschwerde von BF 2 ein.
2. Aufgabe des Presserates ist es, in Fragen der Berufsethik der Journalistinnen und Journalisten Stellung zu nehmen und die Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit zu verteidigen (Geschäftsreglement, Art. 1 Abs. 2). Der Presserat kann nicht auf die in diesem Falle eventuell offenen wissenschaftlichen Fragen eingehen, er untersucht wie erwähnt lediglich, ob die Redaktionen die Vorgaben der «Erklärung» erfüllt haben.
3. Der BF 2 wirft den Beschwerdegegnern (BG) vor, gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» verstossen zu haben. Sie hätten allesamt die Quote von 10 Prozent der schwer erkrankten Covid-19-Patienten als Ergebnis der Studie der Zürcher Intensivmediziner bezeichnet. Die Studie betrachte jedoch lediglich den Verlauf der Krankheit einer Kohorte (639 Personen) bereits kritisch Erkrankter. Der BF bemängelt auch, dass schon die Medienmitteilung diesen gleichen falschen Bezug hergestellt habe.
4. Der Presserat ist zwar nicht zur Beurteilung der Qualität einer Medienmitteilung legitimiert, da es sich dabei nicht um eine journalistische Tätigkeit handelt (Art. 2 Geschäftsreglement). Allerdings kommt der Presserat in diesem Falle nicht umhin, festzustellen, dass die Medienmitteilung des USZ zumindest ausgesprochen missverständliche Passagen enthielt, welche die Redaktionen auf falsche Fährten führten:
Der erste Satz des Leads und derjenige des ersten Absatzes besagen, dass 10 Prozent der Covid-19-Patienten lebensbedrohlich erkranken und intensivmedizinische Behandlung benötigen. Dass diese Aussage nicht das Ergebnis der Studie ist, über welche in der Medienmitteilung berichtet werden sollte, sondern nur eine Einleitung, welche die praktische Wichtigkeit der neuen Studie unterstreichen sollte, ist an diesen ersten prominenten Stellen nicht ersichtlich. Erst im dritten Abschnitt des Textes beginnt die Information über die eigentliche Studie. Deren eigentliche Ergebnisse («Auswertung») wiederum scheinen erst im sechsten Absatz auf. Das ist für eine Medienmitteilung zumindest sehr unüblich. (Diese Zürcher Studie enthält zwar hinsichtlich der Quote schwer Erkrankter durchaus Zahlen, diese gehen jedoch zurück auf zwei deutlich ältere chinesische Studien: Zhou et al. [n=191 hospitalisiert, Sars-Cov-2 bestätigt] und Huang et al. [n=41 hospitalisiert, Covid-19 bestätigt], aber diese Angaben sind nicht Ergebnis der Zürcher Forschung.)
5. Der Presserat anerkennt bei der Beurteilung der von den Beschwerdeführern kritisierten Artikel, dass eine missverständlich abgefasste Medienmitteilung zugrundelag. Allerdings kann das die BG nicht vollkommen entlasten, wie dies von Beschwerdegegnern zum Teil beantragt wird. Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) zur Ziffer 3 der «Erklärung» verlangt die Überprüfung der Quelle einer Information und ihrer Glaubwürdigkeit als Ausgangspunkt der journalistischen Sorgfaltspflichten. Die hohe gesellschaftliche Relevanz des Themas «Corona», die damit verbundenen Gefahren und Ängste und vor allem die Komplexität der Materie begründen gemäss dem Presserat selbstredend eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Das gilt auch wenn es sich bei einem Universitätsspital um eine üblicherweise vertrauenswürdige Quelle handelt. Dies insbesondere angesichts der ungenauen Angaben in der Mitteilung: Wer ist mit «Covid-Patienten» gemeint? Je nachdem, ob man darunter positiv Getestete versteht oder nur Menschen mit Symptomen, oder nur solche, die als «Patienten» bereits in ärztlicher Behandlung stehen, oder sogar nur im Spital Befindliche, ergeben sich vollkommen verschiedene Schlussfolgerungen, vollkommen andere Bedeutungen der Meldung. Das muss in einer solchen Lage geklärt werden, bevor man publiziert.
6. Es stellen sich damit zwei Fragen zur Einhaltung oder Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung»: Zum einen, ob die Redaktionen angesichts der Medienmitteilung ihrer Verpflichtung nachgekommen sind, ihre Quelle kritisch zu überprüfen. Und zum anderen die Frage, ob sie bei der Zusammenfassung der Quelle «Medienmitteilung» unsorgfältig vorgingen, indem sie die 10 Prozent Covid-Erkrankter mit schwerem Verlauf unrichtigerweise der Zürcher Studie zugeschrieben haben.
Zunächst zur Frage der kritischen Überprüfung:
a) «watson.ch» bestreitet, gegen Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) verstossen zu haben. Da der Titel sich nicht auf die Studie, sondern auf die einleitende Feststellung der Medienmitteilung bezogen habe, liege kein Fehler vor. Zudem habe man die gesamte Studie verlinkt. Der Presserat muss daher davon ausgehen, dass trotz der Brisanz und der mangelnden Klarheit der Information keine weitere Prüfung, etwa eine Rückfrage beim USZ, vorgenommen wurde. Dies stellt angesichts der oben beschriebenen gesellschaftlichen Bedeutung, der grossen Relevanz des Themas und der offenen Fragen in der Formulierung der USZ-Medienmitteilung einen Verstoss gegen Richtlinie 3.1 dar.
b) CH Media argumentiert, sich auf die Medienmitteilung des USZ zu stützen, die per se eine vertrauenswürdige Quelle sei. Es sei nicht auf den ersten Blick feststellbar, dass diese Quote von 10 Prozent nicht Teil der Studie gewesen sei. Es übersteige das «übliche und angemessene Mass journalistischer Sorgfaltspflicht im Berufsalltag», an der grundsätzlichen wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit einer Medienmitteilung eines schweizerischen Universitätsspitals zu zweifeln. Dem ist zu widersprechen. Zum einen darf es angesichts der Brisanz und der Wichtigkeit des Themas, auch der Unklarheit der Meldung nicht bei einem «ersten Blick» bleiben, bevor man dazu publiziert. Dies gilt auch dann, wenn dies das «übliche Mass an Sorgfaltspflicht» übersteigt. Bei schlechten Prognosen für Covid-Patienten geht es nicht um ein «übliches» Thema. Gerade in einem solchen Fall ist auch eine Medienmitteilung kritisch zu betrachten. Hier hat die Redaktion vor der Publikation nicht nachgefragt, was einen Verstoss gegen die in Richtlinie 3.1 statuierte Sorgfaltspflicht bedeutet. Deren Ausgangspunkt bildet die Überprüfung der Quelle einer Information und ihrer Glaubwürdigkeit.
c) Die «NZZ am Sonntag» gibt an, mehrmals bei der Medienstelle des USZ nachgefragt zu haben, worauf diese die Zahl (10 Prozent) bestätigt habe. Damit hat die NZZaS sich den zitierten Inhalt bestätigen lassen. Angesichts der Tatsache, dass dieser Passus lediglich am Rande der Reportage erscheint, vermag diese Nachfrage als Wahrnehmung der Sorgfaltspflicht zu genügen. Damit besteht kein Verstoss gegen Richtlinie 3.1.
d) «higgs.ch» hat den Studienleiter der Zürcher Studie kontaktiert und die Frage nach der Validität der 10-Prozent-Aussage überprüft. Dieser hat wohl eingeräumt, dass es «relativ schwer» einzuschätzen sei, wie ein kritisch kranker Patient bei der Triage in Wuhan definiert worden sei. Er hat diese Feststellung jedoch wissenschaftlich plausibilisiert. Diesbezüglich hat «higgs.ch» die Aussage der Medienmitteilung überprüft. Ob diese Einschätzung des Studienleiters einer wissenschaftlichen Überprüfung standhält, liegt nicht in der Kompetenz des Presserates zu entscheiden. Somit liegt kein Verstoss gegen Richtlinie 3.1 vor.
7. Damit zur zweiten, sich mit der ersten überschneidenden Frage, zur monierten falschen Zuordnung der 10-Prozent-Aussage. Bei genauer Lektüre, so BF 2, habe man sehen müssen, dass die Aussage der 10 Prozent schwerer Verläufe nicht Ergebnis der Zürcher Studie war, sondern dass diese sich um ganz anderes gedreht habe. Genau dies sei aber in den jeweiligen Texten fälschlicherweise so behauptet worden. Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen. Alles in allem gesehen geht dieser Fehler aber weitgehend auf die stark irreführenden Formulierungen der Quelle USZ zurück. Im Einzelnen gilt:
a) «watson.ch» schreibt im Artikel zwar richtigerweise, dass die Studie die Krankheitsverläufe beobachte, weist aber die 10-Prozent-Quote der lebensbedrohlichen Verläufe von Covid-19-Patienten eindeutig dieser Zürcher Studie zu. «[…] Demnach verläuft bei jedem zehnten Covid-19-Patienten die Krankheit lebensbedrohlich […]». Dass sich der Text von «watson.ch» lediglich auf die einführenden Feststellungen beziehe, wie die Redaktion argumentiert, ändert nichts an der falschen Zuordnung. Die Verlinkung der Studie ist zwar eine richtige und wichtige Ergänzung, sie ändert aber nichts am falschen Eindruck, der bei der Leserschaft entstand, einem Eindruck, der bei genauer Lektüre hätte vermieden werden können.
b) CH Media schreibt über die Studie: «Die Auswertung zeigt unter anderem, dass rund 10 Prozent der Covid-19-Patienten lebensgefährlich erkranken […]». Auch hier wird die 10-Prozent-Quote klar der Zürcher Studie zugeschrieben.
c) «higgs.ch» schreibt: «[…] Rund 10 Prozent der Covid-19-Patienten erkranken lebensgefährlich […], wie eine neue Studie des Universitätsspitals Zürich zeigt.» Ob das Verb «zeigen» semantisch eine Zuordnung bedeutet oder nicht, ist gemäss dem Presserat irrelevant, da von der Interpretation des Textes durch das Durchschnittspublikum auszugehen ist. Aus dieser Publikumsperspektive kommt der Presserat zum Schluss, dass auch hier eine falsche Zuschreibung erfolgt.
d) «NZZ am Sonntag» schreibt: «Eine am Freitag veröffentlichte Zwischenbilanz für Europa zeigt: Etwa 10 Prozent der Covid-19-Patienten erkranken lebensgefährlich.» Auch hier gilt aus Publikumsperspektive, dass dieses Ergebnis der neuen Studie zugeschrieben wird.
Alle vier Redaktionen haben demnach die 10-Prozent-Aussage falsch zugeordnet. Die Redaktionen führen dazu an, dass die Medienmitteilung falsch, mindestens jedoch unklar gewesen sei. Der erste Satz im Lead hinterlasse den Eindruck, dass es so stimme, dass effektiv die Zürcher Studie dies aufzeige. Dazu hält der Presserat fest: Die Zuschreibung der 10-Prozent-Feststellung wurde wohl handwerklich unsauber vollzogen, aber das «nun» im Lead der USZ-Medienmitteilung («Rund 10 Prozent der COVID-19-Patienten erkranken lebensgefährlich und benötigen intensivmedizinische Behandlung. Eine neue Studie liefert Ärztinnen und Ärzten nun wichtige Informationen zum individuellen Risiko und für die Therapie schwer erkrankter Patientinnen und Patienten schon bei deren Aufnahme auf der Intensivstation.») und die folgende Erklärung, dass die Studie sich mit Krankheitsverläufen in der Intensivstation befasse und damit den ÄrztInnen dort «einen Kompass» liefern solle, hätten beachtet werden müssen. Allerdings hat diese unrichtige Zuordnung die (problematische) Grundaussage (10 Prozent der Patienten haben schweren Verlauf) nicht verändert. Damit und angesichts der irreführenden Quelle besteht aus Sicht des Presserates knapp kein Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» hinsichtlich der falschen Zuordnung.
8. Dem Vorwurf des BF 1, der Titel der «Aargauer Zeitung» («10 Prozent aller Covid-19-Patienten schweben in Lebensgefahr») sei übertrieben und reisserisch, pflichtet der Presserat bei. Die Formulierung im Indikativ Aktiv behauptet einen Fakt über alle Covid-19-Patienten. In der Verkürzung des Titels entsteht eine sehr alarmierende Aussage. «In Lebensgefahr schweben» ist eine weitere – zu weit gehende, dramatisierende – Steigerung zu dem von allen anderen gewählten «kritischen Verlauf». Dies gilt insbesondere in Kombination mit dem (falsch zuordnenden) Lead «Gemäss eine [sic] Studie von Intensivmedizinern des Universitätsspitals Zürich erkranken 10 Prozent aller Corona-Patienten schwer …». Wie der Presserat bereits mehrmals festgestellt hat, sind Zuspitzungen im Titel zulässig, solange sie faktisch richtig sind. Das ist in dieser Form nicht mehr der Fall. Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» wurde mit dieser Schlagzeile verletzt.
Der gleiche Titel stand auch in den Online-Ausgaben der CH Media-Titel «St. Galler Tagblatt» und «Pilatus Today». Eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» liegt auch hier vor.
Den übrigen vom BF 1 angeführten Kritiken pflichtet der Presserat nicht bei. Dass es im Artikel der «Aargauer Zeitung» unklar sei, woran die 10 Prozent in Lebensgefahr befindlichen Patienten effektiv litten, trifft eindeutig nicht zu. Auch die Feststellung, dass nicht klar sei, was die Lebensgefahr der in der Intensivstation befindlichen Patienten mit Covid zu tun habe, ist angesichts des «Aargauer Zeitung»-Textes absolut nicht nachvollziehbar.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerden gegen «watson.ch», «Pilatus Today», «Aargauer Zeitung» und «St. Galler Tagblatt» werden teilweise gutgeheissen.
2. «watson.ch» und die CH Media-Titel «Aargauer Zeitung», «St. Galler Tagblatt» sowie die Online-Seite «Pilatus Today» haben gegen Ziffer 3 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» dadurch verstossen, dass sie Informationen und Behauptungen einer Medienmitteilung des Universitätsspitals Zürich unnachgefragt übernommen haben.
3. «Aargauer Zeitung», «St. Galler Tagblatt» und «Pilatus Today» haben darüber hinaus mit dem Titel «10 Prozent aller Covid-19-Patienten schweben in Lebensgefahr» gegen die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» verstossen.
4. Die Beschwerden gegen «NZZ am Sonntag» und «higgs.ch» werden abgewiesen. Diese haben nicht gegen Ziffer 3 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung» verstossen.
5. In allen übrigen Punkten werden die beiden Beschwerden abgewiesen.