Nr. 62/2010
Privatsphäre / Opferschutz / Menschenwürde / Lauterkeit der Recherche / Unschuldsvermutung / Einseitige Berichterstattung

(X. / Y. & Co. c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Mit diesem Bügeleisen erschlug sie ihn» und dem Obertitel «Chauffeur wollte seine Frau angeblich zu Sex zwingen» berichtete Ralph Donghi am 1. September 2010 im «Blick» über den ersten Tag der zweitägigen Hauptverhandlung eines Strafprozesses vor dem Amtsgericht Olten. Der Untertitel lautet: «Die vier Kinder schlafen auswärts, als der Ehestreit eskaliert. Anna L. kann die 33 tödlichen Wunden am Kopf ihres Mannes aber nicht mehr erklären.» Laut Anklageschrift habe die Beschuldigte ihren langjährigen Ehemann im Frühjahr 2003 bei einem Ehestreit mit einem Bügeleisen getötet. Der Bericht fasst die Einvernahme der Beschuldigten und des mitbeschuldigten Nachbarn zusammen, welcher in der Tatnacht den Ehestreit hörte und der Nachbarin zu Hilfe eilte.

Illustriert ist der Bericht mit einem grossen Bild des «blutverschmierten Bügeleisens», einem Bild aus dem Gerichtssaal, das die Beschuldigte und ihre Anwältin zeigt, sowie mit einem Foto aus dem Jahr 2002, auf dem die Beschuldigte (Augen abgedeckt), eines ihrer Kinder sowie der Verstorbene zu sehen sind («Nicola L. [heute 19] im Mai 2002: ‹Ich sagte ihr, dass ich es akzeptiere›»).

B. Tags darauf berichtete wiederum Ralph Donghi (Titel: «Die Schockbilder aus dem Schlafzimmer») über den zweiten Verhandlungstag. Der Lead lautete: «Anna L. handelte im Affekt. Die Schwester von Giuseppe L. (†) zeigt ihre Schwägerin nach dem Blutbad mit dem Bügeleisen.» Der Artikel fasst die Ausführungen des psychiatrischen Gutachters, der Staatsanwältin sowie des Anwalts des Opfers zusammen. Am Schluss des Berichts kommt die Schwester des Getöteten zu Wort, die sich über die milden Anträge der Staatsanwältin – 22 Monate bedingt für die Hauptangeklagte wegen Totschlags und Freispruch für den Mitangeklagten – bestürzt zeigt. Ihr Bruder sei nicht so gewesen, wie er im Prozess von ihrer Schwägerin dargestellt wurde. Er habe alles für seine Frau und seine Kinder getan. «Sie erlaubt ihrem Anwalt, ‹Blick› die Polizeibilder vom Tatort zur Veröffentlichung zu geben. ‹Es sollen alle sehen, was mit meinem Bruder damals geschah.›»

Die angesprochenen «Schockbilder» sind auf einer Doppelseite rund um den Bericht gross aufgemacht. Drei Bilder zeigen die Anschuldigte im blutigen Pyjama («Anna L. sitzt nach der Tat auf dem Ehebett im Schlafzimmer», «Die Täterin im Pyjama hat blutverschmierte Hände»; «Nach der Tat verkriecht sich Anna L. Die Polizei macht Beweisfotos»), je ein weiteres den Mitangeklagten («Nachbar Peter G. nach der Tat. Er hielt das Opfer fest und ist mitangeklagt») sowie Rettungskräfte, die sich um das Opfer bemühen («Giuseppe L. liegt am Boden. Die Retter versuchen, ihn wiederzubeleben»). Auf einem Teil der Bilder ist die Augenpartie der Abgebildeten mit einem schwarzen Balken abgedeckt. Ein kleines Bild zeigt schliesslich «Anna und Giuseppe L. mit Sohn Nicola im Mai 2002». Abgedeckt sind hier lediglich die Augen der Frau.

Der Bericht wird zudem bereits auf der Frontseite gross angekündigt. Neben einem Bild der Angeklagten (mit abgedeckten Augen) sind folgende Schlagzeilen zu lesen: «Sie hat gerade ihren Gatten getötet. Der Bügeleisen-Prozess bewegt die Schweiz. Anna L. (42) soll nicht ins Gefängnis. Der Gutachter sagt: Das kann jedem passieren. Die Polizeifotos aus der Tatnacht.»

C. Am 3. September 2010 setzte «Blick» seine Berichterstattung über den Prozess mit einem doppelseitigen Interview von Ralph Donghi mit der Schwester des Opfers fort («Es ist, als würde mein Bruder noch einmal ermordet») Diese wünsche sich «Gerechtigkeit: Ihre Schwägerin soll hinter Gitter. ‹Das täte Anna gut!». Neben grossen Aufnahmen vom Gesicht der Interviewten ist klein auch ein Faksimile der Titelseite vom Vortag abgedruckt, das die Angeklagte in einem blutverschmierten Pyjama zeigt.

D. Am 7. September 2010 berichtete Ralph Donghi über das Urteil im «Bügeleisen-Prozess von Schönenwerd» (Titel: «Die Pyjama-Frau muss nicht in den Knast. Polizeischutz für die Gerichtspräsidentin nach dem Urteil»). Der Lead lautet: «Anna L., die ihren Mann mit dem Bügeleisen erschlug, kommt mit einer bedingten Strafe davon. Ihre Schwägerin ist schwer enttäuscht.» Laut dem Bericht verurteilte das Gericht Anna L. wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten – mit Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Die drei Richterinnen hätten der Frau geglaubt, dass ihr Ehemann in jener Nacht Sex von ihr gewollt, nach ihrem Nein sie mit einem Bügeleisen ins Gesicht geschlagen und mit einem Gewehr bedroht habe.

Der Artikel ist wiederum mit dem Foto von Anna L. im blutverschmierten Pyjama illustriert («Das Polizeifoto zeigt Anna L. in der Tatnacht. Die vierfache Mutter erschlug ihren Mann mit dem Bügeleisen»). Zwei weitere Bilder zeigen die Schwester des Verstorbenen sowie die Gerichtspräsidentin mit zwei Polizisten («Gerichtspräsidentin Barbara Hunkeler hat Polizisten zu ihrem Schutz an ihrer Seite»).

In einem beigestellten Kommentar («Wie langsam darf unsere Justiz sein?») kritisiert der Gerichtsreporter die lange Dauer des Verfahrens und hält der Kritik an der Veröffentlichung der Polizeibilder («Das Gericht […] hat gestern den ‹Blick› kritisiert, weil wir Fotos aus der Tatnacht veröffentlicht haben. Das habe die Persönlichkeit der Angeklagten verletzt») entgegen: «Wir beim ‹Blick› finden, es ist skandalös, dass es die Justiz sieben Jahre nicht fertiggebracht hat, diesen Fall vor Gericht zu bringen. Das verletzt die Persönlichkeit des Getöteten, hohes Gericht!»

E. Gleichentags wandte sich Amtsgerichtspräsidentin Barbara Hunkeler brieflich an den «Blick»-Chefredaktor und protestierte gegen die Veröffentlichung eines Bildes der Beschuldigten und ihrer Anwältin im Gerichtssaal in der Ausgabe vom 1. September 2010. Ein solcher Verstoss gegen eine ausdrückliche Anweisung des Gerichts sei nicht akzeptabel. Zu den veröffentlichten Fotos aus den Gerichtsakten äussere sie sich nicht, da hiezu offenbar ein Gerichtsverfahren hängig sei. Sie werde aber nicht zögern, gestützt auf die Richtlinien des Obergerichts des Kantons Solothurn über die Information der Öffentlichkeit und der Medien, die Informationsrechte zu beschränken, «wenn einer Ihrer Mitarbeiter erneut gegen klare Anordnungen verstossen sollte».

F. Am 10. September 2010 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen die «Blick»-Berichte vom 1., 2. und 7. September 2010 an den Presserat. Mit der Berichterstattung über die Hauptverhandlung im sogenannten «Bügeleisenprozess» habe «Blick», die Ziffern 7 (Privatsphäre, Unschuldsvermutung) und 8 (Menschenwürde, Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

«Blick» habe in ungerechtfertigter Weise identifizierend berichtet, und mit der Publikation der «blutrünstigen Polizeibilder» die Menschenwürde der Angeschuldigten und ihrer Kinder verletzt. Zudem verstosse die einseitige, für die Privatkläger Partei ergreifende Berichterstattung gegen die Unschuldsvermutung.

G. Am 15. Oktober 2010 wies die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion die Beschwerde als unbegründet zurück. Die publizierten Bilder seien «Blick» von der Schwester des Verstorbenen zur Verfügung gestellt worden. In Bezug auf diesen sei sie die «einzige legitimierte und handlungsfähige Trägerin».

Eine Berufung auf die Menschenwürde sei fehl am Platz. Niemand könne ein harmloses Bild erwarten, wenn es um ein Tötungsdelikt mit einem Bügeleisen geht. Die «Schockbilder» in der Ausgabe vom 2. September 2010 würden zudem auf der Titelseite angekündigt. Auch darüber hinaus werde an keiner Stelle der Berichterstattung eine Person in ihrem Menschsein herabgesetzt. Zudem sei unklar, was die Beschwerde mit Opferschutz meine. Der Verstorbene sei auf keinem der Bilder erkennbar.

Ebenso gelte dies für den Sohn, da das Bild bereits achteinhalb Jahre alt sei. Es bestehe auch keine grundsätzliche Pflicht, Kinder unkenntlich zu machen. Auch Frau L. sei auf jenem Bild und den anderen, auf denen sie mit einem «Balken» versehen wurde, nicht zu erkennen. «Wenn sie es wäre, läge jedenfalls bezüglich ihr kein medienethischer Verstoss vor.»

Von einer einseitigen Berichterstattung könne keine Rede sein, ohnehin wäre eine solche medienethisch zulässig. Zudem spreche die Erfahrung (und auch der konkrete Fall) dagegen, dass eine engagierte Medienberichterstattung ein laufendes Verfahren beeinflussen könne.

H. Gleichentags teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

I. Am 25. Oktober 2010 wandten sich Y. und ihre vier Kinder, vertreten durch eine Rechtsanwältin, mit einer Beschwerde gegen die «Blick»-Berichterstattung vom 1., 2., 3. und 7. September 2010 an den Presserat. Mit der Veröffentlichung des Fotos aus dem Gerichtssaal habe «Blick» die Ziffern 4 (Lauterkeit der Recherche), 7 (Respektierung der Persönlichkeit) und 8 (Respektierung der Menschenwürde) der «Erklärung» verletzt. Ebenso verstosse die Publikation der Fotos aus der Tatnacht gegen die Ziffern 7 und 8 der «Erklärung».

Zu Beginn der Hauptverhandlung vom 31. August 2010 habe die Amtsgerichtspräsidentin die Presse ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Bild- und Tonaufnahmen im Gerichtssaal verboten sind. Trotzdem habe «Blick» am 1. September 2010 ein Foto veröffentlicht, das Y. und ihre Rechtsanwältin im Gerichtssaal zeigt. «Blick» habe mit dem identifizierenden Bild die Privatsphäre der Beschwerdeführerin verletzt. Insbesondere die Kinder hätten darunter gelitten, dass die Zeitung seit 2003 regelmässig, jeweils im Frühjahr, vertrauliches Bildmaterial veröffentlicht habe. «Es kam immer wieder zu überfallmässigen Kontakten durch den Journalisten des ‹Blick›, Ralph Donghi. Die Beschwerdeführer werden seit Jahren durch diese Kampagnen extrem belastet (…) Sie werden in Schönenwerd und Umgebung, an ihrer Arbeitsstelle, an ihrem Ausbildungsplatz sowie in der Schule auch von fremden Leuten, welche die Familie (…) nicht kennen, sehr häufig direkt darauf angesprochen.»

Die Kinder trauerten nach wie vor um ihren Vater und seien durch den Vorfall immer noch stark betroffen. «Trotz allem stehen sie hinter ihrer Mutter und wohnen alle noch zusammen in der Liegenschaft in Schönenwerd.» Durch die Veröffentlichung des Fotos der Mutter im Gerichtssaal sei auch ihre Persönlichkeit aufs Gröbste verletzt worden. «Blick» habe damit die gegenüber Kindern gebotene Zurückhaltung vermissen lassen (Richtlinie 7.3 zur «Erklärung») und zudem die Richtlinie 8.3 i.S. Opferschutz verletzt.

Mit der Veröffentlichung der Polizeifotos am 2. September 2010 habe die Berichterstattung des «Blick» «ihren moralisch absoluten Tiefpunkt» erreicht. Mit dieser Veröffentlichung sei die Privatsphäre und die Menschenwürde von Y. verletzt worden. «Diese Fotos sind Gegenstand der amtlichen Akten und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie zeigen die Beschwerdeführerin in ihrem Zustand unmittelbar nach der Tat vom 23. März 2003, in ihrem Schlafzimmer mit blutüberströmten Händen, blutigem Pyjama etc. Sie ist gezeichnet vom vorgängigen Kampf mit dem Verstorbenen, welcher sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen versucht, verbal und mit einem Gewehr bedroht sowie mit einem Bügeleisen ins Gesicht geschlagen hatte.» Ebenso sei die Persönlichkeit und die Menschenwürde der Kinder durch die Veröffentlichung der Polizeifotos krass verletzt worden. Erstmals hätten diese die Fotos aus der Tatnacht sehen müssen, worauf sie zuvor bewusst verzichtet hätten. «Durch die Publikation im ‹Blick› wurden ihnen diese Fotos jedoch ohne Vorbereitung und vorbehaltlos unterbreitet, was in ihnen einen grossen Schock ausgelöst hat.»

J. Am 1. Dezember 2010 beantragte die wiederum anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion, die Beschwerde von Y. und ihren Kindern sei abzuweisen. Nachdem eine Beschwerde der tatsächlich Betroffenen eingereicht worden sei, habe die Popularbeschwerde von X. keine Berechtigung mehr. Und soweit die vier Kinder Beschwerde führten, sei auf die Beschwerde nicht einzutreten. Diese würden in der Berichterstattung weder genannt noch kämen sie darin vor. Sie könnten nicht in einer Angelegenheit Beschwerde führen, die nur ihre Mutter beziehungsweise den von dieser erschlagenen Vater betreffe. Es werde in der Beschwerde auch nicht dargelegt, in welcher Weise die als Beschwerdeführer aufscheinenden Kinder eigene Ansprüche formulierten.

Das sitzungspolizeiliche Verbot von Aufnahmen im Gerichtssaal mache eine Publikation nicht widerrechtlich. Das Gericht könne den Gerichtsberichterstattern keinesfalls bindende Gebote dieser Art auferlegen. Selbst wenn man von einem Verstoss gegen das sitzungspolizeiliche Gebot ausgehen wollte, sei dies medienethisch irrelevant. «Der Pressekodex ist nicht dazu da, eine ‹bilderfeindliche› Gerichtsberichterstattung abzudecken.» Es sei zudem auch nicht unlauter, ein Bild entgegen einem solchen Verbot aufzunehmen. Ebenso wenig habe die beanstandete Bildveröffentlichung die Privatsphäre verletzt. «Wer in öffentlicher Hauptverhandlung vor Strafgericht steht, ist nicht in seiner Privatsphäre betroffen, wenn ein Bild aus dem Gerichtssaal publiziert wird.» Zudem sei die Beschwerdeführerin auf dem Bild auch objektiv nicht erkennbar. Nicht betroffen durch die Veröffentlichung sei schliesslich die Privatsphäre der Kinder. Die Bezugnahme auf die Menschenwürde sei unbegründet und «qualifiziert daneben».

Die Ausführungen der Beschwerde über frühere Berichte täten nichts zur Sache und deren angebliche Auswirkungen werden von «Blick» bestritten. «Keiner dieser Artikel wurde indessen in der Vergangenheit kritisiert oder bildete Anlass für Beschwerde und/oder gerichtliche Verfahren.» Ebenso bestreiten die Beschwerdegegner die in der Beschwerde behauptete wiederholte überfallmässige Kontaktaufnahme durch Gerichtsreporter Ralph Donghi sowie die angeblichen direkten Ansprachen unbekannter und ungenannter Dritter.

In Bezug auf die behauptete Verletzung von Ziffer 7 und 8 der «Erklärung» durch die Veröffentlichung der Polizeifotos insbesondere im Bericht vom 2. September 2010 bleibe die Beschwerde jede Darlegung der Gründe schuldig, aus welchen sich ein Verstoss gegen den Pressekodex ergeben solle. «Gegen nicht gemachte Ausführungen muss man sich aber nicht verteidigen.» Die Bilder seien ohne Bezug zur Privatsphäre der Beschwerdeführerin, sondern zeigten sie unmittelbar im Anschluss an ein von ihr begangenes Tötungsdelikt. Die Bilder liessen sie zudem weder als «Unmensch» noch als Häufchen «Elend» erscheinen, «sondern als jemanden, der von den Folgen der Tat zwar gekennzeichnet, aber nicht gebrochen ist. Die Bilder sprechen Frau Y. in keiner Weise die Würde als Mensch ab, die Anrufung von Ziffer 8 erscheint unbegründet. Dass Frau Y. auf Grund der Bilder von 2003 heute noch erkennbar sei, behaupten die Beschwerdeführer zu Recht auch nicht.»

Abschliessend bestreiten die Beschwerdegegner, dass die Kinder im «Blick» erstmals die Fotos aus der Tatnacht gesehen hätten. Selbst wenn dies zuträfe, sei dies ohne Bezug zu ihrer Persönlichkeitssphäre. Die Kinder seien der Berichterstattung nicht schutzlos ausgesetzt gewesen. «Der Inhalt der ‹Blick-Ausgabe› war angekündigt. Wer die Bilder nicht sehen wollte, konnte sich dem entziehen.»

K. Am 7. Dezember 2010 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde von Y. und ihren Kindern werde gemeinsam mit derjenigen von X. vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

L. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit die Beschwerdegegner die Auffassung vertreten, die Beschwerde von X. habe nach der Einreichung der Beschwerde von Y. keine Berechtigung mehr und auf die Beschwerde der vier Kinder sei mangels Betroffenheit und eigenständiger Vorbringen nicht einzutreten, verweist der Presserat auf Art. 6 Abs. 1 seines Geschäftsreglements. Danach ist jedermann beschwerdeberechtigt. Die Einreichung einer Beschwerde erfordert keine persönliche Beziehung zum Beschwerdegegenstand. Deshalb tritt der Presserat auf beide Beschwerden vollumfänglich ein.

2. Die beiden Beschwerden beziehen sich auf die vier am 1., 2., 3. und 7. September 2010 von «Blick» veröffentlichten Medienberichte über den Prozess sowie den Kommentar von Ralph Donghi in der Ausgabe vom 7. September 2010. Im Zentrum beider Beschwerden steht für den Presserat die Veröffentlichung von Polizeifotos aus den Gerichtsakten im Bericht vom 2. September 2010 (nachfolgende Erwägungen 3 und 4). Die Beschwerde von Y. und ihren Kindern beanstandet zudem die Veröffentlichung eines Fotos aus dem Gerichtssaal im «Blick» vom 1. September 2010 (Erwägung 5). Am Schluss der Erwägungen (Ziffern 6 und 7) geht die Stellungnahme schliesslich auf die beanstandete Verletzung der Unschuldsvermutung sowie auf den Opferschutz ein.

3. a) «Blick» kündigt die Polizeifotos aus der Tatnacht auf der Titelseite der Ausgabe vom 2. September 2010 zu Recht als «Schockbilder» an. Der Presserat hat sich in der Stellungnahme 2/1998 ausführlich mit Schock- und People-Bildern befasst. Im Zusammenhang mit der Publikation von Bildern von Unglücksfällen und Verbrechen wies er darauf hin, dass es für die Information des Publikums nicht notwendig ist, das gesamte Ausmass des Schreckens zu zeigen. «Wir sind nicht dazu da, dem Menschen jede Vorstellungskraft zu ersetzen.» (Ludwig Hasler). Medienschaffende müssten sich bei Bildern genauso wie bei Texten fragen: «Was muss ich zeigen?» und sorgfältig zwischen der Information der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz sowie der Menschenwürde der Betroffenen abwägen.

Gestützt auf die Erwägungen der Stellungnahme 2/1998 hat der Presserat die Richtlinie 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen) verabschiedet: «Fotografien und Fernsehbilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen müssen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen. Dies gilt besonders im Bereich der lokalen und regionalen Information.»

In der Stellungnahme 25/2000 rügte der Presserat die Veröffentlichung eines Unfallbildes durch «Blick» als Verletzung der Menschenwürde. Unter dem Titel «Sein Bruder sah ihn sterben» zeigte die über 5 Spalten laufende Abbildung das Opfer, das «einen qualvollen Tod starb», erkennbar unter dem Rad eines Lastwagens. Für den Presserat überstieg diese sensationelle Darstellung das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit bei weitem.

b) Für den Presserat ist aus den ihm eingereichten Unterlagen nicht ersichtlich, dass die Redaktion vor der Veröffentlichung der ihnen von einer Prozesspartei zugespielten Polizeibilder aus den Gerichtsakten die berufsethisch geforderte sorgfältige Interessenabwägung vorgenommen hat. «Blick» bringt zu seiner Verteidigung in erster Linie vor, die Schwester des Verstorbenen sei rechtlich legitimiert, die Bilder zur Veröffentlichung freizugeben. Eine Berufung auf die Menschenwürde sei zudem fehl am Platz, weil die beanstandeten Berichte niemanden in seinem Menschsein herabsetzten. Hingegen begründet die Zeitung nicht, inwiefern die Veröffentlichung der Bilder im öffentlichen Interesse liegen sollte.

Ein derartiges Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit ist denn auch offensichtlich zu verneinen. Die Leserschaft wird durch die Veröffentlichung der Bilder nicht in die Lage versetzt, sich ein genaueres Bild über die von den Prozessparteien (Privatklägerschaft, Staatsanwalt, Verteidigung) vertretenen Standpunkte zu machen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Publikation der «Schockbilder» bedient vornehmlich den Voyeurismus des Publikums, soll die Aufmerksamkeit erhöhen und so tendenziell die Auflage steigern.

Dem fehlenden öffentlichen Interesse stehen die Bilder gegenüber, die Y. in einer äusserst verletzlichen Situation unter dem Schock der vorangegangenen dramatischen Ereignisse zeigen (sexuelle Bedrängnis, Drohungen und Gewalt durch den Verstorbenen, Tötung im Affekt). Mit der Veröffentlichung der Fotos liefert «Blick» die Beschwerdeführerin in ihrer Schutzlosigkeit der Neugierde des Publikums aus.

Selbst wenn man mit den Beschwerdegegnern davon ausgeht, dass vorliegend – im Gegensatz zum Sachverhalt, der der Stellungnahme 15/2005 (Bild des abgerissenen Kopfes einer Selbstmordattentäterin) zugrunde lag – eine Verletzung der Menschenwürde des Betrachters zu verneinen ist, zumal «Blick» auf der Titelseite auf «die Schockbilder» hinweist und die Bilder bei separater Betrachtung, losgelöst vom Kontext der Berichterstattung nicht extrem schockieren: Die sensationalistische Blossstellung, die keinerlei Rücksicht auf die Situation von Anna L. und ihren Kindern nimmt, verletzt jedenfalls die Menschenwürde der Abgebildeten und damit die Ziffer 8 der «Erklärung».

4. Für den Presserat verstösst die Veröffentlichung der Fotos darüber hinaus auch gegen die Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre). Dies gilt ungeachtet davon, ob die Beschwerdeführerin aufgrund der bereits mehrere Jahre alten Bilder für Dritte ausserhalb ihres sozialen und familiären Umfelds erkennbar war.

Die Berichterstattung von «Blick» über den «Bügeleisenprozess» enthält neben den nur unvollständig anonymisierten Bildern weitere Elemente (richtiger Vorname und Initial des Nachnamens von Y., Vorname des Verstorbenen, Zahl der Kinder, Wohnort), die eine Identifizierung durch Personen aus dem weiteren Umfeld von Y. wahrscheinlich erscheinen lassen, die nicht ohnehin bereits über das Strafverfahren informiert waren. Entsprechend erscheint auch die Darlegung der Beschwerdeführerin und ihrer Kindern glaubwürdig, wonach sie von Dritten mehrfach auf die Medienberichte über den Prozess angesprochen worden seien.

Die durch Ziffer 7 der «Erklärung» geschützte Privatsphäre beschränkt sich nicht bloss auf einen räumlich eng begrenzten Bereich. Schützenswert sind vielmehr alle Informationen über die persönlichen Verhältnisse, die jemand in der Regel – wenn überhaupt – nur mit ihr nahe verbundenen Personen teilen will und die nicht dazu bestimmt sind, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. Dazu gehören insbesondere auch Informationen aus einem Strafverfahren.

Bei Berichten über Strafverfahren, bei denen es wie vorliegend nicht bloss um Privates, sondern auch um Tatsachen aus dem Intimbereich geht, ist der Kreis der ohnehin Eingeweihten, bei denen eine anonymisierende Berichterstattung deshalb kaum möglich erscheint, eng begrenzt (Stellungnahmen 58/2008 und 11/2009). Der Presserat hat deshalb jüngst einen Bericht über einen Strafprozess gerügt, bei dem das Opfer zwar aufgrund der Grösse des Ortes (16’000 Einwohner) kaum über sein soziales und berufliches Umfeld hinaus erkennbar war. Der Bericht enthielt jedoch mehr als die für das Verständnis unabdingbaren Informationen über die Tatbeteiligten und es bestand so die Gefahr, dass auch Personen die für sie neuen im Bericht enthaltenen Informationen aus der Intimsphäre identifizierend zuordnen konnten, bei denen dies bei sorgfältigerer Abwägung der einzelnen Informationselemente vermeidbar gewesen wäre (Stellungnahme 52/2010).

Auch vorliegend wird der Kreis derjenigen, die Y. aufgrund der beanstandeten Berichte identifizieren können durch die Kombination der Fotos aus der Tatnacht mit den weiteren in den Berichten enthaltenen Informationselementen wesentlich erweitert, ohne dass dies durch ein öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt ist.

5. Nach dem Ausgeführten verstösst zudem auch die Veröffentlichung des Fotos aus dem Gerichtssaal, das Y. und ihre Anwältin zeigt, gegen die Ziffer 7 der «Erklärung». Auf dem nicht anonymisierten Bild ist das Gesicht der Beschwerdeführerin von der Seite gut sichtbar. Sie ist damit, wiederum in Kombination mit den weiteren im Bericht vom 1. September 2010 enthaltenen Informationselementen, für einen Kreis von Personen identifizierbar, welche ausschliesslich durch die Medien über den Strafprozess informiert werden.

Zudem verstösst die Beschaffung des Bildes entgegen der ausdrücklichen Anordnung des Gerichts gegen die Ziffer 4 der «Erklärung». Gemäss dieser Bestimmung bedienen sich Journalisten bei der Beschaffung von Informationen, Tönen, Bildern und Dokumenten keiner unlauteren Methoden. Das Verbot von Bildaufnahmen in Gerichtssälen während der laufenden Verhandlungen entspricht – was auch die Beschwerdegegner einräumen – in der Schweiz weitverbreiteter Praxis. Angesichts des durch die Amtsgerichtspräsidentin zu Beginn der Hauptverhandlung noch einmal explizit bekräftigten Verbots konnte «Blick» das Bild nur verdeckt aufnehmen. Nach der Richtlinie 4.2 zur «Erklärung» sind verdeckte Recherchen zwar ausnahmsweise zulässig, wenn ein öffentliches Interesse an den Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können. Da Y. keine Person des öffentlichen Lebens ist und eine identifizierende Berichterstattung über ihren Strafprozess gegen Ziffer 7 der «Erklärung» verstösst, ist ein öffentliches Interesse an der verdeckten Aufnahme des Bildes im Gerichtssaal zu verneinen.

6. Beschwerdeführer X. beanstandet, mit der aus seiner Sicht einseitig auf die Interessen der Privatkläger ausgerichteten Berichterstattung verletze «Blick» die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.4 zur «Erklärung).

Danach ist bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der Persönlichkeit des/der von einer Medienberichterstattung Betroffenen. Entsprechend verlangt der Presserat in seiner Praxis zur Unschuldsvermutung (vgl. dazu z.B. die Stellungnahme 21/2007 und zuletzt die Stellungnahmen 26 und 40/2010), dass bei der Erwähnung eines Strafverfahrens oder eines strafrechtlichen Urteils in einem Medienbericht nicht zu Unrecht bereits eine (rechtskräftige) Verurteilung unterstellt wird.

Auch wenn «Blick» die Privatklägerschaft in seiner Berichterstattung prominent zu Wort kommen und sich mit der Veröffentlichung der Polizeibilder aus den Gerichtakten zudem ein Stück weit von deren Interessen instrumentalisieren lässt, ist die Leserschaft in den vier Berichten vom 1., 2. 3. und 7. September jederzeit über den Stand des Verfahrens informiert. Da aus der «Erklärung» zudem keine Pflicht zu «objektiver», ausgewogener Berichterstattung abzuleiten ist, dürfen Medien auch einseitig und parteiergreifend berichten (vgl. zuletzt die Stellungnahme 20/2010). Unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung ist deshalb eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» zu verneinen.

7. a) Gemäss der Richtlinie 8.3 (Opferschutz) zur «Erklärung» wägen «Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt (…) immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen ab (…) Journalistinnen und Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.»

b) Die beiden Beschwerden machen geltend, neben dem Verstorbenen seien auch Y. und ihre vier Kinder Opfer im Sinne der Richtlinie 8.3, zumal davon auszugehen sei, dass auch die Beschwerdeführerin Opfer von Straftaten ihres Ehemanns sei und die Kinder immer noch unter den Folgen des Ehedramas zu leiden hätten. Der Presserat stimmt dieser Sichtweise unter generellen Gesichtspunkten zwar grundsätzlich zu. Bei einer berufsethischen Betrachtungsweise ist hingegen in erster Linie zwischen zwei Aspekten des Opferschutzes zu differenzieren:

– In Bezug auf Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre) ist gerade bei Opfern von Unglücksfällen und Verbrechen – vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an einer identifizierenden Berichterstattung – ganz besonders auf eine sorgfältige Anonymisierung zu achten.

– Demgegenüber ist unter dem Gesichtspunkt von Ziffer 8 der «Erklärung» (Respektierung der Menschenwürde) gestützt auf die Richtlinie 8.3 zu prüfen, ob Opfer in unangemessen sensationeller Weise dargestellt und/oder zu blossen Objekten degradiert werden.

c) Auf die Frage der (ungenügenden) Anonymisierung von Y. wurde bereits weiter oben eingehend eingegangen. Soweit sie bei der Berichterstattung über den «Bügeleisenprozess» überhaupt als «Opfer» im berufsethischen Sinn zu betrachten ist, kommt dem Aspekt des Opferschutzes bei der Beschwerdeführerin und ihren Kindern zusätzlich zur bereits gerügten Verletzung der Ziffern 7 und 8 der «Erklärung» keine selbstständige Bedeutung zu.

d) Zu prüfen ist hingegen, ob die Darstellung des Verstorbenen in der beanstandeten Berichterstattung, insbesondere die Veröffentlichung der Bilder in der Ausgabe vom 2. September 2010, als Verletzung der Ziffer 8 der «Erklärung» zu werten ist.

Nach Auffassung des Presserates ist dies zu verneinen. Weder die Aufnahme auf dem Familienbild aus dem Jahre 2002 noch dasjenige Bild, das laut der Bildlegende Rettungssanitäter zeigt, die versuchen, den am Boden liegenden Ehemann wiederzubeleben, stellt diesen als Opfer bloss. Zumindest diskutabel erscheint hingegen die fehlende Anonymisierung auf dem Familienbild, was jedoch in keiner der beiden Beschwerden gerügt wird.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerden von X.sowie von Y. und ihren vier Kindern werden in den Hauptpunkten gutgeheissen.

2. Mit der Veröffentlichung von Polizeifotos aus der Tatnacht in der Ausgabe vom 2. September 2010 («Die Schockbilder aus dem Schlafzimmer», «Sie hat gerade ihren Gatten getötet») hat «Blick» die Ziffern 7 (Identifizierung) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Mit der Veröffentlichtung eines Bildes von Y. aus dem Gerichtssaal, das entgegen einem ausdrücklichen Verbot des Amtsgerichts Olten aufgenommen wurde, hat «Blick» die Ziffern 4 (Lauterkeit der Recherche) und 7 (Identifizierung) der «Erklärung» verletzt.

4. Darüber hinausgehend werden die Beschwerden abgewiesen.

5. «Blick» hat mit der beanstandeten Berichterstattung über den «Bügeleisenprozess» nicht gegen die Unschuldsvermutung (Ziffer 7 der «Erklärung) und den Opferschutz (Ziffer 8 der «Erklärung») verstossen.