Nr. 45/2024
Wahrheit

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 30. Oktober 2023 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Bericht von Oliver Camenzind unter dem Titel «Tausende demonstrieren für Palästina». Untertitel: «Am Umzug in Zürich werden antisemitische Parolen skandiert». Im Artikel wird berichtet, deutlich über 1000 Personen hätten demonstriert «für den ‹Frieden im Gazastreifen›. Zumindest lautete so das Motto (…).» Im Vorfeld sei befürchtet worden, dass der Anlass antisemitischen Charakter haben würde, schreibt der Autor. Ein Flyer, der zur Teilnahme aufrief, habe die geografischen Umrisse Israels als Teil von Palästina gezeigt. Dies habe bei der jüdischen Bevölkerung für Empörung gesorgt und es habe eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft bewirkt. Tatsächlich sei während des Umzuges «in Liedern und skandierten Parolen zigfach die Auslöschung des Staates Israel gefordert» worden. Als Beispiel wird die linke Gruppierung «der Funke» zitiert, welche für eine «Intifada bis zum Sieg» plädiert habe. Weiter hätten Personen, welche Fahnen der «Revolutionären Jugend Zürich» schwangen, gerufen «Stoppt den Faschismus in allen Ländern» und damit «wohl Israel gemeint». Auf einem Schild seien die israelischen Kampfhandlungen gar mit der Vernichtungspolitik von Adolf Hitler verglichen worden. Weiter wird berichtet, die Polizei habe offenbar mit gewaltsamen Auseinandersetzungen gerechnet. Sie sei mit grossem Aufgebot bereitgestanden, die Demonstration sei aber ruhig verlaufen. Am selben Tag hätten Menschen «aus der jüdischen Gemeinde und Gleichgesinnte versucht, ein Zeichen gegen den grassierenden Antisemitismus zu setzen», indem sie auf dem Sechseläutenplatz Fotos der Opfer des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 ausstellten.

B. Am 31. Oktober 2023 reicht X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verletze die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Umgang mit Quellen, Unterschlagen von Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

Zur Begründung führt er an, für den Untertitel «Am Umzug durch Zürich werden antisemitische Parolen skandiert» würden seitens der NZZ keine Belege geliefert, hier werde zudem Meinung und Berichterstattung vermischt. Antisemitisch heisse für die meisten, Diskriminierung von Juden, weil sie Juden sind. Damit werde der Eindruck erweckt, es seien anti-jüdische Parolen skandiert worden. Das sei nicht der Fall gewesen, er, der Beschwerdeführer sei drei Stunden lang dabei gewesen, vor und während des Marsches und habe kein einziges Wort gegen Juden gehört oder gelesen. Obwohl die Ziffern 1 und 3 der «Erklärung» unzureichend formuliert seien, verletze diese Passage des Artikels die Pflicht, wahrheitsgetreu zu schreiben.

Weiter verletze folgende Passage ebenfalls die Ziffern 1 und 3: «Tatsächlich wurde während des Umzugs am Samstag in Liedern und skandierten Parolen zigfach die Auslöschung des Staates Israel gefordert. Die linke Gruppierung ‹der Funke› plädierte beispielsweise für die ‹Intifada bis zum Sieg›.» Auch für diese Behauptung gebe es keine Belege, schreibt der Beschwerdeführer. Im Weiteren argumentiert er, wenn jemand gerufen hätte, «Israel soll ausgelöscht werden» oder ein entsprechendes Plakat getragen hätte, würde es davon Ton- oder Bildaufnahmen geben. Die NZZ habe aber kein entsprechendes Bildmaterial abgedruckt, weshalb die Darstellung der Zeitung bezweifelt werden könne.

Die Passage «Die linke Gruppierung ‹der Funke› plädierte beispielsweise für die ‹Intifada bis zum Sieg›» verstosse aus einem weiteren Grund gegen die Ziffern 1 und 3:  Der Beschwerdeführer führt aus, es gebe keine klare Definition von «plädieren», von «Intifada» sowie von «bis zum Sieg». All dies sei ungenau und nicht belegt. So könne «Sieg» sehr vieles heissen: Ende der 16-jährigen Blockade; Befreiung von Gaza und Westjordanland von der israelischen Besatzung; Gleichbehandlung durch Israel aller Leute, die zwischen Jordan und Mittelmeer lebten. Der zitierte Satz sei eine argumentativ unsaubere Wendung, die es ermögliche, den Eindruck zu erwecken, diese linke Gruppierung ziele auf die Auslöschung Israels. Selbst wenn – so der Beschwerdeführer weiter – «Intifada bis zum Sieg» das Ende Israels als Staat hiesse, bedeute dies nicht die Auslöschung von Menschenleben wie das der Autor suggeriere. Würde Israel – friedlich über den Weg von Verhandlungen – durch einen demokratischen Staat ersetzt, in dem alle jüdischen und nichtjüdischen Menschen dieselben Bürgerrechte hätten, würde dies kein einziges Menschenleben fordern. Entsprechend sei die Formulierung irreführend und verletze die Ziffern 1 und 3.

Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, der Bericht über die Demonstration sei irreführend, denn «99+ Prozent» der Demonstrierenden hätten nur «Free, free Palästina» gerufen und palästinensische Fahnen geschwenkt.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 8. Mai 2024 beantragt der Rechtsdienst der «Neuen Zürcher Zeitung», die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen.

Zunächst beschäftigt sich die Beschwerdegegnerin mit den verschiedenen Ausführungen des Beschwerdeführers, wonach Begriffe nicht ausreichend definiert worden seien. Sie bestreitet dies mit ausführlicher Begründung. Im Zusammenhang mit dem Terminus «antisemitisch» geht sie davon aus, dass damit anerkanntermassen «Feindseligkeit gegenüber Juden, nur weil sie Juden sind» gemeint sei. Solche von Nachschlagewerken wie auch im allgemeinen Sprachgebrauch anerkannten Begriffe müssten im journalistischen Gebrauch nicht weiter definiert werden. Das gelte auch für Begriffe wie «plädieren» oder «Intifada bis zum Sieg». Bei letzterem geht die NZZ davon aus, dass dieser Slogan in der Tat verschieden interpretiert werden könne, das könne auch teilweise extreme Positionen miteinschliessen. Einige Beobachter oder Kritiker verstünden darin einen Aufruf zur Auslöschung des Staates Israel in seiner gegenwärtigen Form. Und in Verbindung mit der Darstellung von Kalashnikov-Gewehren könne dies als Symbol für militärische Aktionen und die Anwendung von Gewalt verstanden werden.

Dass von den im Artikel behaupteten antisemitischen Parolen keine Belege, etwa Tonaufnahmen, existierten, was der Beschwerdeführer als Zeichen dafür sieht, dass es diese auch nicht gegeben habe, sei deswegen nicht von Belang, weil die NZZ ihre Darstellung auf «Beobachtungen von verschiedenen Augenzeugen und polizeiliche Berichte» stütze. Dabei sei sie nicht verpflichtet, bei jedem beschriebenen Element die entsprechenden Quellen aufzuzählen. Diverse Quellen – andere Journalisten, die Polizei und andere Demonstrierende – hätten aber bestätigt, dass es während der Demonstration zu antisemitischen Äusserungen gekommen sei.

Wenn der Beschwerdeführer anführe, dass er in den drei Stunden der Demonstration keine antisemitischen Parolen gehört habe, dann heisse das nicht, dass es sie nicht gegeben habe. Es sei durchaus möglich, dass Personen, die sich während der Demonstration an verschiedenen Stellen aufhielten, verschiedene Eindrücke erhielten. Das belege exemplarisch, weshalb der Beschwerdeführer während der Demonstration keine Plakate mit «Intifada bis zum Sieg» gesehen habe. Der Beschwerdeantwort ist ein Bild von der Demonstration beigefügt, das der Autor des Artikels aufgenommen hat. Das Foto zeigt ein Transparent von «der Funke», auf dem steht: «Solidarität mit Palästina / Intifada bis zum Sieg». Auf dem Transparent sind auch abstrakte Personen mit Kalashnikovs abgebildet.

Schliesslich geht die Beschwerdegegnerin auf die generelle Kritik am Artikel ein. Der NZZ sei es ein Anliegen, ein vollständiges Bild der Ereignisse zu vermitteln. Dabei habe man sich aber nicht darauf beschränkt, lediglich die Mehrheitsaktivitäten zu beschreiben, sondern habe signifikante Vorkommnisse hervorgehoben, die aufgrund ihrer potenziellen Brisanz für das öffentliche Interesse und die Sicherheitslage relevant seien: «Es ist Pflicht der NZZ, auch die weniger angenehmen Aspekte einer Demonstration zu beleuchten, insbesondere wenn sie die öffentliche Ordnung und das gesellschaftliche Klima betreffen.»

D. Am 29. Mai 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 11. November 2024 verabschiedet.

 

 II. Erwägungen

1. Der Presserat muss sich in der Beurteilung dieser Beschwerde auf wenige Punkte beschränken. Zur wichtigen Frage, welche Slogans an dieser Demonstration von wie vielen Menschen wie häufig skandiert und welche Transparente mitgetragen wurden, lässt sich aufgrund des vorliegenden Materials nicht fundiert Stellung nehmen. Damit bleibt nach Lektüre des Artikels und der Stellungnahmen beider Parteien offen, wie viele Leute sich an der Demonstration antisemitisch geäussert haben. Bei der Frage, was genau skandiert wurde, steht Aussage gegen Aussage. Ohne diese Kenntnis lässt sich die Frage nach dem vorwiegenden Charakter der beschriebenen Demonstration nicht schlüssig beurteilen. Damit kann der Presserat auch keine Verletzung der Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» festmachen.

2. Der Presserat kann nur mahnen, sorgfältig mit Charakterisierungen umzugehen. Kritik an der Politik Israels ist nicht anti-israelisch. Kritik an der Hamas oder der PLO, der Fatah ist nicht anti-palästinensisch. Kritik an der Kriegsführung Israels ist nicht per se antisemitisch. Ebenso wenig wie Kritik an der mörderischen Terroraktion der Hamas nicht für Araber- oder Islam-Hass spricht. Sehr wohl aber kann Kritik an der israelischen Politik von Judenhass getragen sein, dann muss dies aber konkret begründet werden. Dasselbe gilt für behauptete anti-arabische Hassgefühle der Gegenseite.

3. Fest steht aus der Sicht des Presserates, dass die Aussage, es seien am Umzug antisemitische Parolen, also Parolen des Judenhasses, skandiert worden, einen schweren Vorwurf beinhaltet. Die NZZ liefert zwar in ihrer Stellungnahme ein Foto, das der Autor während der Demonstration gemacht hat und das Demonstrierende zeigt, die das beschriebene Transparent von «der Funke» tragen. In ihrer Stellungnahme führt die Redaktion an, weitere Quellen wie andere Journalisten, Demonstrierende oder die Polizei hätten bestätigt, dass es zu «antisemitischen Äusserungen» gekommen sei. Eine genaue Darstellung dieser verschiedenen Quellen fehlt jedoch im Artikel selber. Das Publikum kann sich nur beschränkt ein eigenes Bild machen. Genauere Umschreibungen wären aber aufschlussreich gewesen: Wer hat welche Slogans genau gehört oder gesehen (nicht zwangsläufig mit Namen)? Wie äusserte sich die Polizei? etc. Das gilt insbesondere, wenn festgestellt wird, während der Demonstration sei in «Liedern und skandierten Parolen zigfach die Auslöschung des Staates Israel gefordert» worden. Das ist ein gravierender Befund. Die zentrale Frage, ob niemand – wie der Beschwerdeführer behauptet –, wenige oder Hunderte dies getan haben, lässt sich aufgrund der Lektüre des Artikels aber nicht beantworten. Eine klarere Beschreibung – auch der Quellenlage – wäre für das Verständnis hilfreich gewesen.

Da unklar bleibt, was im Detail an der Demonstration genau passierte und Aussage gegen Aussage steht, kann der Presserat jedoch keine Verletzung der Ziffer 3 (Umgang mit Quellen) feststellen.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Tausende demonstrieren für Palästina» die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Umgang mit Quellen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.

3. Der Presserat mahnt aber zu einem vorsichtigen Umgang mit Ausdrücken wie «antisemitisch», «antiarabisch», «antimuslimisch» oder «antiisraelisch». Wo solche verwendet werden, müssen entsprechende Quellen und Begründungen benannt werden.