I. Sachverhalt
A. Am 4. Februar 2010 veröffentlichte die Zeitung «Blick» einen Artikel über den Amateurfussballer X. mit dem Titel «Er war der Schweizer Filialleiter der Wett-Mafia». Dabei ging es um den jüngsten internationalen Fussball-Wettskandal, in den der 22-Jährige verwickelt war. «Blick» beschreibt, wie X. (im Bericht mit dem Vornamen und dem ersten Inital des Nachnamens genannt) auf der Internetplattform Facebook von sich Bilder veröffentlichte und am 15. Januar 2010 – nach einer zweimonatigen Facebook-Pause – u.a. auch einen «Blick»-Artikel und zwei YouTube-Beiträge zum Fussball-Wettskandal «postete», d.h. in seinem Facebook-Profil publizierte.
Die Leser und Leserinnen erfahren, dass X. am 19. November 2009 verhaftet worden war und danach in Untersuchungshaft sass. Laut «Blick» war er der «Schweizer Mittelsmann der internationalen Wett-Mafia für die Region Thun». Er habe Fussballer des FC Wil und FC Thun bestochen. Im bosnischen Online-Sportmagazin «sportin.ba» habe einer der bestochenen Fussballer des FC Thun X. als «Hauptschuldigen der ganzen Situation» bezeichnet. Der Artikel ist illustriert mit einem Porträt-Bild des Protagonisten, worauf die Augenpartie mit einem schwarzen Balken abgedeckt ist. Titel und Bild sind untertitelt mit «Kaum aus der U-Haft, veröffentlichte X. eine Presseschau zum Wettskandal».
B. Am 18. März 2010 gelangte der anwaltlich vertretene X. mit einer Beschwerde gegen den «Blick» an den Presserat. Der Beschwerdeführer beanstandet, die Autoren des genannten Artikels – Monica Fahmy und Adrian Schulthess – hätten sich unberechtigt Zugang zu seiner Facebook-Seite verschafft und von Facebook sowohl das Bild als auch einen Teil der Informationen übernommen und veröffentlicht. Am Tag vor der Veröffentlichung des Artikels habe er mehrere Facebook-Freundschaftsanfragen abgelehnt, die «mutmasslich von ‹Blick›-Autoren stammten».
«Blick»-Journalist Adrian Schulthess habe ihm in einer anderen Facebook-Anfrage mitgeteilt, dass er im Wettbetrugs-Fall recherchiere und vorhabe, auch über die Rolle des Beschwerdeführers zu berichten. Auf diese Anfrage reagierte der Anwalt des Beschwerdeführers und teilte der zuständigen «Blick»-Journalistin mit, dass sich X. «derzeit gegenüber der Presse nicht äussern» und weder namentlich in der Presse erwähnt noch im Bild erscheinen wolle.
«Blick» habe sich bei der Informationsbeschaffung unlauterer Methoden bedient (Richtlinie 4.2 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» – verdeckte Recherchen) und durch den Abdruck des Bildes und die identifizierende Berichterstattung die Privatsphäre des Beschwerdeführers verletzt (Ziffer 7 der «Erklärung»).
Die kritisierte Berichterstattung habe für den Beschwerdeführer konkrete, negative Folgen gehabt. Am 5. Februar 2010 habe der Moderator der Miss-Bern-Wahl in einem Club seine Anwesenheit mit der Bemerkung kommentiert, unter den Gästen gebe es auch Kriminelle.
C. Am 26. April 2010 beantragte die ebenfalls durch einen Anwalt vertretene «Blick» Redaktion, die Beschwerde sei in allen Punkten abzuweisen. Die «Blick»-Redaktion bestreitet, dass sie dem Beschwerdeführer Facebook-Freundschaftsanfragen geschickt habe. Von einer verdeckten Recherche könne nicht die Rede sein. Adrian Schulthess habe bei der in der Beschwerde erwähnten Anfrage seinen Namen, seine Funktion, seine Absicht und für den Rückruf Namen und Nummer einer Kollegin bekannt gegeben.
Den Vorwurf der Verletzung der Privatsphäre weist die Beschwerdegegnerin mit dem Argument zurück, im Internet gebe es keine Privatheit. Auch Facebook sei der Gemeinsphäre zuzurechnen. Zudem sei in der Beschwerde gar nicht ersichtlich, was an angeblich geschützten bzw. privaten Informationen publiziert worden sein soll. Dem Vorwurf der identifizierenden Berichterstattung setzt «Blick» zudem entgegen, der Beschwerdeführer habe seinen Namen im Zusammenhang mit dem Wett-Skandal selbst öffentlich gemacht.
D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören. Klaus Lange, Redaktor im Newsroom von «Blick», «SonntagsBlick» und «Blick am Abend» trat von sich aus in den Ausstand.
E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 26. August 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Gemäss Ziffer 4 der «Erklärung» dürfen sich Journalistinnen und Journalisten bei der Beschaffung von Informationen, Tönen, Bildern und Dokumenten keiner unlauteren Methoden bedienen. Die Richtlinie 4.1 zur «Erklärung» führt dazu aus, dass sich Journalistinnen und Journalisten bei ihren Recherchen als solche zu erkennen geben müssen. Verdeckt recherchieren dürfen Medienschaffende nach der Richtlinie 4.2 nur in Ausnahmefällen, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den damit recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können.
b) Gemäss den Ausführungen des Beschwerdeführers legte «Blick»-Redaktor Adrian Schulthess bei seiner Anfrage sowohl seinen Beruf als auch den Gegenstand seiner Recherche (den «Wettbetrugs-Skandal») offen. Insofern hat er sich hier an die Vorgaben der Richtlinie 4.1 gehalten. Die weiteren nach Darstellung von X. «mutmasslich» von «Blick»-Autoren stammenden Facebook-Anfragen vom 3. Februar 2010 kann der Beschwerdeführer nicht belegen und sie werden von «Blick» bestritten. Eine verdeckte Recherche ist für den Presserat unter diesen Umständen nicht erstellt, weshalb die Beschwerde in diesem Punkt abzuweisen ist.
2. a) Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Medienschaffende, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (identifizierende Berichterstattung – vormals Richtlinie 7.6) verlangt eine sorgfältige Interessenabwägung und nennt eine Reihe von Fällen, in denen eine Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist:
– sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt; – sofern eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht; – sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht; – sofern die Namensnennung notwendig ist, um eine für Dritte nachteilige Verwechslung zu vermeiden; – sofern die Namensnennung oder identifizierende Berichterstattung anderweitig durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist.
b) Zunächst fragt sich, ob der Beschwerdeführer aufgrund der beanstandeten Berichterstattung überhaupt identifizierbar ist. «Blick» wendet dazu ein, ohne zusätzliche Recherche sei der Beschwerdeführer weder aufgrund des Bildes noch der weiteren im Artikel enthaltenen Angaben erkennbar. Das mag sein, soweit es sich um Personen handelt, die X. überhaupt nicht kennen. Neben seiner Familie und seinem näheren Freundes- und Bekanntenkreis, die über seine Involvierung in die Ermittlungen rund um den Wettskandal ohnehin (u.a. durch seine Kommunikation in Facebook) informiert gewesen sein dürften, gibt es aber nach Auffassung des Presserates zwangsläufig einen Kreis von Personen, die mit dem Beschwerdeführer nicht näher verkehren und keine Kenntnis von seiner Verhaftung usw. haben, ihn aber aufgrund der im Artikel enthaltenen Angaben ohne Weiteres erkennen: seltener Vorname, erster Buchstabe des Nachnamens, Illustration mit einem Porträtbild auf dem die Augenpartie bloss mit einem schmalen Streifen abgedeckt ist; Hinweis auf frühere Profifussballer-Ambitionen, ehemalige Zugehörigkeit zu den FC Thun-Junioren, zuletzt Zugehörigkeit zu einem 3. Liga-Fussballclub in Bern.
c) Weiter zu prüfen ist der Einwand von «Blick», der Beschwerdeführer sei mit seinem Auftritt in Facebook selber an die Öffentlichkeit getreten und habe damit in die Veröffentlichung seines Bilds und seines Namens eingewilligt. Generell sei, was auf Facebook ist, jedermann zugänglich und wer etwas aufs Netz stelle, mache es damit weltweit sichtbar.
Der Presserat ist dieser Interpretation bereits in mehreren Stellungnahmen entgegengetreten. Schon in der Stellungnahme 35/2008 hielt er fest, dass Medien nicht unbesehen Informationen von der Website einer Privatperson weiterverbreiten dürfen – selbst wenn sich diese damit gegenüber der Öffentlichkeit exponiert. In der Stellungnahme 27/2009 führte er zudem aus: «Für den Presserat ist der Begriff der Öffentlichkeit in Bezug auf das Internet nicht ohne Weiteres mit dem Begriff der ‹Medienöffentlichkeit› gleichzusetzen. Ein Artikel in einer auflagestarken Zeitung (…) findet ein wesentlich grösseres und ein ganz anderes Publikum als eine private Website, die sich in den Weiten des Internets verliert und nur wenige speziell an einem Thema Interessierte anspricht.»
Die Richtlinie 7.1 zur «Erklärung» (Privatsphäre) unterscheidet analog zur sogenannten Sphärentheorie des deutschen Rechts zwischen privatem und öffentlichem Bereich. Während Informationen aus der Privatsphäre grundsätzlich nur ausnahmsweise, bei einem überwiegenden öffentlichen Interesse publiziert werden dürfen, sind Informationen im öffentlichen Bereich für jedermann, also auch für die Massenmedien zugänglich. Bereits die Richtlinie 7.1 schränkt in Bezug auf Bildaufnahmen allerdings ein, dass auch bei Informationen aus dem öffentlichen Bereich abzuwägen ist. Bei öffentlichen Auftritten und im Rahmen des öffentlichen Interesses dürfen Individuen in der Berichterstattung herausgehoben werden.
Entsprechend hat der Presserat in der Stellungnahme 1/2010 darauf abgestellt, mit welcher Absicht sich jemand im öffentlichen Raum exponiert. Zwar sind bei einem Facebook-Profil die darin enthaltenen Informationen (oder je nach den persönlichen Einstellungen wenigstens ein Teil davon) weltweit abrufbar. Trotzdem kann daraus nach Auffassung des Presserates nicht die Einwilligung des Betroffenen abgeleitet werden, im Kontext der veröffentlichten Information in der Berichterstattung eines Publikumsmediums in identifizierender Weise herausgehoben zu werden. Zumal die Kommunikation in einem sozialen Netzwerk wie Facebook – selbst wenn sie zum Teil öffentlich einsehbar ist – in der Regel dem Austausch von Bildern und Informationen unter Privaten und weniger der Kommunikation mit der Öffentlichkeit dient.
Entsprechend ist auch bei X. allein aufgrund seiner Facebook-Einträge kaum zu vermuten, dass er seine Verwicklung in den Fussball-Wettskandal der Öffentlichkeit via «Blick» in identifizierender Weise kundtun wollte, zumal er ja der Zeitung vor der Publikation des beanstandeten Berichts unbestrittenermassen durch seinen Anwalt ausrichten liess, er wolle weder seinen Namen genannt haben noch sein Bild veröffentlicht sehen. In Bezug auf die gerügte Verletzung der Privatsphäre ist die Beschwerde deshalb gutzuheissen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
2. «Blick» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Er war der Schweizer Filialleiter der Wett-Mafia» in der Ausgabe vom 4. Februar 2010 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre) verletzt. Das Porträtbild von X., auf dem nur die Augenpartie mit einem schmalen Streifen abgedeckt ist und weitere Angaben ermöglichten eine über das nähere soziale Umfeld hinausgehende Identifizierung.
3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.
4. «Blick» hat die Ziffer 4 der «Erklärung» (Lauterkeit der Recherche) nicht verletzt.