Nr. 40/2010
Unschuldsvermutung

(Rózsa c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A.Am 9. September 2009 berichtete Michael Baumann in der «Neuen Zürcher Zeitung» (nachfolgend: NZZ) aus dem Bezirksgericht Zürich: «Linksaktivist Klaus Rozsa verurteilt». Dem Artikel ist zu entnehmen, die Verurteilung sei im Zusammenhang mit der Besetzung des Hardturmstadions 2008 erfolgt. Bei der Besetzung sei die Polizei eingeschritten, worauf Fotograf Rózsa einen Polizisten bespuckt und als Nazi beschimpft habe. Das Urteil der Einzelrichterin wegen übler Nachrede und Beschimpfung laute auf eine Geldstrafe von 21 Tagessätzen. «Die Strafe wird allerdings aufgeschoben bei einer Probezeit von 2 Jahren.» Zu tragen habe Rósza hingegen Anwalts- und Gerichtskosten. «Für die Richterin ist die Schuld des Angeklagten erwiesen (…) Die Aussagen des Polizisten seien glaubhaft und würden von zwei Zeugen gestützt. Zwei Entlastungszeugen hätten dagegen zum eingeklagten Sachverhalt nur wenig überzeugende Aussagen machen können.»

B. Gleichentags wandte sich der anwaltlich vertretene Klaus Rózsa an die Redaktion der NZZ und beanstandete, im obengenannten Beitrag werde die erstinstanzliche Verurteilung als rechtskräftig darstellt und der Vorwurf, wonach er einen Polizisten bespuckt und als Nazi beschimpft haben soll, als unumstössliche Tatsache umschrieben. Damit habe die NZZ seine Persönlichkeit und die Unschuldsvermutung verletzt. Er forderte die Zeitung auf, in der nächstmöglichen Ausgabe einen entsprechenden Bericht zu veröffentlichen.

C. Am 10. September 2009 entgegnete Michael Baumann per E-Mail, «ihrer Argumentation kann ich nicht folgen». Unbestrittenermassen sei Klaus Rózsa vom Bezirksgericht mit der erwähnten Begründung veruteilt worden. «Dass das Urteil, wie das bei der ersten Instanz immer der Fall ist, noch nicht rechtskräftig ist, ist so klar, dass man das nicht extra betonen muss. In der NZZ-Gerichtsberichterstattung ist es deshalb auch nicht üblich, auf den Umstand hinzuweisen, dass ein Urteil noch nicht rechtskräftig ist.» Genau so wenig berichte die NZZ – ausgenommen bei grossen Fällen – über einen Weiterzug, sondern jeweils erst über die Verhandlung bei der nächsten Instanz. Falls Rózsa jedoch auf seinem Ansinnen beharre, «kann ich im Sinne einer Ausnahme durchaus vermelden, dass Sie das Urteil weiterziehen. Wir wollen ja nicht unnötig über eine Bagatelle streiten.»

D. Am 8. Januar 2010 beschwerte sich der weiterhin anwaltlich vertretene Klaus Rózsa beim Presserat über den NZZ-Bericht vom 9. September 2009 und beanstandete eine Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», insbesondere der zugehörigen Richtlinie 7.5 (Unschuldsvermutung). Die NZZ habe es entgegen dieser Bestimmung unterlassen, darauf hinzuweisen, dass das Urteil des Bezirksgericht erstinstanzlich und noch nicht rechtskräftig war.

E. Am 12. Februar 2010 beantragten Markus Spillmann, Chefredaktor, und Claudia Schoch, Rechtskonsulentin, namens der Redaktion der NZZ, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Die Redaktion habe inzwischen Korrekturmassnahmen eingeleitet und zudem sei der konkret gerügte Sachverhalt von untergeordneter Relevanz. Eventuell sei die Beschwerde abzuweisen. Eine formelle Forderung, die noch fehlende Rechtskraft eines Urteils in jeder Gerichtsberichterstattung zu thematisieren sei zu formalistisch und praxisfremd. Die Leserschaft wisse, dass bei einer aktuellen Gerichtsberichterstattung die Rechtsmittelfristen noch laufen. Damit werde der Unschuldsvermutung im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung» und der zugehörigen Richtlinie 7.5 in genügender Weise Rechnung getragen.

F. Am 28. Oktober 2009 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 24. September 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 10 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, «wenn sich die betroffene Redaktion bei einer Angelegenheit von geringer Relevanz bereits öffentlich entschuldigt und/oder Korrekturmassnahmen ergriffen hat».

Die NZZ weist unter diesem Gesichtspunkt darauf hin, dass sie zusätzlich zur bisherigen grafischen Kennzeichnung von aktuellen Gerichtsberichterstattungen, die kenntlich mache, dass ein Urteil noch nicht rechtskräftig ist, seit kurzem in einer Anmerkung bzw. Fussnote neben der Verfahrensnummer auch die formelle Kennzeichnung «noch nicht rechtskräftig» beifügt.

Aus Sicht des Presserates ist diese Praxisänderung äusserst positiv zu würdigen. In Bezug auf den konkreten Beschwerdesachverhalt ist allerdings aus den von den Parteien eingereichten Unterlagen nicht ersichtlich, dass die NZZ ihre ursprüngliche Unterlassung anerkannt und diese nachträglich korrigiert hat. Deshalb ist auf die Beschwerde einzutreten.

2. a) Gemäss der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der Persönlichkeit des/der von einer Medienberichterstattung Betroffenen. Entsprechend verlangt der Presserat in seiner Praxis zur Richtlinie 7.5 (vgl. dazu z.B. die Stellungnahme 21/2007 und zuletzt die Stellungnahme 26/2010), dass bei der Erwähnung eines Strafverfahrens oder einer strafrechtlichen Verurteilung in einem Medienbericht nicht vorverurteilend zu Unrecht bereits eine (rechtskräftige) Verurteilung unterstellt wird.

b) Die NZZ wendet im konkreten Fall ein, ihrer Leserschaft sei bei einem Strafverfahren vor dem Bezirksgericht auch ohne den ausdrücklichen Hinweis auf die fehlende Rechtskraft klar, dass es sich um ein erstinstanzliches, weiterziehbares Urteil handelt. Es sei formalistisch und praxisfremd, einen ausdrücklichen Hinweis zu verlangen.

Der Presserat hat zu der in dieser Beziehung parallel liegenden Beschwerde von Klaus Rózsa gegen «Tages-Anzeiger Online» (Stellungnahme 26/2010) festgehalten, dass ein ausdrücklicher Hinweis auf die fehlende Rechtskraft eines erstinstanzlichen Urteils berufsethisch zwingend ist. Denn selbst ein juristisch gebildeter Leser weiss ansonsten nicht mit Sicherheit, ob das Urteil eventuell doch schon rechtskräftig ist, weil der oder die Verurteilte das Urteil allenfalls definitiv akzeptiert hat. Im Gegenteil erweckt ein fehlender Hinweis bei der Leserschaft (zumindest unbewusst) den Eindruck, das Urteil sei definitiv.

Wie die seitherige Praxisänderung der NZZ – u.a. auch beim Bericht vom 14. April 2010 über das Obergerichtsurteil in der gleichen Sache – beweist, lässt sich die Forderung des Presserates nach einem ausdrücklichen Hinweis auf die fehlende Rechtskraft eines Urteils ohne Weiteres in verhältnismässiger Weise erfüllen.

Im Ergebnis ist entsprechend die Beschwerde in Bezug auf den beanstandeten Artikel vom 9. September 2010 zwar gutzuheissen, gleichzeitig aber festzuhalten, dass die seither geänderte Praxis der NZZ den Anforderungen der Richtlinie 7.5 der «Erklärung» genügend Rechnung trägt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hätte im Bericht «Linksaktivist Rozsa verurteilt» vom 9. September 2010 ausdrücklich darauf hinweisen müssen, dass das Urteil nicht rechtskräftig war bzw. weitergezogen werden konnte. Mit dieser Unterlassung hat sie die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Unschuldsvermutung) verletzt.

3. Mit ihrer seitherigen Praxisänderung – Anmerkung mit dem ausdrücklichen Hinweis «Urteil nicht rechtskräftig» – trägt die NZZ der Unschuldsvermutung genügend Rechnung.