Nr. 34/2010
Wahrheit / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen / Menschenwürde

(Fondazione Futura c. «La Regione Ticino»)

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I. Sachverhalt

A. Am 17. September 2009 berichtete «La Regione Ticino» (Titel: «L’ombra di Scientology sui bus TPL») unter Berufung auf einen zuvor in der Satirezeitschrift «Il Diavolo» erschienenen Artikel, die auf einem Bus der städtischen Verkehrsbetriebe Lugano zu sehende Werbung «Dico No alla droga, dico Sì alla vita» sei eine Kopie des Antidrogenprojekts der umstrittenen «Kirche». Die Verantwortlichen der hinter der aktuellen Kampagne stehenden Fondazione Futura verneinten allerdings, ein Zweig von Scientology zu sein.

Der Vizepräsident der Stiftung, Andrea Bernasconi, wird im Bericht wie folgt zitiert: «‹La nostra Fondazione è laica e non legata a Scientology. Sapevo che questa stessa campagna era stata utilizzato da loro.› Questo non creava problemi? ‹No. Applico il principio taoista secondo dui l’uso della consapevolezza senza preconcetti equivale a saggezza.›»

An ihrer Medienkonferenz vom 9. September 2009 habe die Stiftung zudem angekündigt, sie werde Ende September die Informationsbroschüre «La verità sulla droga» an die Bibliotheken der Tessiner Schulen aller Stufen verteilen. Vorerst scheine es sich hier allerdings erst um eine Absichtserklärung zu handeln. Bei den zuständigen Schulbehörden sei bisher kein entsprechendes Gesuch eingegangen.

B. Tags darauf berichtete «La Regione» unter dem Titel «Sponsor subliminale sul bus. C’è chi dice no e chi nasconde la verità», die städtischen Verkehrsbetriebe von Lugano hätten auf den Artikel vom Vortag mit einer Medienmitteilung reagiert. Laut der TPL könne die Werbung «Dico No alla droga, dico Sì alla vita» problemlos auf dem Bus bleiben, da es keinerlei Verbindung zwischen Sponsor und Scientology gebe. Eine solche habe «La Regione» aber auch nicht behauptet. Wäre es aber nicht besser gewesen, an der Pressekonferenz vom 9. September mit offenen Karten zu spielen und darauf hinzuweisen, dass das gleiche Material auch von Scientology benutzt wurde? Gemäss der Online-Zeitung Ticinolibero.ch sei Andrea Bernasconi auch Präsident der «Associazione per un’Applicazione Pratica dello Studio», die nach Methoden des Scientology-Begründers Ron L. Hubbard arbeite. Es gebe noch mehr, doch «La Regione» sei vorsichtig genug gewesen, nicht zu behaupten, Fondazione Futura sei eine Tochter von Scientology. Nach und nach bereue man dies aber schon fast.

C. Am nächsten Tag (19. September 2009) zog «La Regione» die Geschichte erneut weiter («Fondazione Futura, pagliuzze e travi»). Luciano Vaccani, Sekretär der Fondazione Futura, habe bis Ende 1998 die «Missione di Lugano» von Scientology geleitet. Die Zeitung verwies zudem noch einmal auf das Dementi von Andrea Bernasconi, wonach keinerlei Verbindung zwischen der Fondazione Futura und Scientology bestehe. Dessenungeachtet bestünden bei zwei von drei im Handelsregistereintrag für die Stiftung eingetragenen Personen unbestreitbar Beziehungen zur umstrittenen «Kirche». Komplizierter sei es beim Dritten im Bunde, dem Stiftungspräsidenten Vincenzo Tirella. Gemäss mehreren im Bericht nicht genannten Quellen sei auch er mit der «Kirche» verbunden. Der Dame, welche das Telefon der Scientology-Kirche Mailand abnehme, sei er jedenfalls vom Sehen bekannt. Auch Tirella bestreite allerdings jegliche Verbindungen zwischen Fondazione Futura und Scientologykirche.

D. Am 21., 25. und 30. September 2009 veröffentlichte «La Regione» drei weitere Berichte zum Thema Scientology und Fondazione Futura («L’anima ‹scientologist› di Futura»; «Saune stremanti per diventare clear»; «Trame Scientology. L’Espresso ne parla»).

E. Am 13. und 19. November 2009 gelangte die anwaltlich vertretene Fondazione Futura mit einer Beschwerde gegen die obengenannte Berichterstattung von «La Regione» an den Presserat. Die Zeitung habe mit ihrer einseitigen Kampagne die Ziffern 1 (Wahrheitssuche), 3 (Unterschlagung von Informationen; Anhörung bei schweren Vorwürfen), 4 (Interview), 7 (Unterlassung anonymer und sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) sowie 8 (Respektierung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

«La Regione» habe nicht wirklich recherchiert, sondern in erster Linie Textpassagen aus dem Internet und von italienischen Medien kopiert. Beim Interview mit Andrea Bernasconi habe der Journalist diesen mit Fragen bombardiert, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Standpunkt auszudrücken. Einzig der Artikel vom 19. September 2009 enthalte ein Statement von Herrn Bernasconi, wonach dieser schwöre, kein Mitglied von Scientology zu sein.

Zudem erhebe «La Regione» schwere Vorwürfe und sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen gegen Vincenzo Tirella, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, dazu Stellung zu nehmen. Zudem werde seine Menschenwürde sowie seine Glaubensfreiheit verletzt.

F. Am 1. Februar 2010 beantragten Chefredaktor Matteo Caratti und Stefano Pianca namens der Redaktion von «La Regione», die Beschwerde sei abzuweisen. Entgegen der Darstellung der TPL, deren Mehrheitsaktionärin die Stadt Lugano sei, bestehe eben doch eine Verbindung zwischen der Fondazione Futura und Scientology. Die journalistische Recherche von «La Regione», die sich an die berufsethischen Normen gehalten habe, habe diesen durch zahlreiche Dokumente belegten Zusammenhang aufgezeigt. Dies sei offensichtlich im öffentlichen Interesse.

Interessanterweise unterschlage die Beschwerde den Artikel von «La Regione» vom 23. September 2009 («Futuro cercava la legittimazione di Besso pulita»). Danach habe die Fondazione Futura versucht, vom positiven Image von «Besso pulita» in der Bevölkerung zu profitieren und die Organisation angefragt, gemeinsam ein Konzert zu organisieren. «Besso pulita» habe abgesagt, nachdem man entdeckt habe, dass Scientology dahinterstecke. Bereits ein Jahr zuvor sei «Besso pulita» durch die «Associazione dico No alla droga dico Sì alla vita» kontaktiert worden.

Ebenfalls unerwähnt lasse die Beschwerde den Entscheid des Municipio von Lugano (Exekutive), Sponsoringvereinbarungen von Stadtverwaltung und öffentlich-rechtlichen Anstalten künftig strenger zu kontrollieren. Dies zeige auf, dass die TPL ihre ursprüngliche Position habe revidieren müssen und dass «La Regione» ihre Arbeit gut gemacht habe.

G. Am 5. Februar 2010 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

H. Mit Schreiben vom 22. Februar 2010 beantragte die Beschwerdeführerin die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels.

I. Am 9. März 2010 wies der Presserat dieses Begehren ab. Angesichts der stark abweichenden Darstellung des Sachverhalts durch die Parteien sei durch einen zweiten Schriftenwechsel kaum eine weitere Klärung zu erwarten. Zumal es nicht Aufgabe des Presserats sei, im Rahmen eines Beweisverfahrens die «Wahrheit» zu ergründen. Zudem wies er darauf hin, dass aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» keine Pflicht zu «objektiver Berichterstattung» abgeleitet werden kann. Vielmehr seien auch einseitige, parteiergreifende Berichte mit der «Erklärung» vereinbar.

J. Am 25. März 2010 beantragte die Fondazione Futura gestützt auf Art. 13 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserats den Ausstand von Vizepräsident Edy Salmina. Zur Begründung führt sie an, auch die Radiotelevisione svizzera di lingua italiana, deren Chefredaktor Edy Salmina sei, habe negativ über die Aktivitäten der Fondazione Futura berichtet, so beispielsweise die Sendungen «Il Quotidiano» vom 17. September 2009 und «Storie» vom 17. Januar 2010.

K. Mit Entscheid vom 2. Juli 2010 wies Presseratspräsident Dominique von Burg das Ablehnungsbegehren vom 25. März 2010 gegen Vizepräsident Edy Salmina ab.

Dies zum einen aus formellen Gründen. Gemäss Art. 13 des Geschäftsreglements sind Ablehnungsgesuche innert 10 Tagen nach Erhalt der Mitteilung des Presseratssekretariats vorzubringen. Zwar hat die Beschwerdeführerin in ihrem Schreiben vom 22. Februar 2010 darum ersucht, diese Frist bis zum Abschluss des von ihr beantragten zweiten Schriftenwechsels zu verlängern. Zu diesem Zeitpunkt war aber die 10-Tage-Frist bereits abgelaufen. Ebenso wartete die Beschwerdeführerin auch nach Erhalt des Schreibens des Presserates vom 9. März 2010 mehr als 10 Tage zu, bis sie dann schliesslich ihr Ablehnungsgesuch stellte.

Materiell kommt hinzu, dass Edy Salmina an keiner der beiden Sendungen unmittelbar beteiligt war. «Il Quotidiano» vom 17. September 2009 berichtete in sachlicher Weise, der Slogan «Dico No alla droga, dico Sì alla vita» auf einem Autobus der Stadt Lugano gebe «zu reden». Zu Wort kommen im Beitrag Andrea Bernasconi, Vizepräsident der Fondazione Futura, der Präsident der TPL sowie eine Religionsexpertin. Schliesslich strahlte die Sendung «Storie» am 17. Januar 2010 nicht einen Beitrag über die Fondazione Futura und die umstrittene Werbekampagne aus, sondern den Dokumentarfilm «Il misterio scientology» der belgischen Journalistin Safia Kessas, der sich in allgemeiner Weise mit dem Thema Scientology befasst. Im Übrigen fällt die Sendung «Storie» nicht unter die Verantwortung der Abteilung Information der Radiotelevisione Svizzera Italiana, die von Edy Salmina geleitet wird.

L. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. August 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Wie bereits im Schreiben vom 9. März 2010 an die Beschwerdeführerin ausgeführt, leitet der Presserat gemäss seiner ständigen Praxis aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver» Berichterstattung ab (vgl. hierzu zuletzt die Stellungnahmen 3 und 13/2010 sowie 10, 52 und 54/2009). Danach ist auch eine einseitige, parteiergreifende Berichterstattung berufsethisch zulässig. Zudem ist es nicht Aufgabe des Presserates, bei stark abweichender Darstellung eines Sachverhaltes durch die Parteien zu ergründen, welche Version der Wahrheit entspricht (Stellungnahmen 61/2009 und 23/2010).

b) Vorliegend ist es deshalb nicht Sache des Presserates, zu beurteilen, ob eine Verbindung zwischen der Fondazione Futura und Scientology besteht und wie eng eine solche gegebenenfalls ist. Gestützt auf die dem Presserat von «La Regione» eingereichten Dokumente ist es unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitspflicht jedenfalls nicht zu beanstanden, dass die Zeitung den möglichen Bezug aufgriff. Zumal klar war, dass angesichts der nicht von der Hand zu weisenden Beziehungen von Repräsentanten der Stiftung zu den Lehren von Ron Hubbard und der Tatsache, dass der Slogan «Dico No alla droga, dico Sì alla vita» ursprünglich aus der Küche von Scientology stammt, im Kontext einer Werbung auf einem Autobus der städtischen Verkehrsbetriebe in der Öffentlichkeit zu Diskussionen führen würde.

Dabei hat «La Regione» sowohl Vertreter der Beschwerdeführerin als auch des TPL kontaktiert und mit den wesentlichen Fragen konfrontiert und insofern der Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung») im berufsethisch geforderten Mindestumfang Genüge getan.

2. Ebenso wenig wie eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» ist für den Presserat eine solche von Ziffer 3 (Unterschlagung von Informationen, Anhörung bei schweren Vorwürfen) erstellt. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin druckte die Zeitung bereits im Bericht vom 17. September 2009 das Dementi von Andrea Bernasconi ab, wonach keinerlei Verbindungen zwischen der Stiftung und Scientology bestünden. Ebenso prominent steht dieser Standpunkt – diesmal als Zitat aus einer Medienmitteilung der TPL – am Anfang des Artikels vom 18. September 2009. Und schliesslich wiederholt der Bericht vom 19. September 2009 die Stellungnahme von Andrea Bernasconi, wonach die Stiftung nichts mit Scientology zu tun habe. Zudem zitiert dieser Artikel die praktisch gleichlautende Aussage aus einer Medienmitteilung von Stiftungsratspräsident Vincenzo Tirella.

Für die Leserschaft wird somit bei diesen drei Berichten, die den Hauptgegenstand der Beschwerde bilden, ohne Weiteres klar, dass die Fondazione Futura jegliche Verbindung zu Scientology bestreitet. Mithin ist die Anhörung der Betroffenen zum Hauptvorwurf der Berichte gewährleistet, auch wenn sich «La Regione» bei Vincenzo Tirella auf ein Zitat aus einer Medienmitteilung vom Vorabend beschränkte. In Bezug auf den Vorwurf der Unterschlagung von wichtigen Informationen führt die Beschwerde keinerlei zusätzliche Informationselemente an, die für das Verständnis der Leserschaft unabdingbar gewesen und in den beanstandeten Berichten unterschlagen worden sein sollen.

3. Soweit die Beschwerde darüber hinaus eine Verletzung der Ziffern 4 (Richtlinie 4.5 – Interview), 7 (Respektierung der Privatsphäre) sowie 8 (Respektierung der Menschenwürde) rügt, verkennt die Fondazione Futura die Tragweite dieser Bestimmungen.

Aus den Unterlagen ist für den Presserat nicht ersichtlich, dass zwischen den Parteien ein gestaltetes Interview (im Sinne einer gezielten Befragung mit einer festgelegten Abfolge von Fragen und Antworten) im Sinne der Richtlinie 4.5 zur «Erklärung» vereinbart worden wäre. Zudem führt die Beschwerde nicht näher aus, inwiefern Äusserungen von Stiftungsvertretern durch «La Regione» entstellt worden sein sollen.

In Bezug auf die Verletzung der Privatsphäre beanstandet die Beschwerde einzig, dass «La Regione» schreibt, Stiftungsratspräsident Tirella fahre einen Lamborghini. Selbst wenn man sich fragen kann, ob dies notwendig war, wäre es nach Auffassung des Presserats jedenfalls unverhältnismässig, daraus eine Verletzung der Privatsphäre abzuleiten. Und allein die Erwähnung des Umstands, dass laut im Artikel nicht genannten Quellen auch Vincenzo Tirella Beziehungen zur Scientologykirche pflege, verletzt offensichtlich weder die Menschenwürde noch die Glaubensfreiheit des Betroffenen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «La Regione» hat mit der Veröffentlichung der Berichte vom 17. September 2009 («L’ombra di Scientology sui bus TPL), 18. September 2010 («Sponsor subliminale sul bus. C’è chi dice no e chi nasconde la verità», 19. September 2009 («Fondazione Futura, pagliuzze e travi»), 21. («L’anima ‹scientologist› di Futura»), 25. («Saune stremanti per diventare clear») und 30. September 2009 («Trame Scientology. L’Espresso ne parla») die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung von Informationen; Anhörung bei schweren Vorwürfen), 4 (Interview), 7 (Unterlassung anonymer und sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.