Zusammenfassung
Foto toter Kinder wahrte Würde
Privatsphäre und Menschenwürde lassen sich auch beim Foto eines trauernden Vaters mit seinen zwei toten Kindern wahren. Dies, solange das Bild als Dokument der Zeitgeschichte gelten kann, es respektvoll ist und die Menschen nicht zu Objekten degradiert.
Der Schweizer Presserat hat in diesem Sinn eine Beschwerde gegen «blick.ch» abgewiesen. Die Online-Zeitung hatte ein Foto über die Folgen eines Giftgasangriffs in Syrien abgebildet. Es zeigt einen trauernden Vater, der seine toten Zwillinge in den Armen hält.
Die Beschwerdeführerin hatte geltend gemacht, das Foto – auf dem alle erkennbar und von nahe abgebildet sind – verletze die Privatsphäre der Abgebildeten und die Totenwürde der Kinder.
Der Presserat kam zum Schluss, dass dieses Foto aussagekräftig ist und die menschliche Tragödie des Krieges in Syrien und die schrecklichen Folgen eines Giftgasangriffs mit Sensibilität zeige. Das öffentliche Interesse an einer Publikation ist hier der Privatsphäre der Abgebildeten überzuordnen. Dies umso mehr, als der Vater offensichtlich damit einverstanden war, fotografiert zu werden.
Résumé
Photo d’enfants décédés – dignité préservée
L’intimité et la dignité humaine peuvent être préservées malgré la publication d’une photo d’un père avec ses deux enfants morts. Cela tant que l’image peut être considérée comme un document de l’histoire contemporaine, qu’elle est respectueuse et qu’elle ne dégrade pas les personnes concernées.
Le Conseil suisse de la presse a donc rejeté une plainte contre «blick.ch». Le journal en ligne avait publié une photo après une attaque au gaz toxique en Syrie. Elle montre un père en deuil tenant ses jumeaux morts dans ses bras.
La plaignante avait soutenu que la photographie – dans laquelle tout le monde était reconnaissable et représenté de près – portait atteinte à la vie privée des personnes représentées et à la dignité des enfants défunts.
Le Conseil de la presse a conclu que cette photo illustrait la tragédie humaine de la guerre en Syrie et les terribles conséquences d’une attaque au gaz toxique sensible. Ici, l’intérêt public d’une publication doit être placé au-dessus de la sphère privée des personnes représentées. Ne serait-ce que parce que le père était visiblement d’accord avec la prise de cette image.
Riassunto
La foto di guerra del «Blick» rispettava la dignità umana
Il dovere di rispetto della sfera privata e della dignità umana era osservato nel caso della foto pubblicata da «blick.ch» in cui si vede un padre disperato che piange con i proprio bimbi uccisi in braccio? Sì, risponde il Consiglio della stampa, perché la foto è un documento storico e non degrada a oggetto le persone che ritrae. È di conseguenza ha respinto un reclamo presentato contro il giornale.
Nel reclamo si rilevava che il primo piano della scena – ripresa durante un attacco con armi chimiche durante la guerra di Siria – violava la sfera privata del padre e mancava di rispetto alle due piccole vittime. Il Consiglio della stampa sottolinea invece l’adeguatezza della scena a ritrarre l’orrore della guerra. Il valore di documento di interesse pubblico è più importante, nel caso, delle ragioni di riservatezza sostenute dal reclamo.
I. Sachverhalt
A. Am 6. April 2017 veröffentlichte «Blick.ch» auf seiner Frontseite ein Bild über einen Giftgasangriff in Syrien. Es zeigt einen Vater mit zwei bleichen, schlafend aussehenden Kindern in seinen Armen. Die Überschrift lautet: «Giftgas-Horror in Syrien. Vater trauert um seine beiden Zwillinge». Sowohl der Mann als auch die beiden Kinder sind gut identifizierbar. Am folgenden Tag publizierte «Blick.ch» einen weiteren Beitrag dazu, in dem die Namen des Vaters und seiner Kinder genannt wurden.
B. Am 7. April 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die Veröffentlichung dieses Bildes ein. Sie macht geltend, dieses Bild verletze nicht nur die Privatsphäre und die Würde des abgebildeten Vaters in seinem Schmerz, sondern auch die Totenwürde der abgebildeten Opfer, die noch dazu kleine Kinder sind. X. schreibt, mit der Fokussierung auf die Gesichter der drei Personen, davon die beiden Gesichter der erkennbar toten Kinder und auch mit der Namensnennung der Opfer habe «Blick.ch» gleich zweimal deutlich gegen journalistisch-ethische Grundsätze verstossen.
C. In seiner Beschwerdeantwort vom 19. Juni 2017 beantragt die anwaltlich vertretene Redaktion von «Blick.ch», die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werde. «Blick.ch» macht vorab geltend, die Beschwerde sei unvollständig. Die als verletzt geltend gemachten Richtlinien würden nicht ausdrücklich genannt. Zudem liege der zweite Bericht vom Folgetag (mit den Namen der Opfer) nicht in den Akten des vorliegenden Verfahrens. Insoweit werde bestritten, dass diese Rüge überhaupt berechtigt sei. Die einzig beanstandete, und einzig belegte, Publikation des Bildes vom Vater mit seinen beiden toten Kindern im Arm verletze weder dessen Privatsphäre noch die der (toten) Kinder. Abgesehen davon, dass auch tote Kinder in Syrien nach schweizerischer Rechtsauffassung keine Persönlichkeitsrechte mehr haben, entscheide sich der Fall einzig in Anwendung von Richtlinie 7.8 und 8.3. Die Ziffern 7 und 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») erschienen uneinschlägig und seien nicht ausdrücklich angerufen. Der Vater sei mit der Abbildung der toten Kinder und seiner eigenen Trauer einverstanden gewesen: Anders könne man das publizierte Bild nicht verstehen. Hätte er kein Bild gewollt, hätte er – vermutlich – die toten Kinder nicht so gehalten, wie er sie hält, und hätte zweitens vermutlich ihre Gesichter abgedeckt. Zudem hätte die – im Bildhintergrund teilweise erkennbare, aufgrund der Empirie als sehr zahlreich vorhanden anzunehmende Trauergemeinde – die Fotografie verhindert, wäre sie unerwünscht gewesen. Es sei davon auszugehen, dass dieses Bild auch seitens des Vaters – und der Trauergemeinde – ausdrücklich zugelassen wurde und in der Absicht, durch weltweite Verbreitung auf die Realität des syrischen Bürgerkriegs hinzuweisen.
Das Bild zeige zweifellos Opfer kriegerischer Ereignisse, genauer Opfer eines Kriegsverbrechens (Giftgaseinsatz). Solches zu zeigen sei auch und gerade in Anwendung von Richtlinie 7.8 nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr zulässig. Auszugehen sei vom Willen des Vaters der Kinder, dass er und seine beiden toten Kinder so gezeigt würden. Deshalb liege auch keine Verletzung einer geschützten Privatsphäre vor – weder der des Vaters noch der verstorbenen Kinder. Richtlinie 7.8 verlange nicht mehr als besondere Zurückhaltung, und Richtlinie 8.3 schütze die Totenruhe. Beides selbstverständlich nicht absolut, sondern immer nur in Relation zu dem, worum es gehe und was man sehe. Hier sehe man zwei Kinder, die für den Betrachter zunächst als schlafend erscheinen; dass sie tot seien, sei eine mögliche, aber keine zwingende Interpretation. Dass sie tot sind, stelle selbstverständlich der Artikelinhalt klar (der nicht Beschwerdegegenstand sei). Entscheidend sei dabei die Art ihres Todes: kein Unfall, kein – gewöhnliches – Gewaltverbrechen, keine Krankheit, sondern ein Kriegsverbrechen, nämlich Giftgas. Giftgas könne man nicht abbilden, aber seine Wirkungen bzw. Folgen zeigen. Der informierte Zeitgenosse kenne entsprechende Bilder aus dem Ersten Weltkrieg, die weit schockierender seien als das hier in Frage stehend Bild. Diese strahle, so pervers das erscheinen möge, eine gewisse Friedlichkeit aus, was dem Umstand geschuldet sei, dass die zwei kleinen Kinder in den Armen ihres Vaters zu schlafen scheinen. Gerade dieser Gegensatz zwischen der tatsächlichen, historischen Realität und dem vordergründigen, ersten Eindruck vom Bild mache dessen besondere Stärke aus: Es stosse gerade nicht ab, es schockiere den Betrachter nicht, es zeige nicht direkt das Leid und das Leiden. Es wahre insoweit in hohem Mass sowohl die Würde der Beteiligten wie der Zuschauer.
Da die Berichterstattung über den Bürgerkrieg in Syrien, insbesondere die dort begangenen Kriegsverbrechen, von einem absolut überwiegenden, schützenswerten und geradezu definitorischen Informationsinteresse getragen sei, wozu auch gehöre, nicht nur in Worten, sondern gerade auch in Bildern das zu zeigen, was dort vor sich gehe und die Weltöffentlichkeit beschäftige und aufwühle, träten die behaupteten, und zudem mit nichts belegten «privaten» Interessen der abgebildeten Personen hinter das vorgenannte Informationsinteresse zurück. Der Presserat sei eingeladen, die Beschwerde abzuweisen und sich an das zu halten, was er in seinen – insoweit einschlägigen – Stellungnahmen 35/2016 und 15/2005 ausgeführt habe.
D. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde der 1. Kammer zu. Ihr gehören die Präsidentin Francesca Snider und die Mitglieder Dennis Bühler, Michael Herzka, Klaus Lange, Francesca Luvini, Casper Selg und David Spinnler an. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihren Sitzungen vom 2. Oktober 2017 und 29. Januar 2018 und beantragte dem Präsidium in der Folge, diese dem Plenum zum Entscheid vorzulegen. Das Plenum behandelte diese an seiner Sitzung vom 24. Mai 2018 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Blick.ch» stellt sich auf den Standpunkt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, da sie unvollständig sei und die verletzten Bestimmungen der «Erklärung» nicht ausdrücklich angebe. Art. 9 des Geschäftsreglements des Presserats verlangt in Bezug auf die Begründung von Beschwerden, dass diese den massgeblichen Sachverhalt umreissen und ausführen sollen, inwiefern der beanstandete Medienbericht einzelne Bestimmungen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Beschwerdeführerin X. nennt die Bestimmungen der «Erklärung» nicht explizit, welche das Foto ihrer Meinung nach verletzt. Es ist aus ihrer Begründung jedoch klar ersichtlich, welche Ziffern der «Erklärung» gemeint sind: Privatsphäre (Ziffer 7) und Menschenwürde (Ziffer 8). Damit erfüllt sie die Anforderungen, die an eine Begründungspflicht zu stellen sind. Diese sind nicht allzu hoch anzusetzen, handelt es sich bei der Beschwerde an den Presserat doch um eine sogenannte «Jedermannsbeschwerde», die allen offensteht und deren niederschwelliger Zugang gewahrt werden soll. Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht worden. Auf sie ist also einzutreten.
2. Ziffer 7 der «Erklärung» verlangt von Journalisten und Journalistinnen, dass sie die Privatsphäre der einzelnen Personen respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte) präzisiert, dass sich Journalisten besonders zurückhaltend gegenüber Personen zeigen, «die sich in einer Notlage befinden oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Dies gilt auch gegenüber den Familien und Angehörigen der Betroffenen. (…) Bilder von Kriegen, Konflikten, Terrorakten und weiteren Notlagen dokumentieren historische Momente. Das öffentliche Interesse an ihrer Publikation muss jedoch abgewogen werden gegen die Gefahr, die Privatsphäre der abgebildeten Person und/oder die Sensibilität der Betrachter zu verletzen sowie gegen das Recht auf Totenruhe der Abgebildeten. Journalistinnen und Journalisten dürfen Bilder, auf denen Verstorbene herausgehoben sind – es sei denn das öffentliche Interesse überwiege – nur dann publizieren, wenn die Angehörigen die Bilder explizit freigeben. Dies gilt auch, wenn solche Bilder etwa bei Trauerfeiern oder Gedenkanlässen öffentlich zugänglich sind.»
Das Bild der zwei toten Kinder in den Armen ihres Vaters zeigt der Öffentlichkeit die menschliche Tragödie des Krieges in Syrien und die schrecklichen Folgen eines Giftgasangriffs. Der abgebildete Vater und seine zwei Kinder sind klar identifizierbar. Dennoch sieht der Presserat Ziffer 7 der «Erklärung» nicht als verletzt an. Der Presserat ist klar der Meinung, dass hier das öffentliche Interesse an einer Publikation der Privatsphäre überzuordnen ist. Dies aus folgenden Gründen: Das Bild ist ein Dokument der Zeitgeschichte, es hat einen hohen Informationswert. Zudem verfügt es über eine grosse Aussagekraft, es zeigt den Betrachtenden auf einen Blick, was Worte nicht könnten: den Schrecken, das Leid, den Schmerz, die Trauer, die Gewalt, die Grausamkeit und die Wut.
Richtlinie 7.8 äussert sich explizit zur Frage, wann Bilder, auf denen Verstorbene herausgehoben sind, publiziert werden dürfen: wenn das öffentliche Interesse überwiegt, was, wie oben dargestellt, hier der Fall ist. Andernfalls gälte die Regel, dass die Angehörigen die Bilder explizit freigeben müssten. Von einer solchen Einwilligung zur Publikation dürfte im vorliegenden Fall mutmasslich auszugehen sein. Zum einen, weil das Zustandekommen des Bilds darauf schliessen lässt: Das Foto ist ein Auszug aus einem Video-Beitrag von SRF. Der Vater hatte sich darin bis zum Begräbnis begleiten und interviewen lassen. Im Video selbst waren die Gesichter der kleinen Kinder verpixelt worden (letzteres ist für die Beurteilung des fraglichen Fotos irrelevant). Zum anderen werden u.a. im Nahen Osten die Toten traditionell gezeigt. Hinzu kommt, dass der Vater seine Kinder vor die Fernsehkamera hält, als wolle er als Opfer zeigen, welches Unrecht geschehen ist. Der ikonische Charakter des Fotos spricht für sich – er wäre mit einer Verpixelung verloren gegangen. Überwiegt aber das öffentliche Interesse an einer Publikation dieses Fotos, durfte es auch in dieser Form veröffentlicht werden.
3. Ziffer 8 der «Erklärung» verpflichtet Journalisten, die Menschenwürde zu respektieren. Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden. Richtlinie 8.1 und 8.3 fordern, dass sich die Informationstätigkeit an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren hat. Sie ist ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen. Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Richtlinie 8.4 verlangt, dass Fotografien über Kriege und Konflikte vor der Publikation darauf hin überprüft werden sollten, ob es sich wirklich um ein einmaliges Dokument der Zeitgeschichte handelt, ob die abgebildeten Personen als Individuen identifizierbar sind und ob ihre Menschenwürde durch die Publikation verletzt ist.
In seiner Stellungnahme 67/2013 hatte der Presserat zur Publikation von Bildern verstorbener Mursi-Anhänger in Ägypten festgehalten, dass es kein absolutes Tabu ist, Bilder von Toten zu veröffentlichen, dass aber die Interessen sorgfältig abzuwägen seien und die Verstorbenen nicht herausgehoben werden sollten. Im vorliegenden Fall zeigt das Bild Opfer eines Kriegs; ein Vater hält seine beide Zwillinge in den Armen, er schaut sie mit Liebe und zugleich Schmerz an, man sieht nicht auf den ersten Blick, dass die beiden Kinder tot sind. Sie werden tatsächlich aus der Nähe abgebildet, trotzdem wirkt dies nicht als ein degradierendes Herausheben, im Gegenteil: Das Foto als Ganzes bewahrt einen friedlichen und ikonischen Charakter. Das Bild strahlt Sensibilität aus und ist respektvoll. Die Menschen, auch wenn von Nahem abgebildet, werden nicht zu Objekten degradiert. Es handelt sich hier um kein sensationelles Foto, sondern um ein Dokument der Zeitgeschichte, das der Öffentlichkeit zeigen kann, was ein Giftgasangriff für Zivilpersonen und Familien für Folgen hat. Die Fotografie beachtet die Vorgaben der einschlägigen Richtlinien 8.1, 8.3 und 8.4. Ihre Veröffentlichung verletzt daher die Menschenwürde von Vater, Kindern und Angehörigen nicht.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. «Blick Online» hat mit der Veröffentlichung des Bildes zweier toter Kinder nach einem Giftgasangriff in Syrien die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.
Nach Auffassung des Presserats hat die Redaktion sorgfältig zwischen dem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung über den grausamen Konflikt und der Achtung der Privatsphäre und Menschenwürde der Abgebildeten abgewogen.