Nr. 27/2025
Wahrheit / Quellenbearbeitung

(X. c. «CH Media»)

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Zusammenfassung

Die Zeitungen von «CH Media» veröffentlichten ein ausführliches Interview mit dem Klimaforscher Reto Knutti über Fragen von Extremwetterlagen, Klimaveränderung, darüber, ob hier Zusammenhänge bestünden und was sinnvollerweise vorzukehren sei. In einer Beschwerde wurde beanstandet, dass der Klimaforscher eine ganze Reihe von falschen oder unbelegten Behauptungen geäussert habe. Der Beschwerdeführer verlangte, dass diverse Passagen auf ihre Wissenschaftlichkeit überprüft und eventuell als Verstösse gegen die Wahrheitspflicht oder den Umgang mit Quellen zu rügen seien.
Der Presserat trat auf die Beschwerde nicht ein, insbesondere weil er wissenschaftliche Streitfragen weder beurteilen kann noch darf.
Der Rat nahm im Zusammenhang mit dem Thema «Interview» aber eine Klärung vor:
Das Interview lebt von der Abbildung pointierter persönlicher Standpunkte. Diese müssen möglich sein und bleiben. Der Presserat hält fest: «Die Abbildung verschiedener Meinungen, verschiedener Sichtweisen und verschiedener Interpretationen von Fakten ist notwendiger Teil der demokratischen Meinungsbildung. Aber wenn völlig unerwartete, heikle, ehr- respektive persönlichkeitsverletzende oder sehr umstrittene beziehungsweise offenkundig falsche Aussagen gemacht werden, muss aus der – ohnehin jederzeit erforderlichen – journalistischen Distanz nachgefragt werden, etwa auch nach allfälligen Quellen.»

Résumé

Les journaux du groupe «CH Media» ont publié un entretien détaillé avec le climatologue Reto Knutti. Il y était question des événements climatologiques extrêmes, du changement climatique, du lien possible entre eux, et de ce qu’il serait judicieux d’entreprendre. Le Conseil suisse de la presse a été saisi d’une plainte, l’auteur de celle-ci considérant que le climatologue avait fait une série de déclarations fausses et non étayées. Le plaignant a exigé que le Conseil suisse de la presse vérifie la véracité scientifique de divers passages de l’interview et qu’il constate le cas échéant un comportement contraire à la recherche de la vérité et des insuffisances au niveau du traitement des sources.
Le Conseil suisse de la presse n’est pas entré en matière sur la plainte, du fait notamment qu’il n’a pas la compétence pour se prononcer sur les débats scientifiques et qu’il n’en a pas le droit.
Il a néanmoins voulu clarifier quelques questions en lien avec les interviews.
Une interview relate des points de vue personnels tranchés. Cela doit être et rester ainsi. Le Conseil suisse de la presse rappelle que la présentation d’opinions contraires, de points de vue différents et d’interprétations divergentes des faits est essentielle à la formation de l’opinion dans une démocratie. Les journalistes doivent néanmoins, comme ils le font en tout temps, conserver la distance nécessaire et demander des sources lorsque les déclarations faites sont pleinement inattendues, sensibles ou diffamatoires, qu’elles constituent une atteinte à la personnalité, qu’elles sont très controversées ou qu’elles sont notoirement fausses.

Riassunto

I giornali di «CH Media» hanno pubblicato un’intervista approfondita con il climatologo Reto Knutti, su questioni relative alle condizioni meteorologiche estreme, ai cambiamenti climatici, all’esistenza di eventuali connessioni tra i due fenomeni e alle misure più opportune da adottare al riguardo. In un reclamo è stato contestato che il climatologo avrebbe espresso una serie di affermazioni false e infondate. Il reclamante ha chiesto che la validità scientifica di diversi passaggi fosse verificata ed eventualmente contestata come violazione dell’obbligo di ricerca della verità e del corretto uso delle fonti.
Il Consiglio della stampa non ha dato seguito al reclamo, in particolare perché non può né deve esprimersi su controversie scientifiche.
Il Consiglio ha tuttavia fornito un chiarimento in merito al tema «intervista»:
L’intervista si basa sulla rappresentazione di punti di vista personali e ben definiti, che devono poter essere espressi e restare tali. Il Consiglio della stampa afferma: «La rappresentazione di opinioni, punti di vista e interpretazioni differenti dei fatti, è una componente necessaria della formazione dell’opinione democratica. Tuttavia, quando vengono rilasciate dichiarazioni del tutto inaspettate, delicate, diffamatorie, lesive della reputazione o molto controverse, oppure palesemente false, è necessario —con il sempre indispensabile distacco giornalistico— indagare anche sulle eventuali fonti utilizzate.

 

I. Sachverhalt

A. Am 12. Juli 2024 veröffentlichten die Zeitungen von «CH Media» ein ausführliches Interview (eine Zeitungsseite) von Sabine Kuster mit dem Klimawissenschafter Reto Knutti. Der Titel lautete «Mit Weltrettung überzeugen wir die Leute nicht». Untertitel: «Wir schauen gerne auf unseren eigenen kurzfristigen Nutzen und nicht auf die langfristigen Folgen fürs Klima. Daran ändern auch Unwetter nichts. Klimawissenschafter Reto Knutti ist überzeugt: Man muss die Leute mit guten Lösungen überzeugen. Diese wären griffbereit – eigentlich».

Im Interview stellt die Autorin 19 Fragen, etwa ob die zu jener Zeit (Juni/Juli 2024) sehr schweren Gewitter mit ihren grossen Schäden Folgen des Klimawandels sein könnten. Knutti antwortet, Klimawandel sei «offensichtlich einer der Treiber» dieser Entwicklung. Auf die Frage, ob er als Bürgermeister eher – kurzfristig – in Schutzverbauungen investieren würde oder – mit langfristiger Wirkung – in Solarpanels, antwortet der Klimaforscher: Man dürfe das nicht gegeneinander ausspielen, beides sei gleichermassen wichtig. Das Interview dreht sich weiter um Fragen wie: Ob es sich lohne, etwa mit Solarpanels in Klimaschutz zu investieren, weshalb so wenige SchweizerInnen auf E-Autos umstiegen, obwohl das Volk das Stromgesetz angenommen habe oder ob es überhaupt nütze, wenn die kleine Schweiz dem Rest der Welt zeigen wolle, wie sie die Energiewende schaffe und welche Rolle die Schweiz in diesem Kontext vernünftigerweise spielen könne.

B. Am 21. Juli 2024 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, das Interview verletze die Ziffern 1 (Wahrheit) und eventuell 3 (Umgang mit Quellen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

In seiner Begründung fordert der Beschwerdeführer, selber Journalist, einleitend: «Folgende Passagen des Interviews müssen auf ihre wissenschaftliche Korrektheit abgeklärt werden, weil sie eventuell gegen die Ziffer 1 oder 3 verstossen.»

Ebenso schickt er voraus, dass die Journalistin mit ihren Fragen mehrere «krass unwissenschaftliche Aussagen des (…) Wissenschafters provoziere» und diese kaum reflektiere, sie frage vor allem nicht nach den wissenschaftlichen Belegen.

Im Einzelnen kritisiert der Beschwerdeführer im Wesentlichen:

  • Es gebe keine Beweise dafür, dass – wie Knutti behaupte – der Klimawandel einer der Treiber «dessen sei, was wir jetzt sehen».
  • Es gebe keine verlässlichen Daten, die es erlauben würden, Massnahmen für die Prävention von Naturgefahren gegen erfolgte, nicht vermiedene Schäden aufzurechnen.
  • Knuttis Hinweis, eine Tonne ausgestossenes CO2 verursache Kosten von mehreren hundert bis tausend Franken, werde durch den IPCC-Bericht von 2014 in Frage gestellt.
  • Zur Umweltverträglichkeit von Elektroautos gebe es unterschiedliche Studien.
  • Knutti habe schon früher Technologien angepriesen, die sich nicht bewährt hätten.
  • Die Welt ändere sich nicht «brutal schnell» wie Knutti behaupte.
  • Klimapolitik lasse sich nicht nur national umsetzen – wie Knutti behaupte –, dafür gebe es keine wissenschaftlichen Beweise.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 2. Dezember 2024 beantragte der Chefredaktor von CH Media, Patrik Müller, «Nichtanhandnahme» der Beschwerde.

Insgesamt gehe es – so CH Media – dem Beschwerdeführer weniger darum, ob die journalistischen Spielregeln eingehalten worden seien, als vielmehr darum, dass er mit der inhaltlichen Position des Interviewpartners nicht einig sei. Dessen Aussagen seien aber wissenschaftlich genügend belegt, sodass kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht vorliege.

Der Chefredaktor von CH Media weist im Einzelnen darauf hin,

  • dass der Klimawandel sich nicht an Einzelereignissen festmachen lasse, sondern am langfristigen Trend. Dieser sei, mit einer Durchschnittstemperatur von 2,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau hinlänglich bewiesen.
  • dass der vom Beschwerdeführer zitierte IPCC-Bericht das Gegenteil dessen belege, was der Beschwerdeführer daraus ableite, nämlich dass es bei Hitzewellen und Starkregen erhöhte Wahrscheinlichkeiten gebe.
  • Die angeblich fehlende Nachfrage der Autorin nach dem Vergleich von Beträgen, die in die Prävention investiert würden und solchen, die bei unterlassener Prävention für die entstehenden Schäden anfielen, sei in der Tat erfolgt.
  • Die Behauptung, E-Autos seien Verbrennungsmotoren unterlegen, sei absurd.
  • Knutti habe nie behauptet, die Katastrophenschäden nähmen zu. Dass dem nicht so sei, sage aber nichts über die Häufigkeit der Katastrophenereignisse (weniger materielle Schäden etwa aufgrund verbesserter Schutzmassnahmen).
  • Die weiteren Punkte enthielten Meinungsäusserungen des Beschwerdeführers (Die Welt habe sich nicht «brutal verändert», Klimapolitik lasse sich nicht nur national umsetzen).

D. Am 24. Juni 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der 1. Kammer behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Luca Allidi, Catherine Boss, Ursin Cadisch, Stefano Guerra, Erik Schönenberger und Casper Selg.

E. Die 1. Kammer des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 10. Juli 2025 und auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

 

II. Erwägungen

 1.  Zum Eintreten:
CH Media beantragt die «Nichtanhandnahme» der Beschwerde. Da die Mediengruppe materiell zur Beschwerde Stellung nimmt, geht der Presserat davon aus, dass sie mit «Nichtanhandnahme» Abweisung der Beschwerde meint.

Von den oben genannten sieben wesentlichen Kritikpunkten des Beschwerdeführers betreffen die ersten fünf wissenschaftliche Streitfragen und zwei sind persönliche Meinungsäusserungen.

Der Presserat verweist an dieser Stelle einmal mehr auf seine konstante Praxis, wonach er wissenschaftliche Streitfragen weder beantworten soll noch kann. Er beurteilt ausschliesslich, ob eine Publikation den Anforderungen der «Erklärung» genügt oder nicht. Auch ist es nicht Aufgabe des Presserats, die journalistische Qualität einer Interviewführung zu beurteilen, solange sie nicht die Bestimmungen der «Erklärung» tangiert. Der Beschwerdeführer geht insofern von einer falschen Einschätzung der Aufgaben des Presserates aus, wenn er verlangt: «Folgende Passagen des Interviews müssen auf ihre wissenschaftliche Korrektheit abgeklärt werden, weil sie eventuell gegen die Ziffer 1 oder 3 verstossen.» Der Presserat kann und soll wissenschaftliche Qualität nicht bewerten. Soweit es zudem um persönliche Meinungsäusserungen eines Klimawissenschaftlers zu seinem Spezialgebiet im weiteren Sinne geht, so werden diese durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt. Der Presserat tritt entsprechend nicht auf die Beschwerde ein.

2. Eine Klarstellung zum Thema Interview:
Das Interview lebt von pointierten persönlichen Standpunkten (vgl. zum Beispiel Stellungnahme 31/2024). Diese müssen möglich sein und bleiben. Die Abbildung verschiedener Standpunkte, verschiedener Meinungen, verschiedener Sichtweisen und verschiedener Interpretationen von Fakten ist notwendiger Teil der demokratischen Meinungsbildung. Aber wenn völlig unerwartete, heikle, ehr- respektive persönlichkeitsverletzende oder sehr umstrittene beziehungsweise offenkundig falsche Aussagen gemacht werden (vgl. Stellungnahme 71/2021), muss aus der – ohnehin jederzeit erforderlichen – journalistischen Distanz nachgefragt werden, etwa auch nach allfälligen Quellen.

 

III. Feststellungen

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.