Nr. 24/2025
Privatsphäre

(X. c. «Solothurner Zeitung/Oltner Tagblatt»)

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I. Sachverhalt

A. Am 20. April 2024 erschien in der «Solothurner Zeitung/Oltner Tagblatt» der Artikel «Ein Richter auf der Anklagebank» von Raphael Karpf. Ein Treuhänder sei als Verwaltungsrat und Geschäftsführer der Papierfabrik Horgen wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung, Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung, Misswirtschaft und Urkundenfälschung erstinstanzlich verurteilt worden. Der Mann, der dagegen rekurriert habe, wird namentlich genannt. Der Artikel schildert detailliert, wie die Firma unter seiner Verantwortung auf Rückstellungen verzichtete, obwohl klar war, dass Ausgaben in Millionenhöhe auf sie zukommen würden: In den 1960er-Jahren hatte sie Papierschlamm in den Zürichsee geleitet, nun musste der Seeboden auf ihre Kosten saniert werden. Der Text erläutert, warum der verurteilte Verwaltungsrat namentlich erwähnt wird: Es handle sich nicht um einen einfachen Solothurner Treuhänder, der Mann sei vielmehr Richter am kantonalen Steuergericht, gewählt vom Kantonsrat. Der Autor stellt die Frage, ob jemand, der selber der Misswirtschaft und Urkundenfälschung angeklagt und erstinstanzlich verurteilt sei, weiterhin über Steuersachen urteilen könne. Der Präsident der Justizkommission bemerkt, es gebe noch kein rechtskräftiges Urteil. Der Artikel endet mit der Information, der Richter sei inzwischen zurückgetreten.

B. Am 3. Juni 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel in der «Solothurner Zeitung/Oltner Tagblatt» ein. Er macht einen Verstoss gegen die Richtlinien 7.2 (Identifizierung) und 7.4 (Unschuldsvermutung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Die Redaktion begründe im Artikel selber die Namensnennung des Beschuldigten mit seiner Tätigkeit als gewählter Steuerrichter. Der Mann sei aber im Kanton weder bekannt noch habe er ein politisches Amt oder eine leitende staatliche Funktion inne, er sei vielmehr nebenamtlicher Laienrichter. Dieses Amt habe weiter keinen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Treuhänder. Weil der Mann zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels bereits von seinem Amt zurückgetreten war, sei das Interesse der Öffentlichkeit noch geringer zu werten.

Weiter werde im Beitrag zwar erwähnt, dass das Verfahren weitergezogen worden sei, eine explizite Erwähnung der Unschuldsvermutung werde aber nicht vorgenommen.

C. Am 6. Februar 2025 nahmen die Chefredaktorin der «Solothurner Zeitung», Eva Berger, und der Autor des Artikels Stellung zur Beschwerde; sie beantragten deren Abweisung. Roland Flury sei ein vom Kantonsrat gewählter Richter des Solothurner Steuergerichts. Eine erstinstanzliche Verurteilung wegen Misswirtschaft und Urkundenfälschung sei zweifelsohne von öffentlichem Interesse und mit einer Richtertätigkeit nicht vereinbar. Die Richtlinie 7.2 (Identifizierung) zur «Erklärung» sehe auch Ausnahmen vor, bei welchen eine Namensnennung bei Gerichtsverhandlungen gerechtfertigt ist: und zwar dann, wenn das Handeln der betreffenden Person nicht mit einem bedeutenden politischen oder staatlichen Amt vereinbar ist. Dass der Richter zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels bereits zurückgetreten war, sei nicht geklärt: Die entsprechende Auskunft sei vom Präsidenten der Justizkommission und nicht von ihm selber gekommen. Eine Anonymisierung hätte den Verdacht zudem auf andere RichterInnen lenken können, womit das gesamte Gremium an Glaubwürdigkeit verloren hätte. Im Text stehe klar, dass das «letzte Wort» noch nicht gesprochen sei und dass das Urteil an die nächste Instanz weitergezogen worden sei – was deutlich impliziere, dass es noch nicht rechtskräftig sei.

D. Am 6. März 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 24. Mai 2025 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Richtlinie 7.2 (Identifizierung) zur «Erklärung» sieht vor, dass Journalistinnen und Journalisten die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig abwägen. Sie haben unter anderem das Recht, den Namen von Betroffenen zu nennen, «sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht». Oder auch «sofern die Namensnennung notwendig ist, um eine für Dritte nachteilige Verwechslung zu vermeiden». Im vorliegenden Fall ist der im Artikel erwähnte Treuhänder ein gewählter Richter des Steuergerichts. Dieses ist zuständig für Rekurse und Beschwerden gegen behördliche Verfügungen in Steuersachen, hat also eine wichtige Funktion im Kanton inne. Die RichterInnen, ob voll- oder nebenamtlich spielt dabei keine Rolle, werden von der Legislative gewählt. Es muss ihnen eine öffentliche und staatlich wichtige Funktion zugeschrieben werden, womit eine der Ausnahmebedingungen von Richtlinie 7.2 erfüllt ist. Weiter ist eine Namensnennung gerechtfertigt, wenn damit eine Verwechslung vermieden wird, die für Dritte nachteilig wäre. Das Solothurner Steuergericht besteht aus fünf vollamtlichen und fünf nebenamtlichen RichterInnen. Das Risiko einer Verwechslung besteht kaum, da weitere Merkmale des beschuldigten Richters erwähnt werden, beispielsweise, dass er Treuhänder ist. Dieses Argument kann im vorliegenden Fall also ausser Acht gelassen werden. Die öffentliche Funktion als Richter reicht für eine Namensnennung aber aus. Richtlinie 7.2 (Identifizierung) ist demnach nicht verletzt.

2. Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) sieht weiter vor, dass JournalistInnen der Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Das bedeutet aber nicht, dass deswegen der Satz «Es gilt die Unschuldsvermutung.» stehen muss. Ein klarer Hinweis, dass eine Person noch nicht rechtskräftig verurteilt worden ist, genügt. Im monierten Artikel steht insgesamt dreimal, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Richtlinie 7.4 ist ebenfalls nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Solothurner Zeitung/Oltner Tagblatt» hat mit dem Beitrag «Ein Richter auf der Anklagebank» vom 20. April 2024 die Ziffer 7 (Identifizierung / Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.