I. Sachverhalt
A. Am 5. März 2024 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» einen Text von Anielle Peterhans mit dem Titel «Man muss thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen». Es handelt sich um ein Interview mit dem Extremismusexperten Dirk Baier. Wenige Tage zuvor hatte ein 15-jähriger Jugendlicher in Zürich mit einem Messer auf einen orthodoxen Juden eingestochen und diesen schwer verletzt. Dirk Baier versucht, die Tat einzuordnen, beispielsweise indem er erläutert, wie Jugendliche mit einer Terrororganisation in Kontakt kommen. Der Titel ist ein Zitat. Dirk Baier sagt im Interview: «Die überwältigende Mehrheit der Muslime teilt die Werte der Schweizer Gesellschaft. Dennoch muss man auch thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen.» Der Satz, dass die Mehrheit der Muslime Schweizer Werte teile, wird auf der rechten Seite des Artikels als Quote hervorgehoben. Die Onlineversion des Interviews, die am Abend zuvor publiziert worden war, führt einen anderen Titel. Er lautet: «Diese Art jugendliche islamistische Gewalt sehen wir zum ersten Mal». Es handelt sich ebenfalls um ein Zitat von Dirk Baier. Ob der Titel online von Anfang an so lautete oder zuerst gleich wie im Print, lässt sich nicht eruieren.
B. Am 24. April 2024 reichte die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel im «Tages-Anzeiger» ein. Die Beschwerdeführerin macht einen Verstoss gegen die Präambel der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Die Schlagzeile verletze den öffentlichen Auftrag und die Verantwortlichkeit von JournalistInnen gegenüber der Gesellschaft. Die Verbreitung pauschaler Vorurteile und Stereotypen führe zu Spannungen in der Gesellschaft. Weiter verletze die Schlagzeile die Richtlinien 8.1 (Achtung der Menschenwürde) und 8.2 (Diskriminierungsverbot) zur «Erklärung». Sie suggeriere, dass antisemitische Gewalttaten ein inhärent muslimisches Verbrechen seien, was MuslimInnen erheblich in ihrer Würde und ihrem Anspruch, als gleichberechtigte und gleichwertige Teile der Gesellschaft anerkannt zu werden, verletze. Das Zitat stelle MuslimInnen unter Generalverdacht und stelle eine einfache Kausalität zwischen ihnen und antisemitischen Gewalttaten her. Sie bediene das Bild der extremistischen, gewalttätigen MuslimInnen. Die VIOZ ist der Ansicht, das Zitat hätte überhaupt nicht gedruckt werden dürfen, auch nicht im Lauftext.
C. Am 14. Januar 2025 nahm der Rechtsdienst der TX Group im Namen der Redaktion Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Die Kernaussage des Berichts sei, dass bei aller Einzigartigkeit der jeweiligen Verbrechen und der vielen Ursachen dafür die unterschiedliche Religionszugehörigkeit von Opfern und Tätern nicht totgeschwiegen werden dürfe. Der Titel sei deutlich als Zitat gekennzeichnet, sprich, er stelle erkennbar keine Tatsachendarstellung dar. Auch der Lead weise auf eine Einordnung des Vorfalls durch einen Extremismusexperten hin. Dirk Baier forsche speziell zur Einstellung junger Menschen zu Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus.
Das Zitat im Titel beziehe sich auf eine kleine Gruppe und es werde damit keineswegs suggeriert, MuslimInnen seien Menschen mit besonderer krimineller Potenz. Im Bericht werde das Gegenteil betont, nämlich dass die überwältigende Mehrheit der MuslimInnen schweizerische Werte teile. Dass Dirk Baier im Interview fordere, solche Vorfälle müssten in der muslimischen Gemeinschaft dazu führen, sich selbst zu hinterfragen, könne als verfehlt betrachtet werden – es sei aber nicht diskriminierend. Aufgrund des Kontexts des Interviews sei Baier dahingehend zu verstehen, dass er aufgrund der religiösen Zugehörigkeit solcher Täter die muslimischen Gemeinschaften als besonders geeignet zur Prävention und Früherkennung von islamistischem Extremismus betrachte und damit gerade nicht berechtigte Kritik an Einzelnen in ungerechtfertigter Weise zu kollektivieren versuche. Weder Richtlinie 8.1 noch 8.2 zur «Erklärung» seien verletzt.
D. Am 18. Februar 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am xx. April 2025 verabschiedet.
II. Erwägung
Der Titel des Beitrags vom 5. März 2024 lautet wie folgt: «Man muss thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen». Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dieser in Anführungszeichen zitierte Satz aus dem Interview mit Dirk Baier, den der «Tages-Anzeiger» auch als Titel in der Druckausgabe verwendet hat, verletze die Menschenwürde (Richtlinie 8.1) und das Diskriminierungsverbot (Richtlinie 8.2). Der Satz findet sich im Interview in folgendem Kontext: Die Journalistin gibt die folgenden Stichworte: «Am Sonntagabend bezog die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich Stellung zum Vorfall. Sie verurteilt die Tat vehement.» Dirk Baier reagiert darauf mit: «Die Stellungnahme der Verbände war klar formuliert und richtig.» Er führt weiter aus: «Die überwältigende Mehrheit der Muslime teilt die Werte der Schweizer Gesellschaft. Dennoch muss man auch thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen. Solche Vorfälle sind eine Aufforderung an die muslimischen Gemeinschaften, sich kritisch zu hinterfragen.» Der Experte äussert sich einerseits positiv über die Verbände, die dadurch aber auch herausgefordert seien, sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Und er sagt, dass man darüber reden muss, wer solche Taten begeht.
Auch weitere Elemente im Artikel ordnen das Interview ein, wie der hervorgehobene Quote «Die überwältigende Mehrheit der Muslime teilt die Werte der Schweizer Gesellschaft» oder der Lead «Zürcher Messerattacke: Der Extremismusexperte Dirk Baier ordnet die Gewalt des Minderjährigen gegenüber einem orthodoxen Juden ein – und sagt, was er nun von muslimischen Verbänden erwartet».
Kritik an Minderheiten muss selbstverständlich möglich sein. Vorliegend bezieht sich die Aussage des Experten nur auf jene radikalisierten Muslime, die bereit sind, Gewalt auszuüben. Die Verallgemeinerung im ersten Satzteil wird im zweiten sogleich wieder aufgelöst. Dies ist selbst in der leicht verkürzten Version im Titel klar zu erkennen. Der Interviewte wirft weiter sehr berechtigte Fragen zu dieser konkreten Radikalisierung eines jungen Täters auf: Wie kann ein so junger Mensch eine solche Gewalt ausüben? Welche Rolle spielen dabei soziale Medien? Und wie sieht eine Religionsausbildung in der Schweiz aus? Selbst wenn der ausgewählte Satz der provokativste im ganzen Interview ist, widerspricht er weder der Präambel der «Erklärung» noch den Richtlinien 8.1 (Achtung der Menschenwürde) oder 8.2 (Diskriminierungsverbot) zur «Erklärung».
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem Beitrag «Man muss thematisieren, dass es Muslime sind, die solche Taten begehen» vom 5. März 2024 die Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.