Zusammenfassung
Das Westschweizer Fernsehen RTS hat Ende 2020 in der Sendung «Temps Présent» über den Rücktritt von Pierre Krähenbühl berichtet, der das UNO-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) leitete. Das Deutschschweizer Fernsehen SRF strahlte etwas später eine gekürzte Version des Beitrages aus.
Gegen beide Beiträge wurde beim Presserat eine Beschwerde eingereicht. Der Beschwerdeführer kritisierte vor allem die Auswahl der wichtigsten Experten im Beitrag. Sie seien antiisraelisch eingestellt und dies sei nicht transparent gemacht worden, was bedeute, dass der Beitrag wichtige Informationen unterschlagen und die Wahrheitspflicht verletzt habe. Er moniert ferner, die Reportage stelle eine «Heiligsprechung von Pierre Krähenbühl und eine Reinwaschung der institutionell antisemitischen UNRWA» dar.
Der Presserat weist die Beschwerde nach eingehender Diskussion ab: Er kam zum Schluss, dass eine Vielzahl von Stimmen zu Krähenbühl und zur UNRWA zu hören gewesen seien und dass es legitim gewesen sei, auf gewisse Elemente des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht näher einzutreten, weil der Werdegang von Krähenbühl im Zentrum der Reportage gestanden habe. Was die Einordnung der einzelnen Stimmen betrifft, habe kein Zweifel entstehen können, wer welche Position vertritt.
Résumé
La Radio Télévision Suisse RTS avait évoqué fin 2020, dans l’émission «Temps Présent», la démission de Pierre Krähenbühl, alors commissaire de l’Office de secours et de travaux des Nations Unies pour les réfugiés de Palestine dans le Proche-Orient (UNRWA). La télévision suisse alémanique SRF avait diffusé peu après une version abrégée du reportage.
Le Conseil de la presse a reçu une plainte concernant les deux reportages. Le plaignant critiquait surtout le choix des principaux experts cités. Selon lui, ils défendaient une position anti-israélienne et la chose n’était pas indiquée de manière transparente, de sorte que le reportage omettait des informations importantes et portait atteinte au devoir de vérité. Il reprochait également au reportage d’être un «Heiligsprechung von Pierre Krähenbühl und eine Reinwaschung der institutionell antisemitischen UNRWA» (de canoniser Pierre Krähenbühl et de blanchir l’UNRWA, institution antisémite).
Le Conseil de la presse rejette la plainte au terme d’une discussion approfondie: il est parvenu à la conclusion que le reportage faisait entendre plusieurs voix au sujet de Pierre Krähenbühl et de l’UNRWA et qu’il était légitime de ne pas aborder plus en détail certains éléments du conflit israélo-palestinien, car l’objet du reportage était l’avenir de Pierre Krähenbühl. Concernant le positionnement des différents protagonistes, il ne subsistait aucun doute.
Riassunto
La Televisione romanda RTSI aveva diffuso alla fine del 2020 durante la trasmissione «Temps présent» un servizio sulla rinuncia di Pierre Krähenbühl alla direzione dell’Agenzia delle Nazioni Unite per il soccorso e l’occupazione dei rifugiati palestinesi nel Vicino Oriente (UNRWA). Una versione abbreviata del servizio è stata diffusa in seguito anche dalla Televisione della Svizzera tedesca e retoromancia. Contro entrambi i servizi è stato presentato un reclamo al Consiglio svizzero della stampa. Criticata, in particolare, la scelta degli esperti da intervistare, tutti – secondo il reclamo – pregiudizialmente anti-israeliani senza che nel servizio lo si precisasse, da cui l’omissione di elementi informativi importanti e la violazione del dovere di rispettare la verità. Il servizio era definito nel reclamo una plateale «beatificazione» di Pierre Krähenbühl e un’assoluzione generale dell’agenzia onusiana, che il reclamo ritiene «antisemita».
Il Consiglio della stampa ha respinto il reclamo dopo approfondita discussione, ritenendo soprattutto che su Krähenbühl e sull’UNRWA si fosse espresso nel servizio un largo ventaglio di pareri. È vero che taluni aspetti del conflitto israelo-palestinesi non erano approfonditi: oggetto della trasmissione era tuttavia il ruolo di Krähenbühl, non i rapporti tra Israele e i palestinesi. I singoli intervistati risultano chiaramente definiti per la loro posizione nel conflitto: nessun dubbio anche su questo punto.
I. Sachverhalt
A. Am 17. Dezember 2020 übertrug die RTS-Sendung «Temps Présent» eine Reportage der Journalistin Anne-Frédérique Widmann und des Regisseurs Xavier Nicol mit dem Titel «Israël–Palestine, un suisse dans la tourmente». Der Beitrag berichtet über die Anschuldigungen, die zur Demission von Pierre Krähenbühl, Generalkommissar des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA, geführt haben, und über den darauffolgenden Uno-Untersuchungsbericht. Eine gekürzte Version der Reportage von «Temps Présent», realisiert von Sascha Buchbinder, wurde von der SRF-Sendung «Rundschau» am 27. Januar 2021 ausgestrahlt. Der Beitrag verfolgt chronologisch den Werdegang von Pierre Krähenbühl von seiner Ernennung zum Direktor der UNRWA im März 2014 bis zu seinem Rücktritt im Herbst 2019. Die Vorwürfe, die zu Krähenbühls Rücktritt führten, reichten von Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft, schlechter Amtsführung bis zu einer angeblich intimen Beziehung, die er mit einer Kollegin unterhalten haben soll. Mehrere Kommentatoren und Hauptakteure der Geschehnisse kommen in der Reportage mit ihren unterschiedlichen Positionen zu Wort, sei es direkt interviewt (neben dem direkt betroffenen Pierre Krähenbühl David Bedein, Riccardo Bocco, Kenneth Roth, Erich von Siebenthal, Carlo Sommaruga, Lex Takkenberg, Einat Wilf), sei es durch Archivbeiträge (Danny Danon, Jason Greenblatt, Jared Kushner, Benjamin Netanjahu, Donald Trump, Ivanka Trump). Abschliessend legt die Reportage die Schlussfolgerungen des noch nicht veröffentlichten Uno-Untersuchungsberichts zu den Anschuldigungen gegen Pierre Krähenbühl dar.
B. Am 4. März 2021 reichte David Klein beim Schweizer Presserat Beschwerde sowohl gegen die Reportage der RTS-Sendung «Temps Présent» als auch gegen die gekürzte Version der SRF-Sendung «Rundschau» ein. Der Beschwerdeführer (BF) macht dabei eine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit), Ziffer 2 (Unabhängigkeit), Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen) und Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Er führt aus, die Reportage bringe mit SP-Nationalrat1 Carlo Sommaruga, Professor Riccardo Bocco und Kenneth Roth, Geschäftsführer der NGO «Human Rights Watch» (HRW), vermeintlich unabhängige und neutrale Protagonisten als Kronzeugen für Pierre Krähenbühl in Position, ohne dem Publikum deren «langjährige antiisraelische Agenda», ihre Funktionen bei «antiisraelischen Organisationen», ihre «antiisraelische Publikationen» etc. zur Kenntnis zu bringen; wobei solche Informationen für das Verständnis der Reportage relevant seien. Relevant sei insbesondere die Funktion von Carlo Sommaruga als «Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Palästina», die im Beitrag nicht erwähnt werde. Diese Unterlassung stelle auch eine Verletzung von Richtlinie 2.4 dar. Umgekehrt werde z. B. die Mitgliedschaft von Bundesrat Ignazio Cassis bei der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Israel mit einem tendenziösen Unterton angeprangert, und es werde ihm eine proisraelische Tendenz unterstellt, obwohl dies im Rahmen der Reportage nicht relevant sei. Der Beschwerdeführer führt Äusserungen und Aktivitäten von Carlo Sommaruga, Riccardo Bocco und Kenneth Roth auf, die deren Voreingenommenheit belegen würden. Laut dem Beschwerdeführer stellt die Reportage eine einseitige, parteiliche «Heiligsprechung von Pierre Krähenbühl und eine Reinwaschung der institutionell antisemitischen UNRWA» dar. Der Film weise «Unterlassungen, Verzerrungen, Verwedelungen und unverhohlene Lügen» auf. Der BF führt im Weiteren aus: «Auf alle Punkte einzugehen, würde den Rahmen dieser Beschwerde sprengen.» Laut dem Beschwerdeführer hat die Autorin der Reportage, Anne-Frédérique Widmann, ihre Parteilichkeit auf Twitter und Facebook bereits gezeigt, indem sie z. B. eine als antisemitisch einzuordnende Karikatur zu Israels Premierminister Benjamin Netanjahu retweetet habe. Abschliessend wirft der Beschwerdeführer der Journalistin vor, in ihrer Reportage den Entscheid vom 10. November 2020 des UNRWA-Dispute-Tribunals verschwiegen zu haben. In diesem Urteil sei von einem «eklatanten Verstoss gegen die Grundwerte der Vereinten Nationen» seitens von Pierre Krähenbühl die Rede.
C. Am 16. Dezember 2021 nahm die Redaktion von RTS zur Beschwerde Stellung. Den Entscheid, ob auf die Beschwerde einzutreten sei oder nicht, überlässt die Beschwerdegegnerin (BG) dem Presserat. In der Sache beantragt sie, die Beschwerde abzuweisen. Dies insbesondere gestützt auf folgende Argumente:
• in der Reportage äusserten sich auch Erich von Siebenthal, Einat Wilf und David Bedein kritisch zur UNRWA;
• Gegenstand der Reportage von «Temps Présent» sei nicht die israelische Politik, sondern seien die Anschuldigungen, die zu Pierre Krähenbühls Demission geführt haben;
• die Autorin der Reportage habe minutiös recherchiert und sich auf verschiedene Quellen und Dokumente gestützt;
• ausser den in der Beschwerde erwähnten Kommentatoren (Bocco, Roth und Sommaruga) seien noch viele andere Personen in der Reportage zu Wort gekommen und die verschiedenen Positionen zur Affäre Pierre Krähenbühl seien hinreichend dargelegt worden. Insbesondere wird auf die Aussagen von Lex Takkenberg verwiesen, der als damaliger Chef des UNRWA-Ethikbüros die Untersuchung gegen Krähenbühl leitete und der dessen Rücktritt in der Reportage als «das beste Geschenk, das ich im Ruhestand bekommen habe» bezeichnet hat. Seit Anfang 2020 habe das Team von «Temps Présent» das EDA über seine Recherche informiert und dabei mehrmals um ein Interview mit Bundesrat Ignazio Cassis gebeten, um auch seine Sicht darstellen zu können. Bundesrat Cassis habe aber kein Interview geben wollen, was in der Reportage erwähnt werde;
• die Reportage lege den Inhalt des Uno-Untersuchungsberichts dar, inklusive der Vorwürfe, die der Bericht Takkenberg gegen Pierre Krähenbühl erhoben habe. Das Team von «Temps Présent» habe versucht zu erfahren, weshalb die Schlussfolgerungen des Untersuchungsberichts nicht öffentlich zugänglich gemacht würden. Wie in der Reportage angemerkt werde, hätten sich jedoch weder die Uno noch Bundesrat Cassis zu dieser Frage äussern wollen;
• die Position von Israel gegenüber UNRWA werde korrekt wiedergegeben, und zwar durch das Statement von Danny Danon, dem ständigen Vertreter von Israel bei der Uno;
• auch die Position der Vereinigten Staaten gegenüber UNRWA werde durch das Statement von Jason Greenblatt, dem Sondergesandten des Weissen Hauses für Nahost, dargelegt;
• in der Reportage kommentiere die Journalistin die verschiedenen Themen und Fragen selber kaum. Sie gebe vielmehr die Aussagen der Gesprächspartner wieder und lege korrekt deren unterschiedliche Positionen dar. Insbesondere in Bezug auf die UNRWA würden die heftigen Meinungsverschiedenheiten klar nachvollziehbar dargestellt. Ausserdem werde Krähenbühl zu den strittigen Fragen kritisch befragt.
• der in der Beschwerde erwähnte Entscheid vom 10. November 2020 des UNRWA-Dispute-Tribunals, den die Journalistin laut BF pflichtwidrig verschwiegen habe, sei erst ein Jahr nach der Demission von Krähenbühl gefällt worden und habe nichts mit dem Gegenstand der Reportage zu tun. Gegen diesen Entscheid habe ausserdem die UNRWA im Januar 2021 Beschwerde geführt.
D. Am 18. Januar 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der 1. Kammer des Presserats behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.
E. Die 1. Kammer des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 1. Februar 2022 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Wahrheitssuche: Die JournalistInnen «halten sich an die Wahrheit» (Ziffer 1 der «Erklärung»). «Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus» (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung»).
Nach Auffassung des Presserats lässt sich aus dem Journalistenkodex weder eine ausdrückliche Pflicht zur «Ausgewogenheit» noch eine solche zu «objektiver Berichterstattung» ableiten. Schon die Hypothese, die JournalistInnen zur Recherche animiert, enthält intuitive und subjektive Elemente. Hingegen besteht der Presserat auf einer nachvollziehbaren Wahrheitssuche; auf überprüfbarer Transparenz, die tatsachennahe und subjektivere Elemente des Berichts getrennt sichtbar macht; ebenso auf Fairness, insbesondere in der Frage, wie man Betroffene zu Wort kommen lässt. Zu mehr Ausgewogenheit verpflichtet sind Medien mit einer Monopol- oder einer regionalen Vormachtstellung. Sie sollten bei kontroversen Themen die verschiedenen Auffassungen zu Wort kommen lassen, wenn auch nicht zwingend im gleichen Umfang. Ein engerer (rechtlicher) Rahmen gilt für die elektronischen Medien. Radio- und Fernsehberichte «mit Informationsgehalt» müssen Tatsachen und Ereignisse sachgerecht darstellen, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden kann. Dies zu überprüfen, obliegt aber der Unabhängigen Beschwerdeinstanz (UBI) und nicht dem Presserat. Die Aufgabe des Presserates beschränkt sich darauf, journalistische Beiträge auf ihre Vereinbarkeit mit der «Erklärung» zu prüfen.
Was Informations- und Themenwahl sowie deren Gewichtung anbelangt, sind die Redaktionen grundsätzlich frei. Dies gewährleistet die in Art. 16 der Bundesverfassung garantierte Meinungs- und Informationsfreiheit. Ob sie ein bestimmtes Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt für angezeigt halten, liegt im Ermessen der Redaktionen. Die Protokollerklärung des Presserates zu Ziffer 11 der «Erklärung» sagt ausdrücklich, was in einer freien Presse ohnehin gelten muss: «Die Redaktionen entscheiden im Rahmen der publizistischen Linie des Mediums selbstständig über den Inhalt des redaktionellen Teils.» Der Presserat soll und kann nicht darüber entscheiden, ob eine Themenwahl «richtig», «sachgerecht» oder «angemessen» war. Er beurteilt ausschliesslich, ob die in der «Erklärung» festgelegten Berufsregeln eingehalten wurden (vgl. Stellungnahme 95/2020).
Gegenstand der fraglichen Reportage von «Temps Présent» ist der Werdegang von Pierre Krähenbühl als Direktor der UNRWA, die Anschuldigungen, die zu seiner Demission geführt haben, und der darauffolgende Uno-Untersuchungsbericht. Dazu kommen in der Reportage verschiedene Kommentatoren und wichtige Akteure der Geschehnisse zu Wort. Die unterschiedlichen, sich widersprechenden Auffassungen und Sichtweisen werden klar dargelegt, so wie auch die Schlussfolgerungen des Uno-Untersuchungsberichts.
Die im Hintergrund stehende Frage, ob die UNRWA insbesondere über den Vertrieb von Schulbüchern Thesen und Politik der «Hamas» weiterverbreite, wird zwar deutlich angesprochen, aber nicht weiter vertieft. Das ist auch nicht das zentrale Thema des Beitrags. Mit den Statements Bedein, Wilf, Danon und Greenblatt ist das Thema aber deutlich markiert.
Da die Reportage die unterschiedlichen Protagonisten zu Wort kommen lässt, sieht der Presserat das Gebot der Wahrheitssuche nicht verletzt. Im Übrigen wird die entsprechende Rüge (Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung») in der Beschwerde bloss erwähnt, ohne dass sie näher und konkret begründet wird. Auch der vom Beschwerdeführer erhobene und allgemein formulierte Vorwurf, die Reportage weise in «Unterlassungen, Verzerrungen, Verwedelungen und unverhohlenen Lügen» Mängel auf, wurde nicht näher ausgeführt.
2. Unabhängigkeit: Die JournalistInnen verteidigen die Freiheit der Information, die sich daraus ergebenden Rechte, die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufs (Ziffer 2 der «Erklärung»).
Der Beschwerdeführer stellt die Unabhängigkeit der Autorin der Reportage insofern in Frage, als sie sich in ihren privaten Stellungnahmen in den sozialen Medien (Twitter und Facebook) antiisraelisch geäussert habe. Nach Auffassung des Presserates ist die Tatsache, dass JournalistInnen zu gewissen Themen eine bestimmte Meinung haben, bzw. klare Positionen vertreten, kein Problem und beeinträchtigt ihre unabhängige Berichterstattung nicht, solange diese faktentreu und fair erfolgt. Das ist nach Ansicht des Presserats in der vorliegenden Reportage der Fall. Hauptgegenstand der fraglichen Berichterstattung ist zudem nicht die israelisch-palästinensische Thematik (die zwar den Hintergrund der Geschichte bilden mag), sondern vielmehr die Affäre Pierre Krähenbühl.
3. Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen): Der Beschwerdeführer wirft der Reportage vor, es seien verständnisrelevante Informationen zur antiisraelischen Position von Carlo Sommaruga, Riccardo Bocco und Kenneth Roth weggelassen worden. Insbesondere die Unterschlagung der Funktion von Carlo Sommaruga als «Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Palästina» stelle eine Verletzung von Richtlinie 2.4 der «Erklärung» dar.
Dieser These kann der Presserat nicht folgen. Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen) bezieht sich nur auf JournalistInnen und ihre persönlichen potentiellen Interessenkonflikte (öffentlicher und eventuell privater Natur). Nur sie sind verpflichtet, solche Spannungsfelder dem Publikum transparent zur Kenntnis zu bringen. Richtlinie 2.4 bezieht sich nicht auf die Interviewten.
Die vom BF gerügte Weglassung von verständnisrelevanten Informationen betreffend Sommaruga, Bocco und Roth ist allenfalls unter dem Gesichtswinkel von Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen von Informationen) zu überprüfen. Das ist Thema des nächsten Punktes.
4. Unterschlagen wichtiger Informationen: Was Informationen- und Themenwahl und deren Gewichtung anbelangt, sei auf die unter Punkt 1 erwähnten Ausführungen verwiesen.
Als wichtige Informationen im Sinn von Ziffer 3 der «Erklärung» gelten nur solche, die für das Verständnis der Berichterstattung seitens des Publikums relevant, sprich notwendig sind. In der fraglichen Reportage wird Carlo Sommaruga als SP-Ständerat2 und Mitglied der Kommission für Aussenpolitik («Conseiller aux Etats (PS/GE)» und «Membre de la Commission de politique extérieure», so die Unterzeile in der Reportage) präsentiert. Seine Mitgliedschaft in der «parlamentarischen Gruppe Schweiz–Palästina» wird tatsächlich nicht erwähnt. Im Rahmen der ganzen Reportage äussert sich Sommaruga dennoch sehr offen und eindeutig zu den Themen, indem er die Position von Krähenbühl klar verteidigt.
Riccardo Bocco wird in der Reportage in seiner Rolle als Professor des IHEID Genf und als Experte in Sachen palästinischer Flüchtlinge und UNRWA interviewt. Im Beitrag äussert er offen und transparent seine Meinung. Das Gleiche tut auch Kenneth Roth, der als Verantwortlicher von Human Rights Watch (HRW) zu Wort kommt.
Unter diesen Umständen kann nach Ansicht des Presserats nicht behauptet werden, dem Publikum seien wichtige Informationen im Sinne von Ziffer 3 der «Erklärung» pflichtwidrig verschwiegen worden, da es diese Protagonisten zweifellos eindeutig einordnen konnte. In Anbetracht der Tatsache, dass die Reportage die Mitgliedschaft von Bundesrat Ignazio Cassis bei der parlamentarischen Gruppe Schweiz–Israel erwähnt hat, wäre es aber wünschenswert gewesen, dass auch auf Carlo Sommarugas Mitgliedschaft in der «parlamentarischen Gruppe Schweiz–Palästina» hingewiesen worden wäre.
Bezüglich des Entscheids vom 10. November 2020 des UNRWA-Dispute-Tribunals gehen die Aussagen der Parteien auseinander. Laut dem Beschwerdeführer ist in diesem Urteil die Rede von einem «eklatanten Verstoss gegen die Grundwerte der Vereinten Nationen» seitens Pierre Krähenbühls; diese Information zu unterschlagen, stelle eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» dar. Die Beschwerdegegnerin führt hingegen aus, dieser Entscheid (der übrigens infolge einer Beschwerde der UNRWA noch «sub iudice» sei) habe mit dem Gegenstand der Reportage, sprich mit den Anschuldigungen, die zur Demission von Pierre Krähenbühl geführt haben, nichts zu tun. Unter diesen Umständen (Aussage gegen Aussage) und da der fragliche Entscheid des Tribunals der Beschwerde nicht beigelegt wurde, muss der Presserat verzichten, diesbezüglich definitive Schlussfolgerungen zu ziehen.
Auch unter dem Gesichtspunkt von Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen wichtiger Informationen) vermag die Beschwerde den vom Beschwerdeführer erhobenen und allgemein formulierten Vorwurf, die Reportage weise «Unterlassungen, Verzerrungen, Verwedelungen und unverhohlene Lügen» auf, nicht zu begründen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2. RTS hat mit der in der Sendung «Temps Présent» ausgestrahlten Reportage der Journalistin Anne-Frédérique Widmann und des Regisseurs Xavier Nicol mit dem Titel «Israel–Paléstine, un Suisse dans la tourmente» vom 17. Dezember 2020 (von der eine gekürzte Anpassung, realisiert von Sascha Buchbinder, von der SRF-Sendung «Rundschau» am 27. Januar 2021 übertragen wurde) die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Unabhängigkeit, öffentliche Funktion) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.
1 und 2 Carlo Sommaruga war bis Herbst 2019 SP-Nationalrat, wurde dann in den Ständerat gewählt, weshalb er im Verfahren manchmal als National- resp. als Ständerat bezeichnet wird.