I. Sachverhalt
A. Am 14. August 2022 erschien in der «SonntagsZeitung» (bzw. am Abend zuvor online auf «www.tagesanzeiger.ch») ein Artikel von Bettina Weber unter dem Titel «Behandlungen von trans Kindern: Lieber einen lebenden Sohn als eine tote Tochter?». Die Autorin schildert darin unter anderem die Geschichte von Lea, die ihren Eltern als 14-Jährige erklärte, sie sei trans und wolle Leon genannt werden. Eine Psychiaterin habe den Eltern und Leon nach einigen Sitzungen vorgeschlagen, möglichst bald mit Pubertätsblockern anzufangen. Der Mutter sei das viel zu schnell gegangen. Die Psychiaterin habe aber aufs Tempo gedrückt und gewarnt, dass Zuwarten die Suizidalität erhöhe. Weiter liefert Bettina Weber in ihrem Beitrag eine Übersicht über den Umgang mit diesen Medikamenten in verschiedenen europäischen Ländern. Die Autorin zitiert dazu aus einem Artikel, der im «New York Times Magazine» (NYTM) erschien, der das Thema ebenfalls behandelte: «Tatsächlich ist die Suizidalität unter trans Menschen erschreckend hoch. Bloss, schreibt das ‹New York Times Magazine›, sage den Eltern kaum jemand, dass diese auch während und selbst nach einer Geschlechtsangleichung hoch bleibe.»
B. Am 15. August 2022 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer (BF) macht geltend, der Bericht verletze die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Das Zitat aus dem NYTM sei falsch wiedergegeben. In dessen Artikel stehe vielmehr, eine Studie des Trevor Projects aus dem Jahr 2022 «did show a 40 percent lower incidence in recent depression and in past-year suicide attempts for transgender and nonbinary 13-to-17-year-olds who said they had hormone treatments».
C. Am 28. Oktober 2022 beantragte die Rechtsvertreterin der «SonntagsZeitung», bzw. von «tagesanzeiger.ch», die Beschwerde sei abzuweisen. Beim Einsatz von Pubertätsblockern bei trans Kindern sei die gesamte Studienlage komplett unklar und widerspreche sich auch teilweise. Das mache auch der erwähnte Artikel im «New York Times Magazine» klar. Wenn der BF also behaupte, man habe die falschen Fragen gestellt, so zeige dies nur, dass er als Vertreter der trans Lobby jene Studien ins Feld führe, die Wasser auf seine Mühlen seien. Die Autorin habe den Artikel sorgfältig recherchiert und sämtliche führenden Schweizer ExpertInnen zum Thema sowie ExpertInnen von Behörden um ihre Stellungnahme gebeten. Alle hätten abgesagt, teils sogar mit ihrem Anwalt gedroht. Nach der Lektüre zahlreicher Studien sei die Autorin zum Schluss gekommen, dass man sich je nach Lesart auf diese oder jene berufen könne. Der Vorwurf der Verletzung der Wahrheitspflicht sei unrichtig, schreibe doch das NYTM, «deaths by suicide, which are fortunately rare, though still higher than for the general Dutch population, seem to ‹occur during every stage of transitioning›. In the overheated political moment, however, parents were getting the terrifying message that if they didn’t quickly agree to puberty suppressants or hormone treatments, their children would be at severe risk.» Es gebe also keinerlei irreführende Darstellung.
D. Am 23. Dezember 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 9. Februar 2023 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Laut dem Beschwerdeführer verletzen Sätze respektive Zitate, welche die Autorin aus dem NYTM übernommen hat, das Wahrheitsgebot gemäss Ziffer 1 der «Erklärung». Der erste Satz lautet: «The rate of suicide attempts among them in the previous year is terribly high.» «them» meint in diesem Zusammenhang «trans kids», wie aus dem vorhergehenden Satz klar wird. Im Artikel der «SonntagsZeitung» wird dieser Satz zu «Tatsächlich ist die Suizidalität unter trans Menschen erschreckend hoch». Diese Übersetzung ist grundsätzlich korrekt. Dass der zweite Teil des Satzes nicht zitiert wird, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. In diesem weist die Autorin des NYTM darauf hin, dass es um eine Suizidalität von fast 35 Prozent gehe, wobei die Rate unter der cis Bevölkerung einstellig sei. Obwohl es einen Unterschied zwischen «trans kids» und «trans Menschen» gibt, und unter «Suizidalität» nicht nur der versuchte Suizid («suicide attempts»), sondern laut Duden noch viel allgemeiner die Neigung zum Suizid verstanden wird, ist die Übersetzung nicht falsch. Ziffer 1 der «Erklärung» ist damit nicht verletzt.
2. Der zweite vom BF beanstandete Teil lautet: «A 2020 study of trans patients of all ages, over more than four decades, at the Amsterdam clinic, found that deaths by suicide, which are fortunately rare, though still higher than for the general Dutch population, seem to ‹occur during every stage of transitioning›. In the overheated political moment, however, parents were getting the terrifying message that if they didn’t quickly agree to puberty suppressants or hormone treatments, their children would be at severe risk.»
Die «SonntagsZeitung» macht daraus den Satz «Bloss, schreibt das ‹New York Times Magazine›, sage den Eltern kaum jemand, dass diese auch während und selbst nach einer Geschlechtsangleichung hoch bleibe.» Diese Übersetzung ist nicht ganz korrekt: Zwar stimmt es, dass das NYTM schreibt, Suizidalität gebe es während allen Transitionsphasen. Der Teil, wonach dies den Eltern kaum jemand sage, steht nicht im Artikel: weder was ihnen gesagt wurde, noch ob ihnen überhaupt etwas gesagt wurde. Im NYTM-Artikel nachzulesen ist hingegen eine Interpretation, wie die Nachricht zur Suizidrate bei den Eltern ankommen kann, nämlich furchteinflössend und als Zwang. Die Eltern kommen also in einem anderen Zusammenhang vor, als von der Autorin der «SonntagsZeitung» angegeben.
Der Presserat kommt zum Schluss, dass es sich dabei tatsächlich um eine Ungenauigkeit bei der Übersetzung handelt. Obwohl im Artikel des «New York Times Magazine» die Eltern im Zusammenhang zu Informationen über die Rate der Suizidalität nicht vorkommen, bleibt der Kerngehalt der Aussage – nämlich, dass Suizidversuche bei trans Kindern oder trans Menschen viel häufiger vorkommen als in der cis Bevölkerung – dennoch bestehen. Im Ergebnis stellt diese Ungenauigkeit jedoch keine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» dar.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Die «SonntagsZeitung» hat mit dem Artikel «Behandlungen von trans Kindern: Lieber einen lebenden Sohn als eine tote Tochter?» vom 14. August 2022 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.