Nr. 2/2023
Unterschlagen wichtiger Informationen / Meinungsumfragen

(X. c. «Wohler Anzeiger», «Bremgarter Bezirks-Anzeiger», «Der Freiämter»)

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Zusammenfassung

Bei einer Grafik zu einer einfachen Umfrage – es ging um die Zustimmung oder Ablehnung des kantonalen Steuergesetzes, über das kurz danach an der Urne abgestimmt werden sollte – fehlten in den drei Lokalzeitungen «Wohler Anzeiger», «Bremgarter Bezirks-Anzeiger» und «Der Freiämter» mehrere Angaben: So blieb beispielsweise unklar, wie viele Leserinnen und Leser sich daran beteiligt hatten und ob es sich um eine repräsentative Befragung handelte oder nicht.

Eine Leserin erhob Beschwerde beim Schweizer Presserat und machte einen Verstoss gegen die Richtlinie 3.7 (Meinungsumfragen) geltend. Mit Verweis auf einen früheren Entscheid des Presserats beantragte der Chefredaktor des «Wohler Anzeigers», die Beschwerde sei abzuweisen. Zwar sei unbestritten, dass die Grafik nicht allen Anforderungen der Richtlinie genüge; vor 18 Jahren sei der Presserat aber von diesem Anforderungskatalog abgerückt und habe festgehalten, es würde «zu weit führen, bei jeder der im journalistischen Alltag sehr häufig durchgeführten ‹Meinungsumfragen› die in der Richtlinie postulierten Mindestangaben zu verlangen».

In seinem aktuellen Entscheid präzisiert der Presserat seine 2005 begründete Praxis. Er hält es zwar weiterhin nicht für erforderlich, dass dem Publikum immer alle Informationen zugänglich gemacht werden, die für das Verständnis einer Umfrage nützlich sind; sehr wohl aber jene, die für das Verständnis notwendig sind. Dies gelte besonders bei Umfragen im Vorfeld von politischen Volksabstimmungen. «In der Regel dürften wenigstens zwei Informationen notwendig sein, damit die Leserschaft die Relevanz einer Umfrage einschätzen kann», schreibt der Presserat in seiner Stellungnahme: «Die Zahl der befragten Personen und die Frage, ob es sich um eine repräsentative Stichprobe handelt.» Indem die drei Lokalzeitungen ihren Leserinnen und Lesern Informationen vorenthielten, die für das korrekte Verständnis der Umfrage notwendig gewesen wären, verstiessen sie gegen die «Erklärung».

Résumé

Trois journaux locaux, « Wohler Anzeiger », « Bremgarter Bezirks-Anzeiger » et « Der Freiämter », ont publié sans donner toutes les informations requises un graphique illustrant un sondage sur une question simple : accepter ou non la loi fiscale cantonale sur laquelle il y aurait bientôt une votation. Les journaux n’indiquaient pas notamment combien de lecteurs avaient pris part au sondage ni s’il s’agissait d’un sondage représentatif.

Une lectrice a porté plainte au Conseil suisse de la presse. Se référant à une prise de position antérieure, le rédacteur en chef du « Wohler Anzeiger » a demandé que la plainte soit rejetée. Pour lui, il était indéniable que le graphique ne remplissait pas toutes les exigences énumérées dans la « Déclaration ». Il a toutefois rappelé qu’il y a 18 ans, le Conseil suisse de la presse s’était écarté de cette liste rigide et avait affirmé que demander l’ensemble des indications minimales que la directive contient pour tout sondage mené dans le quotidien journalistique, une pratique très fréquente, serait aller trop loin.

Dans sa prise de position actuelle, le Conseil suisse de la presse précise la pratique engagée en 2005. Il considère toujours qu’il n’est pas indispensable de donner au public toutes les indications utiles à la compréhension d’un sondage, mais seulement celles qui sont nécessaires, et ce d’autant plus lorsqu’il s’agit de sondages précédant des votations populaires. Il note dans sa prise de position : « En règle générale, deux indications semblent nécessaires pour permettre aux lecteurs de déterminer la pertinence d’un sondage : le nombre de personnes interrogées et la représentativité de l’échantillon ». Il conclut que les trois journaux locaux ont violé la « Déclaration » en omettant des informations qui auraient été nécessaires aux lecteurs pour comprendre correctement le sondage.

Riassunto

In un grafico relativo a un sondaggio elementare — si trattava dell’approvazione o del rifiuto della legge fiscale cantonale, che sarebbe stata votata di lì a poco — nei tre quotidiani locali «Wohler Anzeiger», «Bremgarter Bezirks-Anzeiger» e «Der Freiämter» mancavano diverse indicazioni: ad esempio, non era chiaro quante lettrici e quanti lettori avessero partecipato e se si trattasse o meno di un sondaggio rappresentativo.

Una lettrice ha presentato un reclamo al Consiglio svizzero della stampa.
Facendo riferimento a una precedente decisione del Consiglio della stampa il caporedattore del «Wohler Anzeiger» ha chiesto che il reclamo fosse respinto. Sebbene sia indiscutibile che il grafico non soddisfi tutti i requisiti elencati il Consiglio della stampa si è allontanato da questo rigido elenco di requisiti da ormai 18 anni, quando ha dichiarato che «sarebbe eccessivo esigere le informazioni minime postulate nella Direttiva, per ciascuno dei ‹sondaggi di opinione› effettuati con gran frequenza nella quotidianità giornalistica».

Mediante la sua attuale decisione, il Consiglio della stampa precisa la propria prassi, fissata nel 2005. Pur non ritenendo necessario che tutte le informazioni utili alla comprensione di un sondaggio siano sempre rese disponibili al pubblico, ritiene che le informazioni necessarie alla comprensione lo siano. Ciò vale in particolare per i sondaggi che precedono i referendum politici. «Di norma, sono necessarie almeno due informazioni per permettere al pubblico di valutare la rilevanza di un sondaggio», scrive il Consiglio della stampa nella sua dichiarazione. «Il numero di persone intervistate e se si tratta di un campione rappresentativo». Privando i propri lettori delle informazioni che sarebbero state necessarie per la corretta comprensione del sondaggio, i tre giornali locali hanno violato la «Dichiarazione».

I. Sachverhalt

A. Am 3. Mai 2022 erschien in den drei Zeitungen «Wohler Anzeiger», «Bremgarter Bezirks-Anzeiger» und «Der Freiämter» eine Grafik, mit der das Ergebnis einer Umfrage vermittelt wird. Unter dem Titel «Deutliches Ja zum Steuergesetz» ist ersichtlich, dass 81 Prozent mit Ja und 19 Prozent mit Nein geantwortet haben. Eine Angabe, wie viele Leserinnen und Leser sich an der Umfrage beteiligt haben, fehlt ebenso wie ein Hinweis, dass es sich nicht um eine repräsentative Befragung handelt. In wenigen Sätzen wird erklärt, worum es bei der zu jenem Zeitpunkt noch bevorstehenden Volksabstimmung ging: um eine Änderung des kantonalen Steuergesetzes, mit der sowohl natürliche als auch juristische Personen entlastet werden sollen. Am Ende des sehr kurzen Beitrags heisst es: «Die Leserschaft dieser Zeitung sagt mit 81 Prozent deutlich Ja zur Gesetzesänderung.»

B. Am 26. Juli 2022 erhob X. Beschwerde beim Schweizer Presserat und monierte einen Verstoss gegen Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») respektive der zugehörigen Richtlinie 3.7 (Meinungsumfragen).

Der «reisserische Titel» sei irreführend, schreibt die Beschwerdeführerin. Einer ungeübten Leserschaft werde nicht auffallen, dass die von den drei Lokalzeitungen veröffentlichte Abstimmungsprognose methodisch «absolut nichts» mit den Prognosen von Tamedia und des Umfrageinstituts Sotomo zu tun habe. Der Hinweis, der angegebene Wert beziehe sich auf «die Leserschaft dieser Zeitung», könne nicht als hinreichend geltend gemacht werden, weil der veröffentlichte Wert auch für diese Leserschaft wohl nicht repräsentativ sei – einerseits wegen des statistischen Fehlers der «vermutlich winzigen Stichprobengrösse», andererseits aufgrund eines systematischen Fehlers: Die Umfrage sei von den Befürwortern des Steuergesetzes eifrig auf Social Media geteilt worden, womit eines der beiden politischen Lager überproportional zur Teilnahme motiviert worden sei. Entsprechend sei das Resultat der Volksabstimmung denn auch hochsignifikant anders ausgefallen, als es die Umfrage der drei Lokalzeitungen habe vermuten lasse: zugestimmt hätten 65 Prozent (und nicht 81 Prozent). Dasselbe gelte auch für den Bezirk, in dem die drei Zeitungen erscheinen.

Die Beschwerdeführerin ist überzeugt, dass die Veröffentlichung der nicht-repräsentativen Umfrage einen Einfluss auf das Stimmverhalten einzelner Bürger gehabt habe. Diese Vermutung stützt sie auf die Tatsache, dass die auch online publizierte Grafik mit dem Umfrageergebnis von den Befürwortern der Vorlage auf Social Media geteilt und als bezahlte Werbung geschaltet worden sei.

Die Redaktion habe ihr auf mehrere schriftliche Nachfragen nach der Stichprobengrösse nicht geantwortet, ein Leserbrief sei weder in einer ersten noch in einer überarbeiteten zweiten Version veröffentlicht worden. Als Begründung sei ihr beschieden worden, die Zeitung publiziere Umfrageresultate schon seit zehn Jahren ohne Angabe von Stichprobengrösse oder Befragungszeitraum, und nie habe es deshalb Beschwerden gegeben.

C. Am 9. September 2022 antwortete Daniel Marti, Chefredaktor des «Wohler Anzeiger», auf die Beschwerde. In dem von der Beschwerdeführerin gerügten Beitrag sei klar festgehalten worden, wer befragt worden sei, schreibt er: nämlich die Leserschaft der Zeitung, von der potenziell alle hätten teilnehmen können. «Bei einer Lokalzeitung ist diese Leserschaft sowohl geografisch als auch von der Anzahl Personen her klar eingegrenzt.»

Gemäss einer früheren Stellungnahme des Presserats, bei der es noch nicht einmal um eine Lokal-, sondern eine Konsumentenzeitschrift gegangen sei, genüge eine solche Bezeichnung, um das Erhebungsgebiet einzugrenzen (9/2005, Schweizerische Post c. «K-Tipp»).

Zwar sei unbestritten, dass der von der Beschwerdeführerin gerügte Beitrag nicht allen der in Richtlinie 3.7 aufgeführten Punkte genüge, heisse es dort doch, es seien «dem Publikum bei der Veröffentlichung von Meinungsumfragen immer alle Informationen zugänglich zu machen, die für das Verständnis der Umfrage nützlich sind: Mindestens die Zahl der befragten Personen, Repräsentativität, mögliche Fehlerquote, Erhebungsgebiet, Zeitraum der Befragung, Auftraggeberin / Auftraggeber». Wenn der Presserat aber tatsächlich die Angabe all dieser Punkte verlangen würde, wären Umfragen für kleinere Zeitungstitel wie den «Wohler Anzeiger» nicht mehr umsetzbar, so der Chefredaktor.

In der erwähnten Stellungnahme 9/2005 sei der Presserat von dem in Richtlinie 3.7 zur «Erklärung» aufgeführten starren Anforderungskatalog abgerückt, indem er Folgendes ausgeführt habe: «Nach Auffassung des Presserates würde es jedoch zu weit führen, bei jeder der im journalistischen Alltag sehr häufig durchgeführten ‹Meinungsumfragen› die in der Richtlinie 3.7 postulierten Mindestangaben zu verlangen. Denn meistens – wie auch bei der Leserumfrage des ‹K-Tipp› – ist bei derartigen Umfragen für das Publikum von vornherein klar, dass die Umfrageergebnisse statistisch kaum repräsentativ sind.»

Die regelmässig durchgeführten Umfragen seien den Abonnentinnen und Abonnenten des «Wohler Anzeiger» bekannt. In einem kleinen Zweispalter würden sie jeweils nach ihrer Meinung zu einem aktuellen Thema gefragt, die Ergebnisse würden danach in einem kleinen Einspalter präsentiert. Solche Umfragen dienten der Interaktion mit der Leserschaft. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin werde jedoch auf «reisserische Titel» verzichtet. Dass die Grafik mit dem Umfrageergebnis von Parteien als Werbung verwendet wurde, die eine andere Meinung als die Beschwerdeführerin vertreten, sei zwar nicht im Interesse der Redaktion, könne jedoch nicht beeinflusst werden.

D. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg angehören.

E. Die 1. Kammer des Presserats beriet den Fall an ihrer Sitzung vom 28. November 2022 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin moniert, der Artikel des «Wohler Anzeiger» «Deutliches Ja zum Steuergesetz» verletze Richtlinie 3.7 (Meinungsumfragen) der «Erklärung». Diese besagt:

«Bei der Veröffentlichung von Meinungsumfragen sollten die Medien dem Publikum immer alle Informationen zugänglich machen, die für das Verständnis der Umfrage nützlich sind: Mindestens Zahl der befragten Personen, Repräsentativität, mögliche Fehlerquote, Erhebungsgebiet, Zeitraum der Befragung, Auftraggeberin / Auftraggeber. Aus dem Text sollten auch die konkreten Fragen inhaltlich korrekt hervorgehen. Eine Karenzfrist für die Veröffentlichung von Meinungsumfragen vor Wahlen und Abstimmungen ist mit der Informationsfreiheit nicht vereinbar.»

Nimmt man diesen Wortlaut als Richtschnur, ist der Beschwerdeführerin zweifellos zuzustimmen. Denn während die Richtlinie die Angabe von mindestens sechs klar definierten Informationen verlangt, verzichtete der «Wohler Anzeiger» auf jegliche Angaben – er orientierte seine Leserschaft weder über die Zahl der befragten Personen noch über die (fehlende) Repräsentativität, die Fehlerquote, das Erhebungsgebiet, den Zeitraum der Befragung oder den Auftraggeber.

2. Eine Information immerhin lässt sich aus dem Kontext der Veröffentlichung ableiten: Die Umfrage wird von der Redaktion des «Wohler Anzeiger» verantwortet und dürfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von dieser in Auftrag gegeben respektive durchgeführt worden sein.

Doch genügt das? Wie vor 18 Jahren (Stellungnahme 9/2005, Schweizerische Post c. «K-Tipp») ist der Presserat der Auffassung, dass es zu viel verlangt wäre, wenn bei jeder Meinungsumfrage sämtliche in der Richtlinie 3.7 postulierten Mindestangaben verlangt würden. Es ist folglich auch nicht erforderlich, dass dem Publikum immer alle Informationen zugänglich gemacht werden, die für das Verständnis einer Umfrage nützlich sind; sehr wohl aber jene, die für das Verständnis notwendig sind. Das gilt besonders bei Umfragen im Vorfeld von politischen Volksabstimmungen.

In der Regel dürften wenigstens zwei Informationen notwendig sein, damit die Leserschaft die Relevanz einer Umfrage einschätzen kann: die Zahl der befragten Personen und die Frage, ob es sich um eine repräsentative Stichprobe handelt (falls eine solche Repräsentativität behauptet wird, ist zudem die Fehlerquote anzugeben).

Der Auftraggeber respektive die Auftraggeberin ist anzugeben, falls die Umfrage nicht von der Redaktion selbst veranlasst wurde; der Zeitraum der Befragung ist transparent zu machen, wenn er für die Interpretation der Umfrageergebnisse von Belang ist. Andernfalls kann auf diese beiden Angaben verzichtet werden.

Indem der «Wohler Anzeiger» ungenügende Angaben zur Umfrage veröffentlichte, hat er gegen Richtlinie 3.7 respektive Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Namentlich hätte er der Leserschaft zweierlei mitteilen müssen: erstens, wie viele Personen sich an der Umfrage beteiligten, und zweitens, dass das Umfrageergebnis nicht repräsentativ ist. Allerdings ist der Redaktion zuzustimmen, dass die bisherige Praxis des Presserats dies so nicht eingefordert hat und weniger streng war. Der Presserat ist sich dieses Umstandes bewusst. Die Praxis, die in Stellungnahme 9/2005 festgehalten wurde, entspricht jedoch nicht mehr den heutigen Anforderungen an eine transparente Berichterstattung. Der Presserat ändert deshalb seine Praxis im Sinne der obigen Erwägungen und heisst die Beschwerde gut. Gleichzeitig prüft er, ob dieser Praxisänderung eine Revision von Richtlinie 3.7 (Meinungsumfragen) folgen soll.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.

2. Der «Wohler Anzeiger» hat mit der Publikation einer Umfrage unter dem Titel «Deutliches Ja zum Steuergesetz» gegen Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen / Meinungsumfragen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Die Redaktion enthielt der Leserschaft Informationen vor, die für das korrekte Verständnis der Umfrage notwendig waren. Allerdings war die bisherige Praxis des Presserats weniger streng, was den Verstoss der Redaktion selbstredend mindert.