Nr. 1/2021
Wahrheit

(X. c. «20 Minuten»)

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I. Sachverhalt

A. Am 1. August 2020 veröffentlichte die Website «20min.ch» einen Artikel mit dem Titel «Wir sind die zweite Welle – Corona-Leugner-Demo zieht durch Berlin». Der Titel wurde wenige Stunden später geändert auf «Corona-Skeptiker ziehen durch Berlin – Polizei holt Veranstalter von der Bühne». Der Untertitel lautete ursprünglich: «Sie fordern eine Aufhebung der Schutzmassnahmen und bedienen sich an Nazi-Vokabular: In Berlin zogen tausende Corona-Leugner durch die Strassen». Und nach der Korrektur: «Sie fordern eine Aufhebung der Schutzmassnahmen und bedienen sich an Nazi-Vokabular: In Berlin zogen tausende Anti-Corona-Demonstranten durch die Strassen. Am Abend löste die Polizei die Kundgebung auf».

Der Artikel schildert, dass an einer Demonstration in Berlin nach Polizeiangaben zeitweise bis zu 20’000 Personen teilgenommen hätten, diese hätten die Aufhebung aller Corona-Massnahmen gefordert, dabei seien die Corona-Schutzmassnahmen, Abstand, Mundschutz, nicht eingehalten worden. Aufgrund der Transparente und Ortsschilder sei ersichtlich, dass die Teilnehmer aus verschiedenen Bundesländern angereist seien. Es sei nach «Freiheit» und «Widerstand» gerufen worden, auch seien Parolen gerufen worden wie «die grösste Verschwörungstheorie ist die Corona-Pandemie». Weiter erwähnt der nur mit der Quellenangabe «SDA» gekennzeichnete Artikel, dass das Motto der Demonstration gelautet habe: «Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit» und dass «Tag der Freiheit» der Titel eines Propagandafilms der «Nazi-Ikone» Leni Riefenstahl über den NSDAP-Parteitag 1935 gewesen sei. Schliesslich wird darauf hingewiesen, dass es «Unverständnis für die Demo» von politischer Seite gegeben habe. Zitiert werden je ein Vertreter von SPD und CDU, der letztere mit der Bemerkung «diesen gefährlichen Blödsinn können wir uns nicht mehr leisten».

B. Mit Eingabe vom 4. September 2020 reichte X. Beschwerde gegen diesen Artikel beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verstosse gegen die Ziffern 8 (Diskriminierungsverbot) und 3 (Unterschlagung von wichtigen Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») und gegen einzelne Richtlinien (RL) zur «Erklärung», nämlich 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), eventuell 1.1 (Wahrheitssuche) sowie 8.2 (Diskriminierungsverbot, wird im Folgenden unter Ziffer 8 der «Erklärung» behandelt).

Den Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot (Ziffer 8 der «Erklärung») sieht der Beschwerdeführer (BF) darin begründet, dass die Demonstrierenden als Nazis und Leugner bezeichnet würden, wobei dies nicht als Kommentar gekennzeichnet werde.

Die Unterschlagung wichtiger Informationen (Ziffer 3) sieht der BF darin, dass mit der Formulierung «Unverständnis gab es von politischer Seite» suggeriert werde, dass es überhaupt kein Verständnis von politischer Seite gegeben habe. Das stimme nicht, zitiert werden zum Beleg verschiedene AfD-Stimmen.

Die fehlende Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3, evtl. 1.1) sieht der BF damit verletzt, dass eine «irrelevante Information» beigestellt werde, wonach «Tag der Freiheit» Titel eines Nazi-Propagandafilms gewesen sei. Damit würden die Demonstrierenden moralisch schlecht gemacht und dem Nazi-Gedankengut gleichgestellt. Zum Beleg für die Unzulässigkeit dieses Hinweises macht X. darauf aufmerksam, dass bei einer Google-Suche «Tag der Freiheit» auch millionenfach auftauche, wenn man die Wörter «Leni», «Nazi», «Demo» oder «Nationalsozialismus» ausschliesse. «Corona-Leugner-Demo» sei ebenfalls wertend und hätte als Kommentar gekennzeichnet werden müssen. Und dass Leni Riefenstahl eine «Nazi-Ikone» gewesen sei, entspreche ebenfalls einer Meinung und nicht einem Fakt.

C. Am 2. September 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, dass er die Beschwerde gestützt auf Art. 17 Abs. 2 des Geschäftsreglements auf die geltend gemachte Verletzung der Ziffer 1 (explizit: Richtlinie 1.1 Wahrheitssuche) beschränkt und er bat den Rechtsdienst der TX Group, zu welcher «20 Minuten» gehört, um eine Stellungnahme unter diesem speziellen Gesichtspunkt.

D. Am 29. September 2020 nahm die Beschwerdegegnerin (BG) Stellung zur Beschwerde und beantragte Nichteintreten, allenfalls Abweisung der Beschwerde.

Das Begehren um Nichteintreten wird damit begründet, dass die kritisierte Bezeichnung der Demonstrierenden als «Corona-Leugner» schon weniger als fünf Stunden nach Erscheinen des Artikels abgeändert worden sei in «Corona-Skeptiker». Damit sei gemäss Art. 11 Abs. 2 die Voraussetzung für ein Nichteintreten auf diesen Punkt gegeben. Dieser besage, dass der Presserat nicht auf eine Beschwerde eintrete, wenn die Redaktion in einer Angelegenheit von geringer Relevanz bereits Korrekturmassnahmen ergriffen hat. Der Begriff «Corona-Leugner» werde – so «20 Minuten» – seit langem von verschiedenen Medien gebraucht, die BG verzichte seit Juli darauf, deswegen habe man den Begriff auch hier geändert.

Zu den einzelnen Vorwürfen führt die BG hinsichtlich eines Verstosses gegen die Wahrheitspflicht an: «20min.ch» sei immer wahrheitsgetreu bei den Fakten geblieben und habe entsprechend die Ziffer 1 der «Erklärung» nicht verletzt. So habe man nie behauptet, sämtliche Teilnehmenden an der Demonstration seien Nazis gewesen. Hingegen treffe es zu, dass sich die Demonstrierenden an Nazi-Vokabular bedient hätten. Als Beleg dafür habe man, wie andere Medien auch, den Hinweis auf den erwähnten Riefenstahl-Film gebracht. Hinzu komme, dass schon verschiedentlich Rechtsradikale an Corona-Demonstrationen mitmarschiert sind, was in Deutschland breit diskutiert worden sei. Zudem sei die Quelle eine professionelle Agentur gewesen, auf die man sich als Medium verlassen dürfe. Im Weiteren sei der Verweis des BF auf eine Google-Suche insofern nicht schlüssig, als eine Suche nach «Tag der Freiheit» immer als Topergebnisse Hinweise auf genau den fraglichen Riefenstahl-Film ergäbe.

Weiter verweist die BG darauf, dass die Formulierung «Unverständnis für die Demo gab es von politischer Seite» nicht suggeriere, dass es gar kein Verständnis von Politikern gegeben habe. Die Bezeichnung von Leni Riefenstahl als «Nazi-Ikone» sei im Weiteren kein Kommentar, sondern eine durch Fakten und die Bezeichnung in anderen Medien gestützte Charakterisierung. Von einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht könne keine Rede sein, auch nicht von einem solchen gegen die übrigen vom BF erwähnten Regelungen.

E. Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presserats-präsidium, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, sowie Casper Selg und Max Trossmann, Vizepräsidenten, Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 15. Februar 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gestützt auf Art. 11 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn diese offensichtlich unbegründet ist. Das ist hier der Fall:

Zum Vorwurf, wonach die Teilnehmer der Demonstration ursprünglich in Titel und Untertitel als «Corona-Leugner» bezeichnet und damit diskriminiert worden seien: Hier ist nach der Reduktion der Beschwerde auf den allfälligen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht zu prüfen, ob und inwieweit diese Bezeichnung allenfalls den Tatsachen widerspricht.

An dieser Demonstration wurde offensichtlich davon ausgegangen, dass Corona, die Erkrankung «Covid-19», keine wirkliche Gefahr darstelle, weswegen man sich gegen das vorgeschriebene Maskentragen aussprach und grösstenteils auch selber keine Masken trug, man hielt auch die vorgeschriebenen Abstände nicht ein, man ging davon aus, dass die Pandemie eine Erfindung sei («Die grösste Verschwörungstheorie ist die Corona-Pandemie»: Slogan, der während der Demonstration skandiert wurde). Einen Demonstrationszug, der von derartigen Haltungen geprägt wird, als eine Gruppe von Corona-Leugnern zu bezeichnen, ist entsprechend nicht wahrheitswidrig. Es mag zwar sehr wohl diskriminierend wirken für diejenigen, die sich gegen Masken wehren, aber die Pandemie als Problem nicht leugnen. Aber deren Position ist offensichtlich an dieser speziellen Demonstration nicht tragend zur Geltung gekommen. Die Ziffer 1 der «Erklärung» war mit dieser Bezeichnung der Demonstrierenden nicht verletzt.

Hinzu kommt, dass «20min.ch» sowohl die inkriminierte Schlagzeile wie auch den Untertitel – nach eigener Angabe – innert knapp fünf Stunden nach Veröffentlichung des Artikels abgeändert und «Corona-Leugner» durch «Corona-Skeptiker» ersetzt hat. Damit wäre der Mangel, wenn man ihn denn als solchen sähe, gemäss Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements ohnehin behoben worden. Die Ziffer 1 der «Erklärung» ist entsprechend klar nicht verletzt.

2. Wenn der BF kritisiert, der Satz «Unverständnis gab es von politischer Seite» suggeriere, dass es von politischer Seite «überhaupt kein Verständnis gegeben habe», was aber nicht stimme, so ist dem zu widersprechen. Der Satz sagt, was er sagt: Es gab Unverständnis von politischer Seite. Zitiert werden Vertreter von SPD, also Mitte links, und CDU, also Mitte rechts oder Mitte. Der Satz sagt eindeutig nicht, es habe nur Unverständnis gegeben. Auch hier wurde nichts Unwahres berichtet, die Ziffer 1 der «Erklärung» ist auch in diesem Punkt klar nicht verletzt.

3. Der BF kritisiert, der Hinweis im Artikel, wonach «Tag der Freiheit» Titel eines Propagandafilms von Leni Riefenstahl über den NSDAP-Parteitag 1935 gewesen sei, sei «irrelevant» und vor allem irreführend, weil damit die Demonstranten kollektiv als schlecht und dem Nazi-Gedankengut nah dargestellt würden. Auch das trifft so nicht zu: Es wird in diesem Artikel nicht gesagt, alle Demonstrierenden seien Nazi-nah: Es wird auf das (von den OrganisatorInnen offensichtlich bewusst formulierte) Motto der Demonstration verwiesen, weiter auf den Zusammenhang Riefenstahl und schliesslich auf «Stuttgart 711Querdenker», wo schon bei früheren vergleichbaren Gelegenheiten in Stuttgart direkt oder angedeutet Bezug auf Riefenstahl genommen worden war.

Dies zu erwähnen ist in einem thematischen Kontext (Anti-Corona-Massnahmen-Demos), in welchem neben verschiedenen anderen auch Rechtsradikale und Neonazis aktiv mitmarschieren, legitim und auch relevant. Wer in diesem Umfeld einen solchen Slogan wählt, tut dies bewusst, er weiss, wie er verstanden werden kann oder will. Auch hier: kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

4. Schliesslich: Wenn Leni Riefenstahl als «Nazi-Ikone» bezeichnet wird, so ist das für eine Frau, die mit den obersten Nazi-Grössen persönlich sehr vertraut war und von ihnen verehrt wurde, die aber vor allem für Adolf Hitler drei Nazi-Propagandafilme gedreht hat, nicht irreführend und nicht faktenwidrig. Die Wahrheitspflicht, Ziffer 1 der «Erklärung», ist auch mit dieser Charakterisierung nicht verletzt.

Die Beschwerde ist somit insgesamt offensichtlich unbegründet.

III. Feststellung

Der Presserat tritt auf die Beschwerde nicht ein.