Nr. 31/2025
Wahrheit / Kommentarfreiheit / Information

(X. c. «Aargauer Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 10. April 2024 veröffentlichte die «Aargauer Zeitung» einen Text von Christian Berzins mit dem Titel «Warum sich der neue ‹Boswiler Sommer› fulminant durchsetzen wird». Es handelt sich um eine Kolumne zum Klassik-Festival im Künstlerhaus Boswil. Die neuen Festivalleiter hätten sich kompromisslos ins Abenteuer gestürzt, um zuerst den «Boswiler Frühling», dann den «Boswiler Herbst» und 2025 den «Boswiler Sommer» zu veranstalten. Der Autor beschrieb und lobte die Eröffnungskonzerte, kritisierte aber, dass viele Sitzplätze leer geblieben seien. Er schreibt darüber, dass offenbar das Vertrauen ins neue Festival-Team noch fehle und stellt verschiedene Spekulationen an: Dahinter könne ein Schmollen der Stammgäste und Freunde des ehemaligen Festivalleiters Andreas Fleck stecken. Allenfalls sei aber auch zu wenig konform programmiert worden. Oder es liege an den Preisen und am – durch einen «lächerlichen Zufall» – gleichentags stattfindenden günstigeren Konzert in Aarau, das von Fleck veranstaltet wurde. Abschliessend äussert der Journalist die Ansicht, die dramaturgisch ausgefeilten Programme der neuen Leitung würden sich durchsetzen, die MusikerInnen seien Weltklasse und das werde sich herumsprechen.

B. Am 8. Mai 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel in der «Aargauer Zeitung» ein. Der ehemalige künstlerische Leiter des Künstlerhauses Boswil ist der Ansicht, der Artikel sei rufschädigend. Die pure Spekulation, dass seine Stammgäste und Freunde schmollen würden, verletze die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (entstellende Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), die Wortwahl (Schmusestücke und Repertoireheuler) sei abwertend. Dazu werde gegen die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) verstossen, weil beides ineinander verschwimme und zur Pseudoinformation werde. Dass das schmollende Publikum lieber ein billigeres Konzert besucht habe als die teureren Karten in Boswil zu kaufen, spinne diese Abwertung weiter und verletze Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche). Am schwerwiegendsten ist für den Beschwerdeführer, dass die Überschneidung seiner Konzerte in Aarau und dem Festival in Boswil als «lächerlicher Zufall» bezeichnet werde. Die Wahrheit sei, dass seine Aarauer Konzerte ursprünglich in Boswil hätten stattfinden sollen und dann wegen Eigenbedarf des Künstlerhauses verschoben werden mussten.

C. Am 6. März 2025 nahm der Chefredaktor von CH Media, Patrik Müller, im Namen der Redaktion Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Es sei in keiner Weise darum gegangen, Andreas Flecks Ruf zu beschädigen. Im Vorfeld habe Fleck vielmehr versucht, den Journalisten dazu zu bewegen, den neuen Geschäftsführer schlecht zu schreiben. Was dieser nicht getan habe. Auch dass Fleck vom Kulturressort der «Aargauer Zeitung» als «Verlierer des Jahrs 2023» nominiert worden sei, woraufhin er mit einer Beschwerde beim Presserat gedroht habe, gehöre zur Vorgeschichte. Der Ausdruck «lächerlicher Zufall» im Zusammenhang mit der Überschneidung der Konzerte sei neutral gedacht. Insgesamt sei der Text von der Kommentarfreiheit gedeckt.

D. Am 22. April 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 15. August 2025 verabschiedet.

II. Erwägung

Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von JournalistInnen, dass sie sich an die Wahrheit halten, ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Ziffer 3 der «Erklärung» beinhaltet u. a. die Pflicht, keine wichtigen Elemente von Informationen zu unterschlagen. Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» gibt an, dass die Wahrheitssuche den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit darstellt. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten voraus. Und Richtlinie 2.3 sieht vor, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann.

Der monierte Text ist der Bericht eines Musikkritikers über den «Boswiler Frühling» beziehungsweise den «Boswiler Sommer» unter neuer Leitung. Die «Aargauer Zeitung» macht geltend, es handle sich bei dessen Kritik zwar um spitze Kommentare, die aber von der Kommentarfreiheit gedeckt seien. Tatsächlich ist im Text klar erkennbar, dass der Autor nur mutmasst, wo die «schmollenden» Musikfreundinnen und -freunde diesen Tag verbracht haben könnten. Eine solche Mutmassung ist in einer Kolumne von der Kommentarfreiheit gedeckt und verletzt demnach weder Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) noch Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) oder Ziffer 3 (entstellende Informationen) der «Erklärung». Dies gilt auch für die Wortwahl: «Schmusestücke» und «Repertoireheuler» sind zwar keine neutralen Begriffe, das wird in einer Konzertkritik aber auch nicht erwartet. Der Journalist behauptet auch nicht, dass derartige «Schmusestücke» gleichentags in Aarau gespielt worden seien. Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) bzw. die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» sind nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Aargauer Zeitung» hat mit dem Beitrag «Warum sich der neue ‹Boswiler Sommer› fulminant durchsetzen wird» vom 10. April 2024 die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Kommentarfreiheit) und 3 (Information) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.