Nr. 60/2020
Wahrheit

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Januar 2020 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Kommentar von Ulrich von Schwerin zum Ergebnis des Gipfeltreffens von Bundeskanzlerin Merkel mit dem türkischen Präsidenten Erdogan unter dem Titel «Lasst die Türkei ruhig drohen». Der Kommentator macht darin deutlich, dass die EU und ihre Vertreter sich angesichts der Drohungen von Erdogan, die Schleusen für Flüchtlinge nach Europa zu öffnen, nicht beeindrucken lassen, sich nicht «kleiner machen» sollten als nötig. Die Türkei sei auf den Handel mit der EU stärker angewiesen als umgekehrt.

Im Rahmen seiner Argumentation schrieb der Kommentator den Satz «Wie gross dieses [türkische, der Presserat] Interesse ist, zeigt die Tatsache, dass die Türkei ihren Teil des Abkommens weitgehend liefert, obwohl die Europäer ihre damaligen Versprechen nach einer Visa-Liberalisierung, der Beschleunigung der EU-Beitrittsgespräche und der Ausweitung der Zollunion nicht erfüllt haben. Ankara braucht die Milliarden aus Brüssel, um die Flüchtlinge zu versorgen, die angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in der Bevölkerung immer mehr als Belastung empfunden werden.»

B. Mit Eingabe vom 17. Februar 2020 reichte X. Beschwerde gegen diesen Artikel beim Schweizer Presserat ein. Er beanstandet einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»), wenn der Kommentator schreibt, die Europäer hätten ihr Versprechen «nach einer Visa-Liberalisierung … nicht erfüllt». Dieser Teil des Satzes beinhalte den Vorwurf eines Vertragsbruchs der EU gegenüber der Türkei und das sei klar falsch. Der Beschwerdeführer nennt verschiedene Texte, welche belegten, dass die Türkei in dieser Frage der Visa-Erleichterungen vorleistungspflichtig sei, sie habe sich insbesondere verpflichtet, zuvor ihre Gesetzgebung hinsichtlich des organisierten Verbrechens und des Terrorismus den Regelungen der EU anzugleichen. Das sei nicht geschehen, entsprechend sei die kommentierende Bemerkung des Autors tatsachenwidrig.

C. Am 19. März 2020 nahm Peter Rásonyi, der Auslandchef der NZZ, Stellung zur Beschwerde. Er macht geltend, der Kommentar werfe der EU nicht einen Vertragsbruch vor, wenn der Beschwerdeführer das so verstanden habe, handle es sich um ein Missverständnis. Der fragliche Satz stelle nur fest, dass die Europäer ihre Verpflichtung zur Visa-Liberalisierung nicht erfüllt hätten, das sei auch richtig, nur werde nicht gesagt, weshalb sie das nicht getan haben, nämlich weil die Türkei ihren Teil noch gar nicht geleistet hätte. Dass die EU damit einen Vertragsbruch begehe, wie X. das impliziere, sei damit aber nicht gesagt.

D. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident, hat die vorliegende Stellungnahme per 17. August 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägung

«Wie gross dieses Interesse ist, zeigt die Tatsache, dass die Türkei ihren Teil des Abkommens weitgehend liefert, obwohl die Europäer ihre damaligen Versprechen nach einer Visa-Liberalisierung, der Beschleunigung der EU-Beitrittsgespräche und der Ausweitung der Zollunion nicht erfüllt haben.» Dieser Satz impliziert, dass die eine Seite einer Vereinbarung diese «weitgehend» (das heisst auch: nicht vollständig) einhält, während die andere ihre Versprechen gar nicht eingelöst hat. Er geht aber nicht auf die Gründe des Verhaltens der EU ein, anders als auf Seiten der Türkei, welche sich angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten im Zugzwang sehe.

Der NZZ ist zwar zuzustimmen, dass damit nicht ausdrücklich gesagt ist, die EU sei vertragsbrüchig. Es wird umgekehrt von der Türkei auch nur gesagt, sie liefere ihren Teil des Abkommens «weitgehend». Aber der durchschnittliche Leser, die durchschnittliche Leserin, auf deren mutmassliches Verständnis einer Textpassage der Presserat jeweils abstellt, wird die Passage sehr wohl so verstehen, dass die «Europäer» ihre geschuldeten Leistungen (aus welchen Gründen auch immer) nicht erbracht haben, während die Türkei dies «weitgehend» getan habe.

Für einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht setzt der Presserat jeweils eine klar falsche, wahrheitswidrige Aussage voraus. In geringeren Fällen geht er von einem Irrtum, einer journalistischen Ungenauigkeit oder einem redaktionellen Fehler aus, den er nicht mit einem regelrechten Verstoss gegen die Verpflichtung zur Wahrheit gleichsetzt. So auch hier: Die NZZ teilt ja offensichtlich die Sichtweise des Beschwerdeführers, was die Kausalkette bezüglich der Erfüllung von Vereinbarungen angeht, sie geht ebenfalls davon aus, dass die Türkei ihre Zusagen hinsichtlich der Gesetzgebung zum organisierten Verbrechen und zum Terrorismus zuerst hätte einlösen müssen. Angesichts all dessen war die Formulierung des Kommentators zwar klar irreführend, der Presserat sieht hier aber eher eine fehlerhafte Formulierung und keinen eigentlichen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der Kommentar der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27. Januar 2020 mit dem Titel «Lasst die Türkei ruhig drohen» hat die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.