Nr. 48/2024
Wahrheit / Unterschlagen wichtiger Informationen / Kommentare / Leserbriefe

(X. c. «FM1Today»)

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I. Sachverhalt

A. Am 16. Dezember 2023 erschien auf dem Instagram-Kanal des Ostschweizer Regionalmediums «FM1Today» ein Video mit dem Titel «Verfolgungsjagd mit jungem St. Galler». Der Einleitungstext neben dem Videofenster lautete: «Ein Jugendlicher ist am Samstagmorgen in Weesen vor der Polizei abgehauen und über 30 Kilometer weitergefahren. In Richterswil am Zürichsee hat er schliesslich einen Unfall gebaut. Verletzt wurde niemand. Wie später bekannt wurde, hat er das Auto in Buchs SG gestohlen.» Das Video beginnt mit dem Satz «Ein 16-Jähriger aus dem Kanton St. Gallen liefert sich eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei». Danach wird zu Bildern des Unfallortes der Hergang der Verfolgungsjagd und des abschliessenden Unfalls geschildert, teilweise mit Einspielungen des Polizeisprechers. Gegen Schluss, nach knapp 40 Sekunden, folgt der Satz «Beim Autofahrer handelt es sich um einen 16-jährigen Algerier, der natürlich noch keinen Führerausweis hat».

B. Am 25. Dezember 2023 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Beitrag verletze die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die zugehörige Richtlinie 5.2 (Online-Kommentare).

Die Ziffer 1 der «Erklärung» sieht der Beschwerdeführer verletzt, weil der Titel des Videos nur von einem «jungen St. Galler» spreche, was auch im Beitrag als Text der Off-Stimme so weitergeführt werde. Das sei wahrheitswidrig, hier werde ein minderjähriger krimineller Algerier zu einem «jungen St. Galler» verfälscht. Bei Instagram-Beiträgen komme es in erster Linie darauf an, was auf dem Titel und allenfalls in den ersten Sequenzen des Videos kommuniziert werde. Umso wichtiger sei es, dass der Videotitel der Wahrheit entspreche.

Das Unterschlagen der Nationalität des Täters verletze aus dem gleichen Grund auch die Ziffer 3 der «Erklärung», welche das Unterschlagen wichtiger Informationen sanktioniere. Die Polizeimeldung habe die Nationalität bewusst erwähnt, der Bericht erst ganz am Schluss, was bei einem Instagram-Beitrag nicht ausreiche.

Schliesslich sei die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare) zur «Erklärung» verletzt, weil die Redaktion sämtliche Kommentare zum Video gelöscht habe, welche die Nationalität des Täters erwähnt hätten, das habe auch gegolten für wertungsfreie Kommentare, die nur die Nationalität des Täters veröffentlicht hätten. Man habe sich also nicht nur auf die Ausnahmeregelung für «ehrverletzende oder diskriminierende Kommentare» berufen. Mit der systematischen Löschung aller Kommentare verletze «FM1Today» auch die Meinungsfreiheit.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 15. Mai 2024 beantragte der Chefredaktor von «FM1Today», Christian Ortner, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Den Antrag auf Nichteintreten begründet er nicht. Die geltend gemachte Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» und damit auch der Ziffer 3 verneint das Regionalmedium mit der Begründung, der Titel entspreche der Wahrheit. Der junge Mann habe seinen Lebensmittelpunkt in St. Gallen. Der Titel könne aufgrund der Vorgaben nicht ausführlicher sein, zudem spreche man angesichts der Ausrichtung des Instagram-Kanals das Element «Regionalität» bewusst als erstes an. Als Zweites spreche man, im ersten Satz des Beitrags, mit Blick auf das Alter der Benutzer des Kanals, die Jugendlichkeit an («16-Jähriger») und schliesslich werde nach 39 Sekunden auch die Nationalität thematisiert. Man habe also korrekt informiert, hinzu komme aber, dass die Nationalität im gegebenen Kontext «Unfallverursacher» ohnehin keine Rolle spiele, weil kein Kausalzusammenhang bestehe zwischen Nationalität und «einem gewissen Verhalten im Strassenverkehr».

Die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare) sieht die Redaktion nicht tangiert. Man filtere Kommentare heraus, welche den Kommentarregeln widersprächen oder welche nichts zu einer konstruktiven Diskussion beitragen würden. Dabei verweist «FM1Today» auf die entsprechende, ausführliche eigene Regelung.

D. Am 29. Mai 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin. Die Präsidentin Susan Boos trat in den Ausstand.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 11. November 2024 verabschiedet.

 

II. Erwägungen

1. Zu den Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung»: Der Presserat geht davon aus, dass die Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) einen Spezialfall zu Ziffer 1 (Verpflichtung zur Wahrheit) beinhaltet und fasst die beiden zusammen. Dabei muss er die unter den Parteien umstrittene Frage nicht beantworten, ob die Nationalität des Fahrers für den beschriebenen Ablauf kausal und damit relevant sei. Denn der Bericht – im Video wie schriftlich im Artikel, auf den ebenfalls verwiesen wird – spricht die Nationalität an. Sie wurde nicht unterschlagen, sie wurde genannt.

Damit stellt sich nur die Frage, ob dieses Element «Nationalität des Unfallverursachers», weil «erst» nach 39 Sekunden genannt, damit so falsch platziert war, dass bei BetrachterInnen ein falscher Eindruck entstand.

Der Presserat geht grundsätzlich davon aus, dass der Anspruch an die inhaltliche Richtigkeit eines journalistischen Beitrags nicht so weit vom jeweiligen Format abhängen kann, dass «richtig» nur noch genannt werden kann, was in den ersten Sekunden einer Rezeption «hängenbleibt». Es darf – grundsätzlich – nicht sein, dass ein Element, das «erst» nach 39 Sekunden in einem insgesamt 1 Minute und 11 Sekunden dauernden Beitrag aufgeführt wird, als nicht erwähnt gilt.

Die Antwort auf die dennoch zu beantwortende Frage, ob im konkreten Fall die fragliche Information richtig platziert war, hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Man kann mit dem Beschwerdeführer davon ausgehen, dass die Nationalität im Kontext der gegenwärtigen Diskussionen von erheblicher Wichtigkeit war und gleich zu Beginn, schon im Titel, hätte genannt werden müssen. Oder man kann mit der Redaktion davon ausgehen, dass kein direkter Zusammenhang zwischen Unfall und Nationalität bestand, dass die Elemente Wohnsitz und Alter aus ihrer Perspektive vorrangig sei: Lebensmittelpunkt St. Gallen, Alter 16 Jahre. Schliesslich kann es auch angezeigt sein, den Aspekt «nicht diskriminieren» stärker zu berücksichtigen und das Thema «Herkunft» deswegen nur sehr diskret anzusprechen, um nicht Emotionen gegen eine ganze Volksgruppe zu befeuern. Hier geht es letztlich um eine journalistische Gewichtung, welche sich der Beurteilung des Presserates entzieht. Die Ziffern 1 und 3 der «Erklärung» wurden nicht verletzt.

2. Die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare) stellt klar, dass für die Veröffentlichung von Leserbriefen und Online-Kommentaren die gleichen Verantwortlichkeiten gelten wie für den redaktionellen Teil. Das heisst, die Redaktion ist inhaltlich verantwortlich dafür, dass die medienethischen Grundsätze auch im Kommentarbereich umgesetzt werden. Dazu gehört, dass sie Kommentare redigieren und streichen darf, wenn sie die «Erklärung» oder die internen Richtlinien der Redaktion verletzen. Ob und in welchem Mass dies hier der Fall gewesen ist, entzieht sich der Kenntnis des Presserates, dazu liegen ihm keine Unterlagen vor. Ein Anspruch auf die Publikation von Online-Kommentaren oder Leserbriefen besteht nicht (siehe Stellungnahmen 79/2020, 28/2002). Eine Verletzung der Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare) ist nicht erstellt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «FM1Today» hat mit dem Video-Beitrag «Verfolgungsjagd mit jungem St. Galler» vom 16. Dezember 2023 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 5 (Online-Kommentare) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.