Nr. 44/2024
Meinungspluralismus / Trennung von Fakten und Kommentar / Eintreten

(X c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 26. Oktober 2023 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Artikel mit dem Titel «Einseitige Meinungsmache: Tiktok verbreitet vor allem propalästinensische Videos». Untertitel: «Kein soziales Netzwerk bietet ausgewogene Informationen zum Krieg zwischen Israel und der Hamas. Aber auf Tiktok scheint sich die chinesische Propaganda abzuzeichnen». Gezeichnet ist der Artikel von Gioia da Silva, Katrin Büchenbacher und Seda Motie. Der Lauftext handelt davon, dass sich «palästinensisches Gedankengut» insbesondere auf Tiktok besonders schnell verbreite. Es scheine so, als würde eine Pro-Palästina-Positionierung auf Tiktok gerade zum Kulturgut. Es gebe zwar keine Fake News, aber der geheime Tiktok-Algorithmus scheine pro-palästinensische Sichtweisen und Meinungen zu favorisieren. Der Mutterkonzern von Tiktok sei chinesisch. Angesichts der angeblich «neutralen» Haltung Chinas im Gaza-Krieg stelle sich die Frage, ob die inhaltliche Ausrichtung chinesischer Regierungsverlautbarungen auch Tiktok gegenüber vorgegeben werde. Die Betreiberfirma bestreite dies zwar, aber ein Zugriff des chinesischen Staates auf derartige Inhalte wäre für diesen – so die NZZ – von strategischem Interesse in der globalen Meinungsmache von jungen Menschen.

Tiktok sei aber nicht die einzige Plattform, der einseitige Meinungsmache vorgeworfen wird. Instagram und Facebook, die Plattformen des Meta-Konzerns, stünden umgekehrt in der Kritik, weil sie laut Angaben von arabischen Nutzerinnen und Nutzern die Reichweite von propalästinensischen Inhalten mittels «Shadow-Banning» beschnitten. Der Gründer und CEO des Meta-Konzerns, Mark Zuckerberg, stamme aus jüdischem Elternhaus und auch Adam Mosseri, der Leiter von Instagram, habe Familie in Israel. Der Artikel schliesst mit dem Fazit «Eine ausgewogene Auseinandersetzung mit den Fakten darf man auf diesen Plattformen nicht erwarten».

B. Mit Eingabe vom 27. Oktober 2023 reichte X. Beschwerde gegen diesen Artikel beim Schweizer Presserat ein. Die Beschwerdeführerin macht einen Verstoss gegen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.2 (Meinungspluralismus) und 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden: «Erklärung») geltend sowie gegen die Ziffer 3 (Unterschlagung wichtiger Elemente von Informationen) der «Erklärung».

C. Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements beurteilt das Presseratspräsidium, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin, ob auf eine Beschwerde einzutreten sei.

D. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 11. November 2024 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

 

II. Erwägungen

 1. Gestützt auf Art. 11 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn diese offensichtlich unbegründet ist.

Die Beschwerdeführerin sieht in der Formulierung «Damit lässt das Video keine Zweifel: Hier spricht jemand Israel die Existenz ab und sympathisiert mit dem Terrorismus» einen Verstoss gegen die Richtlinie 2.2 (Meinungspluralismus). Der Presserat stimmt dem nicht zu: Diese Richtlinie verlangt Vielfalt der Standpunkte nur für Medien, die sich in einer Monopolsituation befinden. Das ist bei der NZZ nicht der Fall, sowohl als Zürcher wie auch als gesamtschweizerisch verstandene Publikation ist die NZZ nicht Monopolistin. Sie ist nicht zur «Ausgewogenheit» verpflichtet, genauso wenig wie die «Weltwoche» oder die «Wochenzeitung». Im Übrigen ist nicht die im fraglichen Abschnitt falsch oder richtig beschriebene Haltung der betreffenden Influencerin Thema des Artikels, sondern die Funktionsweise und die hypende Wirkung von Plattformen wie Tiktok.

2. Die Beschwerdeführerin sieht weiter einen Verstoss gegen die gebotene Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3) in der Passage «Propalästinensisches Gedankengut scheint sich gegenwärtig besonders schnell auf Tiktok zu verbreiten. Die meisten Videos zeigen keinen derart offensichtlichen Israel-Hass. Dennoch haben viele eine eindeutige Positionierung: die bösen Israeli gegen die guten Palästinenser. Das ist problematisch.» Auch dieser Einschätzung kann der Presserat nicht zustimmen. «Das ist problematisch» bezieht sich im inhaltlichen Zusammenhang auf die beschriebene technische Funktions- und Wirkungsweise der Algorithmen – nämlich, dass diese eine bestimmte Position bevorzugen – und nicht, wie die Beschwerdeführerin das versteht, auf die Qualifizierung einer bestimmten Haltung. Man mag die in einzelnen Formulierungen möglicherweise durchscheinende Haltung der AutorInnen nicht teilen –das ist eine Frage des journalistischen Ansatzes, für welche der Presserat nicht zuständig ist – aber eine mangelnde Trennung von Fakten und Kommentar ist aus dem oben genannten Grund nicht gegeben.

3. Die Beschwerdeführerin sieht eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Richtlinie 1.1) in der Passage, welche die Rolle und Haltung der chinesischen Regierung zum Gaza-Krieg beschreibt, sowie deren mutmassliche Einflussnahme auf die Inhalte bei Tiktok. Diese Passage impliziere, so die Beschwerdeführerin, die Pro-Palästina-Bewegung sei letztlich bloss ein «Tiktok-Trend», hinter welchem die chinesische Regierung stecke. Dabei gebe es diese Bewegung schon lange. Auch hier geht die Beschwerdeführerin von einem falschen Bezug aus. Der Satz «ob hinter dem propalästinensischen Trend Regierungspropaganda steckt» und die folgenden Erläuterungen behaupten nicht, dass – ganz allgemein – die Pro-Palästina-Bewegung von Tiktok initiiert sei, was ja völlig absurd wäre. Sondern sie beziehen sich offensichtlich auf die spezielle pro-palästinensische Ausrichtung der Algorithmen bei Tiktok.

Gleich sieht es mit der zweiten Passage aus, welche die Beschwerdeführerin als «Frechheit auf allen Ebenen» bezeichnet: «… die Palästinenser hätten eine ‹historische Ungerechtigkeit› erlitten». Was die Beschwerdeführerin als skandalöse Relativierung durch diesen Konjunktiv bezeichnet, ist in Wirklichkeit kein Konjunktiv, sondern eine indirekte Rede: Die AutorInnen zitieren aus Verlautbarungen der chinesischen Regierung.

4. Einen Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen wichtiger Informationen) sieht die Beschwerdeführerin schliesslich darin, dass ein bestimmter Artikel von «nau.ch» nicht in die Berichterstattung aufgenommen wurde. Dort war berichtet worden, dass auf Instagram eine Weile lang auf palästinafreundlichen Beiträgen der Begriff «Terrorist» beigefügt worden sei, wofür sich Instagram dann öffentlich entschuldigt habe. Dies nicht zu nennen und die damit verbundene Zensur als «nicht erwiesen» darzustellen, sei eine Verletzung der journalistischen Pflicht.

Auch dem kann der Presserat nicht zustimmen: Erstens ist die Redaktion in der Auswahl ihrer Themen und Quellen frei, insbesondere bei einem Thema wie diesem, wo Tausende Texte, Audios, Videos zu den verschiedensten Aspekten existieren. Zweitens ist es unlogisch, von «Zensur» zu sprechen, wenn eine Institution ein Fehlverhalten anerkennt, sich entschuldigt und das fragliche Verhalten aufgibt.

Vor allem aber erscheint diese Thematik in einem Schlussabschnitt, der ausdrücklich festhält, dass nicht nur Inhalte, die sich mit den Palästinensern solidarisieren auf bestimmten Plattformen – wie Tiktok –bevorzugt werden, sondern umgekehrt auch pro-israelische auf Instagram und Facebook. Der Schlusssatz lautet, an beide Seiten gerichtet: «Eine ausgewogene Auseinandersetzung mit den Fakten darf man auf diesen Plattformen nicht erwarten.» Was daran einseitig und «Hasspropaganda» sein soll, erschliesst sich dem Presserat nicht.

Angesichts dieser Befunde erachtet der Presserat die Beschwerde als offensichtlich unbegründet. Der Artikel befasste sich nicht mit der Charakterisierung palästinensischer oder israelischer Politik, sondern mit der Wirkungsweise von sozialen Medien in einer Konfliktsituation und die Rolle aussenstehender Regierungen in diesem Zusammenhang. Er tat dies in einer Weise, welche die «Erklärung» nicht tangierte.

III. Feststellung

Der Presserat tritt auf die Beschwerde nicht ein.