I. Sachverhalt
A. Am 4. Januar 2024 veröffentlichte «20 Minuten» (online) einen Artikel mit dem Titel «‹Hätte böse enden können›: Eurobus-Fahrer schaut Video am Steuer», gezeichnet von Mikko Stamm. Der Artikel hat ein Video zur Grundlage, das die Redaktion von einem «News-Scout» erhalten hat. In einem Bus zwischen dem Europapark und Bern beziehungsweise Genf soll der Fahrer während der Fahrt ein Video auf seinem Handy geschaut haben. Ein Fahrgast filmte die Fahrt, während das Gerät links vom Fahrer auf dem Armaturenbrett lag. Laut «News-Scout» Angelo habe der Bus während der Fahrt mehrere Schlenker gemacht, dies bei stürmischem Wetter. Daher sei er zum Fahrer nach vorne gegangen, um zu sehen, was los war. Er habe den Fahrer aber nicht darauf angesprochen, um eine weitere Ablenkung zu vermeiden. Die Transportfirma Eurobus erfuhr erst durch «20 Minuten» vom Vorfall und kündigte eine Untersuchung an. Illustriert ist der Text von einem Video, das «News-Scout» Angelo von hinten aufgenommen hat, das die Fahrt sowie das Handy zeigt.
B. Am 27. Februar 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel auf «20 Minuten» (online) ein. Sie macht einen Verstoss gegen die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehörende Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) geltend. Das Video zeige Folgendes: Der Fahrer schaue offensichtlich geradeaus, fahre mit konstanter Geschwindigkeit und beiden Händen am Lenkrad, erratische Bewegungen oder Schlenker, die nicht auf die an jenem Tage herrschenden Wetterverhältnisse zurückzuführen gewesen wären, seien keine ersichtlich – es hätten starke Winde geherrscht. Nicht zu erkennen sei hingegen, dass der Fahrer während der Fahrt das Video auf dem Handy angeschaut habe, es lägen nicht genug Fakten oder auch nur Indizien vor, um eine solche Behauptung zu veröffentlichen. Diese mehrfach wiederholte Behauptung verstosse auch gegen die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar). Weiter sei die Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) verletzt. Die Beschwerdeführerin führt weiter aus, sie habe im Vorfeld der Beschwerde mit der Redaktion von «20 Minuten» Kontakt aufgenommen und in einem Mail geschildert, dass sie den betroffenen Chauffeur kontaktiert habe. Dieser habe ihr erzählt, dass der filmende «News-Scout» Teil einer pöbelnden Fahrgastgruppe gewesen sei. Er habe die Gruppe zurechtgewiesen, das Video sei eine Reaktion darauf. Die leichtfertige und ungeprüfte Publikation des Videos, welches potentiell rufschädigend und existenzgefährdend sei, verletze Richtlinie 3.1.
C. Am 10. Juni 2024 nahm der Rechtsdienst der TX Group für «20 Minuten» (online) zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung. Der Artikel beschreibe die Busfahrt aus der Perspektive eines Fahrgastes und schildere dessen Gefühlslage und Gedanken. Das Video zeige eindeutig ein Fehlverhalten des Chauffeurs, weil auf seinem Handy ein Video laufe. Ob er dieses aus dem Augenwinkel oder mit zugewandtem Kopf anschaue, spiele keine Rolle. Dieses Fehlverhalten verstosse gegen die firmeninternen Richtlinien und gegen die Verkehrsregelverordnung. Zudem habe sich der filmende Passagier offensichtlich unsicher geführt. Dass die Schlenker nicht gefilmt, sondern nur vom Leserreporter geschildert worden seien, stelle ebenfalls keinen Verstoss gegen die «Erklärung» dar. Die «Erklärung» sei eingehalten worden.
D. Am 8. Juli 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium des Presserats behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 23. Oktober 2024 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Gemäss Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» sind JournalistInnen der Wahrheitssuche verpflichtet. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus. Die Beschwerdeführerin führt aus, anhand des Videos sei einzig festzustellen, dass sich ein Handy auf dem Armaturenbrett befunden habe und darauf ein Video abgespielt werde. Allein gestützt auf diese Tatsache schliesse der Artikel darauf, dass der Chauffeur «während der Fahrt Videos schaute». Er suggeriere eine akute Gefahrensituation, welche in Wahrheit nicht vorgelegen habe. Es hätte sich auch um ein Musikvideo oder einen Podcast handeln können.
Letzterem ist grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings hätte der Chauffeur das Handy dann nicht zwingend auf das Armaturenbrett legen müssen. Wie sind demnach folgende Aussagen zu beurteilen? Es heisst im Titel «‹Hätte böse enden können›: Eurobus-Fahrer schaut Video am Steuer», im Lead «Ein Video eines 20-Minuten-Lesers zeigt, wie ein Chauffeur von Eurobus auf der Linie Europapark–Bern–Genf während der Fahrt auf dem Handy ein Video schaut» sowie im Artikel «Der 20-Minuten-Leser Angelo (25) filmte im Eurobus vom Europapark nach Bern und Genf, wie der Chauffeur am Steuer ein Video schaut» und «Als er zusammen mit seinem Kollegen am Dienstagabend mit Eurobus aus dem Europapark nach Hause reist, beobachtet er, wie der Busfahrer am Steuer Videos schaut (…)».
Die Aussagen sind im Indikativ wiedergegeben «Schaut ein Video bzw. schaut Videos» gibt den Sachverhalt wieder, wie ihn der «News-Scout» geschildert hat. Ob es genau so war, kann der Presserat nicht überprüfen. Es ist aber unbestritten, dass während der Busfahrt ein Video lief. Dass «20 Minuten» daraus schloss, dass der Busfahrer tatsächlich (wenn auch nur gelegentlich) das Video angeschaut hat, kann aus Sicht des Presserats nicht als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht interpretiert werden. Allein die Verwendung des Smartphones während der Fahrt ist ein gravierendes Fehlverhalten des Chauffeurs, über welches «20 Minuten» (online) in dieser (allenfalls verkürzten) Form berichten konnte. Die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) ist nicht verletzt.
2. Inwiefern Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung» verletzt worden sein soll, wird in der Beschwerde nicht begründet. Ein journalistischer Kommentar ist ein Meinungsbeitrag einer Journalistin, eines Journalisten zu einem bestimmten Thema, im Unterschied zu einem Bericht enthält ein Kommentar neben Fakten auch Wertungen. Wenn der Autor schreibt, der Chauffeur habe ein Video geschaut, oder dass der Fahrgast deswegen Angst bekommen habe, ist das keine Wertung, sondern eine Wiedergabe von Informationen, die er vom «News-Scout» erhalten hat und klar erkennbar kein Kommentar. Die Richtlinie 2.3 ist nicht verletzt.
3. Zuletzt beanstandet die Beschwerdeführerin eine Verletzung der zur «Erklärung» gehörenden Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung). «20 Minuten» (online) hat neben dem Video des Leserreporters auch die Aussagen von Eurobus, dass eine Untersuchung eingeleitet werde, wiedergegeben. Dass das Video von einem Fahrgast stammt, ist ausserdem klar bezeichnet. Zugeschickte Beiträge von sogenannten «News-Scouts» bergen tatsächlich ein grosses Risiko, weil gefälschte oder irreführende Videos geliefert werden können. Eine sorgfältige Überprüfung der Quellen ist daher zwingend. Im vorliegenden Fall gibt es aber keine Anhaltspunkte, dass das Video nicht echt sein soll. Richtlinie 3.1 ist nicht verletzt.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. «20 Minuten» (online) hat mit dem Beitrag «‹Hätte böse enden können›: Eurobus-Fahrer schaut Video am Steuer» vom 4. Januar 2024 die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3 (Quellen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.