Nr. 34/2024
Wahrheit / Berichtigung

(X. c. «Tages-Anzeiger»)

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1. Sachverhalt

A.
Am 4. Juli 2023 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» auf seinem Online-Portal «tagesanzeiger.ch» einen Artikel, gezeichnet von Thomas Kirchner in Paris, unter dem Titel «Rechtsextremer sammelt über eine Million Euro für Todesschützen». Untertitel: «Nach dem Tod des 17-jährigen Nahel gibt es in der politischen Mitte Empörung über eine Aktion des rechten Politikers Éric Zemmour (…)». Über dem folgenden Text war gross ein Porträt von Éric Zemmour zu sehen mit der Bildunterschrift: «Kritiker sprechen von einer ‹Spendenaktion der Schande›. Éric Zemmour sammelt Geld für den Polizisten, der mutmasslich Nahel erschoss.» Im folgenden Text ist vor allem davon die Rede, dass die Welle der Gewalt in den französischen Vorstädten dabei sei, abzuebben. Es wird kurz auf die Spendenaktion eingegangen, welche ein «Anhänger des rechtsextremen Politikers Éric Zemmour ausgelöst» habe. Weiter geht der Artikel den Ursachen der Gewalt nach und der Frage, was politisch unternommen werde.

B. Am 26. September 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel ein. Der Beschwerdeführer macht einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Zur Begründung führt er an, dass der Artikel davon berichte, ein Anhänger von Zemmour und nicht dieser selbst habe die umstrittene Spendenaktion lanciert. Es handle sich effektiv um Jean Messiha, einen früheren Sprecher von Zemmour. Damit seien sowohl der Titel als auch die Bildunterschrift falsch und verletzten die Wahrheitspflicht. Daran ändere auch nichts, dass der Sachverhalt im folgenden Text richtig wiedergegeben werde.

C. Am 7. Dezember 2023 nahm die Rechtsabteilung der TX Group, welcher der «Tages-Anzeiger» gehört, Stellung zur Beschwerde. Sie beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, weil die Redaktion bereits Korrekturmassnahmen im Sinne von Artikel 11 des Geschäftsreglements des Presserats ergriffen habe.
Dabei wird erläutert, dass dieser Text von der Kooperationspartnerin «Süddeutsche Zeitung» übernommen worden sei und dass sich dabei einige wenige unzutreffende Formulierungen eingeschlichen hätten. Die Unzulänglichkeiten beträfen den Lead, die Bebilderung (gemeint das grosse Porträt von Zemmour) und dessen Bildunterschrift. Der «Fliesstext», der eigentliche Artikel, sei korrekt wiedergegeben worden. Die Ungereimtheiten seien unmittelbar nach Bekanntwerden durch die vorliegende Beschwerde behoben worden. Insofern bestehe kein Handlungsbedarf mehr, das Prinzip der Wahrhaftigkeit sei zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr verletzt, eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» liege nicht vor, das Anliegen des Beschwerdeführers könne als gelöst betrachtet werden.

D.
Am 26. März 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gestützt auf Artikel 13 Abs. 1 vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos (im Ausstand), Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey (im Ausstand), Geschäftsführerin.

E.
Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 23. Oktober 2024 verabschiedet.


II. Erwägungen

1. Der «Tages-Anzeiger» beantragt Nichteintreten gemäss Artikel 11 («Nichteintreten») des Geschäftsreglements des Presserats. Dessen Absatz 1, Aufzählungspunkt 4 hält fest, der Presserat trete nicht auf eine Beschwerde ein, «wenn sich die betroffene Redaktion (…) bei einer Angelegenheit von geringer Relevanz öffentlich entschuldigt und/oder Korrekturmassnahmen ergriffen hat». Diese Bestimmung trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu: Wenn einem Politiker – egal aus welchem Grund – gravierendes Fehlverhalten vorgeworfen wird, geht es um eine Angelegenheit von erheblicher Relevanz. Erst recht, wenn der Vorwurf sehr prominent erhoben wird und sich zudem als falsch erweist. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein.

2. Es erscheint klar, dass die Behauptung von «tagesanzeiger.ch», Zemmour sammle Geld für den inhaftierten Polizisten, eindeutig falsch ist und dies vierfach: im Titel, im Lead, mit dem Porträt des zu Unrecht Beschuldigten und mit der Bildunterschrift. Damit hat die Redaktion gegen die Wahrheitspflicht von Ziffer 1 der «Erklärung» verstossen.

3. Hinzu kommt – vom Beschwerdeführer angesprochen, aber nicht mit der entsprechenden Bestimmung aufgeführt – ein Verstoss gegen die Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) zur «Erklärung»: Die Berichtigung einer falschen Information hat unverzüglich zu erfolgen. Zudem muss das Medium darauf hinweisen, dass, wann und weshalb es eine Korrektur vorgenommen hat, damit die Leserschaft ein richtiges Bild über die Informationslage erhält (vgl. dazu Stellungnahme 7/2024, Erwägung 3, mit den entsprechenden Verweisen auf die Praxis des Presserats). Im vorliegenden Fall wurden Monate nach der Veröffentlichung der Lead, das Bild sowie die Bildlegende entfernt, ohne jeden Hinweis auf die Korrektur und deren Gründe. Damit wurde gegen die Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) verstossen.


III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.

2. «tagesanzeiger.ch» hat mit dem Artikel «Rechtsextremer sammelt über eine Million Euro für Todesschützen» die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.