Zusammenfassung
Die Grüne Partei sei mitschuldig an den Gräueltaten im Ukrainekrieg: Unter anderem mit dieser Begründung hat das langjährige Parteimitglied und Luzerner Kantonsrat Urban Frye seinen Austritt aus der Partei begründet. Diesen gab er in einem Interview mit der «Luzerner Zeitung» bekannt. Die «Grünen» erfuhren auf diesem Weg davon. Sie wandten sich an den Presserat, weil sie im Interview mit Urban Frye die Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen verletzt sahen.
Der Presserat beurteilt dies anders. Gerade in politischen Interviews müssen pointierte Aussagen und harsche Vorwürfe möglich sein. Einzig bei einem gravierendem Fehlverhalten oder bei Rufschädigung muss die Gegenstimme eingeholt werden. Die Vorwürfe von Frye zielen allerdings nicht auf eine Einzelperson – und auch nicht auf eine einzelne Partei. Vielmehr wird im Interview deutlich, dass er die Mitschuld am Ukrainekrieg direkt an die Waffenlieferungen koppelt. Dies betrifft weit mehr Parteien und politische Akteure als die «Grünen». Frye zählt dazu auch Rechtsbürgerliche und «Putin-Versteher». Aufgrund dieser offenen Formulierung ist es zulässig, eine solche Meinung ohne Gegenstimme abzudrucken.
Résumé
Les Verts ont leur part de responsabilité dans les atrocités commises en Ukraine. C’est en invoquant notamment ce motif qu’Urban Frye, membre de longue date du parti et conseiller cantonal lucernois, a expliqué pourquoi il mettait fin à son activité dans un entretien publié dans la « Luzerner Zeitung ». Les Verts ont appris à travers cette publication quelles étaient les raisons qui animaient leur ancien collègue. Ils se sont adressés au Conseil suisse de la presse, jugeant que l’article violait l’obligation de donner aux personnes concernées la possibilité de prendre position en cas de reproches graves.
Le Conseil suisse de la presse a une autre interprétation de la situation. Les entretiens politiques, en particulier, doivent permettre aux personnes interrogées d’exprimer des prises de position tranchées et des critiques acerbes. Une audition ne s’impose que lorsque les déclarations font état de comportements gravement répréhensibles ou sont susceptibles de nuire sévèrement à la réputation de quelqu’un. Or les reproches d’Urban Frye ne visent pas une personne en particulier, et pas non plus un seul parti. L’entretien montre clairement que le politicien lie directement la responsabilité commune dans la guerre en Ukraine aux livraisons d’armes. Il vise donc bien plus de partis et d’acteurs politiques que les seuls Verts, notamment le camp bourgeois et les « soutiens à Poutine ». Vu le caractère large de ses déclarations, il est admissible de les publier sans entendre les voix contraires.
Riassunto
I «Verdi» sono complici delle atrocità commesse nella guerra d’Ucraina: questa è una delle motivazioni addotte da Urban Frye, membro di lunga data del partito e Consigliere cantonale di Lucerna, per lasciare il partito. Lo ha annunciato in un’intervista con il quotidiano «Luzerner Zeitung». Anche i «Verdi» ne sono venuti a conoscenza in questo modo. Si sono rivolti al Consiglio della stampa perché ritengono che l’intervista con Urban Frye abbia violato il dovere di ascolto in caso di gravi accuse.
Il Consiglio della stampa è di parere diverso: in particolare nelle interviste politiche, dev’esserci spazio per le dichiarazioni taglienti e le accuse dure. La controparte deve venir ascoltata solo in caso di grave scorrettezza o di danni alla reputazione. Inoltre, le accuse di Frye non sono rivolte né a un singolo individuo né a un singolo partito. Dall’intervista emerge piuttosto che egli collega la complicità alla guerra di Ucraina con la fornitura di armi. Ciò riguarda molti più partiti e attori politici dei «Verdi». Frye include anche la borghesia di destra e i «sostenitori» di Putin. Sulla base di questa formulazione aperta, è ammissibile pubblicare un’opinione di questo tipo senza ascoltare le controparti.
I. Sachverhalt
A. Am 30. September 2023 erschien in der «Luzerner Zeitung» unter dem Titel «Die Grünen schaden sich selbst» ein Interview mit Grünen-Kantonsrat Urban Frye. Darin legt dieser dar, weshalb er aus seiner Partei austritt. Als Hauptgrund gibt er eine unterschiedliche Einschätzung des Ukrainekrieges an. Frye erzählt, dass er sich mit der ukrainischen Bevölkerung eng verbunden fühle und schon mehrfach die Ukraine besucht habe – auch zwei Mal, nachdem der Krieg bereits ausgebrochen war. Seinen Parteikollegen und -kolleginnen auf nationaler und kantonaler Ebene wirft Frye vor, in einer «ideologischen pazifistischen Blase» gefangen zu sein und die Bedeutung des Krieges nicht erkannt zu haben. Er kritisiert, dass die Grünen Waffenlieferungen und deren Wiederexport verweigerten. Dadurch würden sie, gemäss Frye, nicht nur mit Rechtsbürgerlichen und «Putin-Verstehern» paktieren, sondern sich mitschuldig machen an den «Deportationen von Kindern, an der Vergewaltigung von Frauen, am Töten von Soldaten». Eine Debatte zum Ukrainekrieg sei innerhalb der Partei nicht möglich gewesen. Als Frye an einer Sitzung von seiner Ukraine-Reise berichtet habe, hätten seine Parteikolleginnen und -kollegen «bemerkenswert empathielos» reagiert. Auch auf nationaler Ebene stelle er diesbezüglich ein Desinteresse fest. Nach seinem Austritt könne er sich vorstellen, sich der GLP oder der Mitte-Partei anzuschliessen. Bei den Grünen und der SP fehle ihm «zuweilen der Sinn für die Realität». Besonders störend finde er, dass Links-Grün eine Täter-Opfer-Umkehr bei Fussballchaoten betreibe. Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten würde relativiert, indem den Ordnungshütern eine Mitschuld zugeschrieben werde. Die Fanmärsche hätten «faschistoide Züge», weshalb sie nicht zu rechtfertigen seien.
B. Am 16. Oktober 2023 reichte die Grüne Partei Luzern eine Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen die «Luzerner Zeitung» ein. Das Interview verletze die Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», in der Folge «Erklärung» genannt), was auch nicht durch eine Ausnahme (Richtlinie 3.9 Anhörung – Ausnahmen) zu rechtfertigen sei.
Die Grünen argumentieren, die gegen die Partei erhobenen Vorwürfe seien schwerwiegend. Frye würde sie beschuldigen, an der Deportation von Kindern, an der Vergewaltigung von Frauen und am Töten von Soldaten in der Ukraine mitschuldig zu sein. Auch werfe er der Partei vor, keine echte Diskussion zu den Waffenlieferungen in die Ukraine geführt zu haben, auf seine Erzählungen von der Ukraine-Reise empathielos reagiert zu haben und Gewalt an Polizistinnen und Polizisten zu relativieren. Die «Luzerner Zeitung» hätte gemäss dem Fairnessprinzip die Pflicht gehabt, die Partei zu den Vorwürfen anzuhören und eine Stellungnahme der Grünen in demselben Medienbericht zu berücksichtigen. Das sei aber nicht geschehen. Online sei gleichentags eine Medienmitteilung der Grünen aufgegriffen worden. Im Print seien Auszüge davon in der Ausgabe vom 3. Oktober erschienen. Dies aber in einem Artikel, der eine andere inhaltliche Ausrichtung hatte und der Frage nachging, in welcher Fraktion Urban Frye Anschluss finden könne.
C. Am 5. März 2024 nahm Christian Peter Meier, Chefredaktor der «Luzerner Zeitung», Stellung zur Beschwerde der Grünen. Diese sei abzuweisen. Der Interviewte Urban Frye richte seine Vorwürfe nicht an eine definierte Person, sondern pauschal an die Grünen auf nationaler und kantonaler Ebene. Die Aussage zu den Fussballchaoten beziehe sich mit der Nennung von «Links-Grün» auf mehrere Parteien. Selbst seine Einschätzung zu den Schilderungen der Ukraine-Reise ziele nicht auf Einzelpersonen, sondern betreffe die Mitglieder der Grünen-Fraktion im Luzerner Kantonsrat. Deshalb sei eine Anhörung einer Gegenseite nicht gegeben gewesen, zumal unklar sei, welche Passage welchen Personen hätte vorgelegt werden müssen.
Die Redaktion weist darauf hin, dass im Politgeschäft oft mit «harten Bandagen» gekämpft würde. Heftige Vorwürfe an politische Parteien seien an der Tagesordnung. Urban Fryes Aussagen würden dem folgen. Der einzige Unterschied sei, dass er die Vorwürfe gegen seine eigene bisherige Partei richte. Die Beschwerde sei seitens des Presserats auch deshalb abzuweisen, weil sie die Dynamik der politischen Berichterstattung verändern würde. Viele pointierte Aussagen müssten sonst unmittelbar mit einer Gegenposition ergänzt werden.
Ebenfalls sei zu berücksichtigen, argumentiert die «Luzerner Zeitung», dass Urban Frye einer der profiliertesten und bekanntesten Grünen-Politiker im Kanton sei und seinen Rücktritt exklusiv durch dieses Interview bekannt gegeben habe. Durch das unmittelbare Einholen von Reaktionen wäre dieser Primeur gefährdet gewesen. Online sei die Reaktion der Grünen zeitnah verbreitet worden. Im Print sei diese an erster Stelle in einem Nachzug erschienen.
D. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der 3. Kammer zu. Ihr gehören Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Simone Rau, Andri Rostetter, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx an.
E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 28. Mai 2024 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
Journalistinnen und Journalisten sind aufgrund der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» dazu verpflichtet, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Die zur Veröffentlichung vorgesehenen Vorwürfe sind dabei präzis zu benennen. Der Stellungnahme der von den Vorwürfen Betroffenen muss nicht derselbe Umfang im Medienbericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber diese ist in derselben Publikation fair wiederzugeben. 2023 hat der Presserat die Richtlinie 3.8 bezüglich schwerer Vorwürfe angepasst. In der alten Version war nicht festgelegt, was darunter zu verstehen ist. In langjähriger Praxis verlangte der Presserat eine Anhörung der Betroffenen, wenn illegales oder damit vergleichbares Handeln vorgeworfen wurde. In der neu geltenden Version von 3.8 heisst es: «Vorwürfe gelten als schwer, wenn sie gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonst wie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen.» Richtlinie 3.9 regelt die Ausnahmen. Auf eine Anhörung bei schweren Vorwürfen kann ausnahmsweise verzichtet werden, wenn sie sich auf öffentlich zugängliche amtliche Quellen stützen oder wenn zum Vorwurf bereits eine früher publizierte Stellungnahme vorliegt und diese erneut wiedergegeben wird. Eine dritte mögliche Ausnahme ist gegeben, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht.
In diesem Fall erhebt der Kantonsrat Urban Frye gegen seine bisherige Partei verschiedene Vorwürfe. Grundsätzlich gilt es zu beachten, dass in einem Interview pointierte Aussagen und auch harsche Vorwürfe möglich sein müssen. Davon lebt diese Form. Gleichzeitig können Medienschaffende die Verantwortung für die Inhalte eines solchen Gesprächs nicht bloss dem Interviewten zuschieben. Da sie für deren Verbreitung verantwortlich sind, liegt es an ihnen zu überprüfen, ob bei den Vorwürfen gegenüber Dritten eine Pflicht zur Anhörung vorliegt. Und dies unabhängig davon, ob es sich um einen Primeur oder um eine Exklusiv-Story handelt.
Mit den im Interview geäusserten Vorwürfe begründet Kantonsrat Frye seinen Austritt aus der Partei. Gemäss seinen Angaben ist er seit über dreissig Jahren ein Mitglied der Grünen und politisiert seit sechs Jahren für sie im Kantonsrat. Tritt ein gewählter Exekutivpolitiker aus seiner Partei aus, ist das öffentliche Interesse an den Hintergründen als gross zu taxieren. In diesem Fall, dem Mitglied einer Legislative, wiegen die einzelnen Vorwürfe unterschiedlich. Die Aussage, dass innerhalb der Grünen-Partei keine Diskussion zu den Waffenlieferungen in die Ukraine stattgefunden haben, ist ein persönlicher Eindruck von Urban Frye. Der Vorwurf richtet sich an die Grünen auf kantonaler als auch nationaler Ebene. Im Sinne des öffentlichen Interesses muss es möglich sein, dass ein politischer Akteur in einem Interview eine solche Kritik an (s)einer Partei üben kann, ohne dass in demselben Medienbeitrag die Kritisierten sich dazu äussern können. Ebenfalls als eine persönliche Einschätzung ist Fryes Aussage zu werten, dass auf seine Erzählungen der Ukraine-Reise die Parteikolleginnen und -kollegen empathielos reagiert haben. Die beiden Vorwürfe stützen sich auf Fryes persönliche Einschätzung respektive Wahrnehmung und enthalten kein gravierendes Fehlverhalten. Auch zielen sie nicht auf eine Einzelperson. Deshalb können sie gemäss Richtlinie 3.8 nicht als schwer bezeichnet werden.
Schwerer wiegt der Vorwurf von Frye, dass Links-Grün bei den Fussballchaoten eine Täter-Opfer-Umkehr betreibe und die Gewalt an Polizistinnen und Polizisten relativieren würde. Allerdings richtet sich der Vorwurf an ein politisches Lager und zielt nicht darauf ab, bestimmte Personen zu diffamieren. Die Anhörungspflicht ist bei einer solch unbestimmten und breit gefassten Aussage nicht gegeben. Es ist ja auch nicht klar, wem die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben werden müsste.
Der schwerwiegendste Vorwurf von Frye ist zweifellos jener, dass die Grüne-Partei an den Gräueltaten im Ukrainekrieg mitschuldig sein soll. Es gilt dabei die ganze Aussage und nicht nur einen Satz dieser Interview-Antwort zu berücksichtigen. Urban Frye sagt: «Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, können wir die Erreichung der Klimaziele vergessen. Es gibt dann keine Garantien mehr zwischen den Staaten. Indem die Grünen Waffenlieferungen konsequent verweigern, sogar den Wiederexport, sprechen sie der Ukraine faktisch das Recht zur Selbstverteidigung ab und gehen unheilige Allianzen ein mit Rechtsbürgerlichen und Putin-Verstehern wie Sahra Wagenknecht. Sie machen sich mitschuldig an den Deportationen von Kindern, an der Vergewaltigung von Frauen, am Töten von Soldaten. (…).» In diesem Kontext wird klar, dass Frye all jenen eine Mitschuld für die Gräueltaten zuschreibt, die sich gegen Waffenlieferungen stellen – und nicht einzig der Grünen Partei. Das ist seine Meinung und diese ohne Gegenstimme im Rahmen eines solchen Interviews abzudrucken ist entsprechend legitim und die Anhörungspflicht ist nicht verletzt.
Die «Luzerner Zeitung» argumentiert, durch eine Anhörung könnte ein Primeur gefährdet sein oder die Dynamik der politischen Berichterstattung könnte sich verändern. Wenn aber Vorwürfe so schwer sind, dass sie ein gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonstwie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen, dann ist eine Anhörung zwingend, ausser es können Ausnahmen gemäss Richtlinie 3.9 geltend gemacht werden. In diesem Fall liegt für den Presserat allerdings keine Anhörungspflicht vor.
III Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «Luzerner Zeitung» hat mit dem Interview «Die Grünen schaden sich selbst» Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.