Nr. 6/2024
Unschuldsvermutung

(X. c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 26. September 2023 veröffentlichte «Blick» einen Artikel gezeichnet von Beat Michel mit dem Titel «Die Killerin hat mich zum Tatort mitgeschleppt». Es geht um den Mord an einer Millionärin in Meierskappel (LU) und den Gerichtsprozess gegen die des Mordes beschuldigte Tochter. Der Journalist sprach für den Artikel mit einer Zeugin (Z.), welche die Beschuldigte am Tag des Mordes begleitet und laut Anklageschrift bei der Vernichtung von Beweisen geholfen habe. Die Zeugin schildert im Beitrag, was an diesem Tag passiert sei: Sie habe die Beschuldigte auf deren Wunsch zur Villa der Mutter begleitet, um einen Streit zu schlichten. Sie habe sich aber geweigert, das Haus zu betreten, und die Tochter sei allein hinein gegangen. Nach einer Stunde sei sie wieder herausgekommen, übersät mit Blutspritzern, was sie mit Nasenbluten begründet habe. Unterwegs hätten sie angehalten und die blutigen Schuhe und Kleider der Tochter verbrannt. Sie erklärt, sie habe geholfen, um sich zu selbst zu schützen. Dafür habe sie neun Monate in Untersuchungshaft gesessen. Sie erzählt dem «Blick»-Reporter, sie sei überzeugt, dass die Hauptverdächtige ihr den Mord in die Schuhe schieben wollte und sagt: «Sie hat mich von Anfang an nur dafür an den Tatort mitgeschleppt».

B. Am 16. Oktober 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel im «Blick» ein. Sie macht einen Verstoss gegen die Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Drei Passagen würden diese Richtlinie verletzen. Der Titel «Die Killerin hat mich zum Tatort mitgeschleppt» sowie die Sätze «Nach der Tat verhafteten die Behörden auch Z.» und «Nach der Tat musste Z. neun Wochen in Untersuchungshaft schmoren». Es liege weder ein rechtskräftiges Urteil vor noch habe die Hauptbeschuldigte die Tat gestanden. Die Formulierungen im Text erweckten aber der Eindruck, als sei das Urteil gefällt und rechtskräftig: So das Wort «Killerin», von dem nicht klar sei, wer es verwendet habe: die Zeugin oder der Autor. Mit dem Erwähnen der Verhaftung, des vorzeitigen Haftantritts der Tochter und der Untersuchungshaft der Zeugin werde als Fakt dargestellt, dass es ein Verbrechen gegeben habe. Auch das sei noch nicht gerichtlich festgestellt worden, es bleibe offen, ob es sich bei der Schilderung des mutmasslichen Tathergangs nur um die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft handle. Ein anderer Todesumstand, beispielsweise als Unfall, werde nicht einmal erwähnt, genauso wenig wie die Unschuldsvermutung.

C. Am 25. Januar 2024 nahm die Rechtsvertretung des Ringier-Verlags im Namen von «Blick» zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Ablehnung. Der Artikel trage der Unschuldsvermutung umfassend Rechnung: Es werde durchgehend vermieden, von einem «Täter» bzw. einer «Täterin» zu sprechen. In der Oberzeile stehe «jetzt spricht die Begleiterin der Hauptangeklagten», es sei somit klar, dass es sich beim Titel «Die Killerin hat mich zum Tatort mitgeschleppt» um das Zitat dieser Begleiterin handle. Auch das Label (der Beschrieb des Online-Beitrags) weise darauf hin. Schon im Lead stehe zudem, dass die Hauptverdächtige und ihre Begleiterin vor Gericht erscheinen müssten, das erwecke nicht den Eindruck, als gebe es schon ein Urteil. Im Haupttext gehe es so weiter: Da stehe auch «mutmassliche Mörderin», zudem werde das Datum des Mordprozesses genannt und Verlinkungen verwiesen auf weitere Texte, die den Prozess ankündigen. Ein Artikel, der darüber berichte, dass die Staatsanwaltschaft einer Person einen Mord vorwerfe, sei keine Vorverurteilung. Es werde im Text transparent gemacht, dass es sich um Aussagen und Einschätzungen der Begleiterin Z. handle.

D. Gestützt auf Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserats behandelt das Präsidium des Presserats Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder die von untergeordneter Bedeutung erscheinen.

E. Am 26. März 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

F. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 27. Mai 2024 verabschiedet.

 

II. Erwägungen

Die Richtlinie 7.4 (Gerichtsberichterstattung, Unschuldsvermutung) verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, Namensnennung und identifizierende Berichterstattung bei der Gerichtsberichterstattung sorgfältig abzuwägen. Sie tragen der Unschuldsvermutung Rechnung. Die Beschwerdeführerin macht geltend, «Blick» habe mit dem Artikel den Eindruck erweckt, die Hauptbeschuldigte im Prozess um die getötete Frau sei bereits rechtskräftig verurteilt, indem von «Killerin», der Verhaftung der Tochter und der Untersuchungshaft deren Begleiterin geschrieben werde.

Im Artikel ist klar erkennbar, dass die Verhandlung vor Gericht noch nicht stattgefunden hat und es bisher kein Urteil gibt: Das Prozessdatum wird erwähnt, die Anklage der Staatsanwaltschaft und die geforderten Strafen. Es ist zudem klar, dass die Zeugin den Vorfall aus ihrer persönlichen Sicht schildert. Selbst wenn der Satz «Es gilt die Unschuldsvermutung» nicht explizit erwähnt wird, bleibt offensichtlich, dass es noch keine Verurteilung gegeben hat.

Die Beschwerdeführerin moniert sodann das Wort «Killerin» im Titel «Die Killerin hat mich zum Tatort mitgeschleppt». «Blick» hat sich in seiner Stellungnahme nicht dazu geäussert, ob das Wort «Killerin» in einem Zitat der Begleiterin gefallen ist. Im Text wird der Begriff nicht weiterverwendet, dort steht: «Sie hat mich von Anfang an nur dafür an den Tatort mitgeschleppt». Aus dem Artikel geht zwar hervor, dass die Begleiterin der Ansicht ist, die Tochter sei die Täterin gewesen, aber ob das Wort so gefallen ist, bleibt unklar. Angesichts dieser Ausgangslage kann sich der Presserat nicht dazu äussern. Wie bereits in der Stellungnahme 09/2024 (X. c. «Blick» et al.) ausgeführt, erachtet der Presserat den Gebrauch des Terminus «Killerin» als problematisch. Im deutschen Sprachgebrauch ist ein «Killer» jemand, der das Töten routinemässig betreibt, ein Berufskiller, ein Hitman (Duden). Diese Charakterisierung des Vorfalls deckt sich nicht mit dem, was an Fakten vorlag. Der Presserat sieht in diesem Terminus einen handwerklichen Fehler, eine Übertreibung, aber keinen eigentlichen Verstoss gegen die Unschuldsvermutung.

 

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Blick» hat mit dem Beitrag «Die Killerin hat mich zum Tatort mitgeschleppt» vom 26. September 2023 die Ziffer 7 (Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.