Zusammenfassung
Dürfen JournalistInnen aus Mailwechseln zitieren? Eine Beschwerde gegen «tagesanzeiger.ch» warf diese Frage auf. Es ging um einen Jungpolitiker, der nicht an einem Streitgespräch teilnehmen wollte. Der Redaktor zitierte danach aus dem Mail des Jungpolitikers. Die erste Kammer des Presserates beriet die Beschwerde und wies sie ab. Die Begründung: Personen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen und mediengewohnt sind, müssen damit rechnen, dass JournalistInnen aus ihren Mails zitieren. Wenn sie das nicht wollen, müssen sie dies explizit untersagen oder eine Autorisierung verlangen. Anders sieht es mit medienungewohnten Personen aus. Die müssen von den JournalistInnen explizit darauf hingewiesen werden, dass sie das Recht haben, eine Autorisierung zu verlangen.
Résumé
Les journalistes peuvent-ils citer le contenu de mails ? Tel est le sujet d’une plainte contre « tagesanzeiger.ch », dans laquelle il est question d’un jeune politicien qui a refusé de prendre part à un débat contradictoire. Le rédacteur cite dans sa contribution des passages d’un mail de celui-ci. La première chambre du Conseil suisse de la presse a délibéré sur la plainte et l’a rejetée au motif que les personnalités publiques, habituées des médias, doivent s’attendre à ce que les journalistes citent des extraits de leurs mails. Elles doivent l’interdire expressément si elles ne le souhaitent pas ou exiger qu’on leur demande l’autorisation. Il en va différemment des personnes qui ne traitent pas avec les médias, auxquelles les journalistes doivent indiquer expressément qu’elles ont le droit de demander une autorisation.
Riassunto
I giornalisti possono citare gli scambi d’e-mail? La questione è stata sollevata da un reclamo contro il «tagesanzeiger.ch». Il caso tratta di un giovane politico che non voleva partecipare a un dibattito e del cui e-mail il redattore ha citato un estratto. La prima camera del Consiglio della stampa ha discusso il reclamo e lo ha respinto con la seguente motivazione: le persone che si muovono in pubblico e sono abituate ai media, devono aspettarsi che i giornalisti citino estratti dei loro e-mail. Se non vogliono, devono vietarlo esplicitamente o esigere che venga loro richiesta un’autorizzazione. La situazione è diversa per le persone che non hanno familiarità con i media. I giornalisti devono informarle in modo esplicito del loro diritto a esigere che venga loro richiesta un’autorizzazione.
I. Sachverhalt
A. Am 26. November 2022 erschien auf «tagesanzeiger.ch» unter der Rubrik «Meinungen» eine «Glosse zum Politmarketing der SP». Der Titel lautet: «Auf Tiktok eine grosse Klappe, aber keine Lust auf Debatte». In der Unterzeile heisst es: «Ein Influencer der SP bewirtschaftet in den sozialen Medien ein angebliches Rentendebakel, aber der Diskussion mit einem Kritiker mag er sich nicht stellen.» Im Beitrag wird thematisiert, dass der junge Campaigner und SP-Politiker Flavien Gousset sich auf Social Media ausführlich zum Thema Pensionskasse äussere, sich aber nicht an einem Streitgespräch mit einem FDP-Politiker beteiligen wolle. Der Autor Edgar Schuler schreibt: «Gousset (25) steht auf der Lohnliste der SP-Schweiz, Fachgebiet Kampagnen. Und hat – für Schweizer Verhältnisse – enorm viel Einfluss in den sozialen Medien. Sein Video zur jüngsten AHV-Abstimmung wurde auf Tiktok und Instagram gegen eine Million Mal angeklickt. (…). Nur: Wenn Gousset abseits seines natürlichen virtuellen Lebensraums nicht als Solist auftreten kann, sondern sich dem Widerspruch stellen soll, kneift er.»
Anlass der Glosse ist eine Anfrage der Zeitung, die Gousset zu einem Streitgespräch mit dem FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt einladen wollte. Silberschmidt sagte zu, Gousset hingegen lehnte ab. Der Journalist mokiert sich über die Absage. Er schreibt, Goussets Begründung sei gewesen, dass er gerade nicht genügend Zeit habe: «Die aber benötige er, um sich so vorzubereiten, dass es ihm ‹angenehm wäre›, mit Silberschmidt ‹die Klingen zu kreuzen›. Denn Silberschmidt habe als Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit eben einen Wissensvorsprung.» Inhaltlich ging es um das Buch «Das Rentendebakel», das kurz zuvor erschienen ist. Gousset hat sich auf den Social-Media-Kanälen positiv dazu geäussert. «Dumm nur», kommentiert der Journalist, «dass sich Gousset zwar als Lautsprecher betätigen darf, aber sich keiner Auseinandersetzung auf Augenhöhe stellen will. Man könnte auch sagen: Die SP hat auf Tiktok eine grosse Klappe, aber keine Lust auf Debatte.»
B. Am 28. Dezember 2022 reichte Flavien Gousset beim Presserat Beschwerde gegen die Glosse ein. Der Beschwerdeführer moniert, der Beitrag verstosse gegen die Ziffern 1 (Wahrheitssuche) und 4 (Unlautere Methoden) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung»).
Der Beschwerdeführer sei mit dem Redaktor Edgar Schuler per Mail in Kontakt gewesen bezüglich eines Streitgesprächs mit Silberschmidt. Er habe dies aber aus Zeitgründen abgelehnt. Das habe er per E-Mail begründet, seiner Meinung nach sei der Mailwechsel «off the record» und nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Im Artikel werde er aber direkt und indirekt zitiert, dies verstosse gegen die Richtlinien 4.5 (Interview) und 4.6 (Recherchegespräch). Der Beschwerdeführer schreibt weiter, dass «aus der E-Mail-Konversation überhaupt nicht klar war, dass es sich um eine Art Interview handelt, woraus danach öffentlich zitiert werden würde». Auch sei er nicht um eine Autorisierung der Zitate gebeten worden.
Weiter sieht der Beschwerdeführer auch die Wahrheitssuche verletzt. Im Beitrag werde den Eindruck vermittelt, er werde von der Partei als «Reichweitengenerator» eingespannt. Als Belege führt er die Spitzmarke «Glosse um Politmarketing der SP» an. Aber auch Sätze wie: «Gousset steht auf der Lohnliste der SP-Schweiz, Fachgebiet Kampagnen.» «Zum Zug kam aber auch die SP-Geheimwaffe: Flavien Gousset und seine phänomenale Reichweite bei den Jungen auf Social Media.» Oder: «Dumm nur, dass sich Gousset zwar als Lautsprecher betätigen darf, aber sich keiner Auseinandersetzung auf Augenhöhe stellen will. Man könnte auch sagen: Die SP hat auf Tiktok eine grosse Klappe, aber keine Lust auf Debatte.» Der Beschwerdeführer bestreitet diesen direkten Zusammenhang: Seine Social-Media-Videos produziere er in seiner Freizeit und habe von der SP Schweiz noch nie Geld dafür erhalten. Auch inhaltlich nehme die Partei keinen Einfluss.
Abschliessend hält er fest, dass ihm im E-Mail-Austausch vermittelt worden sei, er habe gar keine andere Wahl, als dem Streitgespräch zuzusagen, wenn er nicht öffentlich blossgestellt werden wolle. Der Redaktor habe ihm geschrieben: «Offengestanden wundere ich mich, dass Sie einer direkten Begegnung ausweichen (…). Ich denke auch, ich werde Ihre Absage zum Anlass eines kleinen scharfen Kommentars machen.» Er könne sich nicht vorstellen, dass es im Sinne der Medienethik sei, Menschen in dieser Art «zu einem öffentlichen lnterview zu (be)drängen», schreibt der Beschwerdeführer.
C. Am 1. Juni 2023 nahm der Rechtsdienst der TX Group für die Redaktion «Tages-Anzeiger» zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung, sofern überhaupt darauf einzutreten sei. Die Redaktion weist den Vorwurf, der Beitrag habe Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» verletzt, zurück. Der Artikel entspreche den Fakten und enthalte keine Aussage, die nicht der Wahrheit entspreche. Es werde an keiner Stelle behauptet, dass die SP Gousset für die private Social-Media-Arbeit bezahlt habe. Es sei gerechtfertigt, ihn aufgrund seiner grossen Social-Media-Reichweite bei den Jungen als «Geheimwaffe der SP» zu bezeichnen.
Der Beschwerdeführer sei ausserdem nicht nur bei der SP als Campaigner angestellt, sondern engagiere sich auch sehr aktiv für die Partei. Er sitze im Vorstand einer SP-Lokalsektion und kandidiere schon das zweite Mal für den Nationalrat. Er sei ein einflussreicher Jungpolitiker, der seine Social-Media-Kanäle auch für sich politisch nütze. In der Vergangenheit habe er auch Wahlaufforderungen für die SP abgegeben. Es sei deshalb durchaus legitim, in der Rubrik «Meinungen» pointiert und überspitzt über den Widerspruch zwischen der aktiven Social-Media-Tätigkeit des Beschwerdeführers und seiner fehlenden Bereitschaft, sich an einem Streitgespräch zu beteiligen, eine «Glosse» zu veröffentlichen.
In Bezug auf die angeblich «unlauteren Methoden der Informationsbeschaffung» (Ziffer 4 der «Erklärung»), hält der «Tages-Anzeiger» fest, eine Verletzung der Richtlinie 4.5 (Interview) liege nicht vor, da es sich nicht um ein Interview gehandelt habe. Auch betreffend Richtlinie 4.6 (Recherchegespräche) sieht die Redaktion keine Verletzung. Der Autor habe in der E-Mail-Korrespondenz mitgeteilt, dass er einen Kommentar schreiben werde («Ich denke auch, ich werde Ihre Absage zum Anlass eines kleinen scharfen Kommentars machen»). Der Beschwerdeführer habe zu jenem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen zu verlangen. Er habe dem Autor abschliessend aber zurückgemailt: «Auf Ihre Argumentation bin ich trotzdem gespannt.» Der Journalist habe angesichts dieser Aussage davon ausgehen dürfen, dass «der Beschwerdeführer, eine medienaffine Person, von einer Autorisierung irgendwelcher Äusserungen absieht».
D. Am 9. Juni 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der 1. Kammer behandelt, die sich wie folgt zusammensetzt: Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.
E. Die 1. Kammer hat die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 27. November 2023 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Zu Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) der «Erklärung»: Der Beschwerdeführer moniert, dass seine Aktivitäten auf Social Media kein «SP-Marketing» und er kein «Lautsprecher der SP» sei, weil er dafür von der Partei auch gar nicht bezahlt werde. Der «Tages-Anzeiger» vertritt hingegen die Meinung, dass es durchaus gerechtfertigt sei, Gousset aufgrund seiner politischen Aktivitäten und seiner grossen Reichweite auf den Social-Media-Kanälen als «Geheimwaffe der SP» zu bezeichnen.
Gousset wird gemäss seinen eigenen Angaben für seine Social-Media-Erklärvideos nicht von der Partei bezahlt, was im monierten Text aber auch nicht behauptet wurde. Dass Gousset ein bekannter Jungpolitiker ist, der auf Tiktok- und Instagram-Kanälen erfolgreich politische Beiträge postet, entspricht hingegen der Realität.
Aus den Unterlagen, die dem Presserat zur Verfügung stehen, geht hervor, dass Gousset mit einem 60-Prozent-Pensum bei der SP als «Projektleiter Kommunikation & Projekte, digitale Kampagnen» angestellt ist, dass er ausserdem 2019 und 2023 für den Nationalrat kandidierte und im Vorstand einer lokalen SP-Sektion sitzt. Ausserdem ist unbestritten, dass er auch auf seinen privaten Social-Media-Kanälen mehrere zehntausend Follower hat und auf diesen Kanälen auch Wahlaufforderungen für die SP postete. Gousset engagiert sich demnach auch in seiner Freizeit politisch stark.
In der monierten «Glosse» heisst es: «Die SP hat auf Tiktok eine grosse Klappe, aber keine Lust auf Debatte.» Die Formel einflussreicher und aktiver SP-Jungpolitiker gleich SP* mag etwas zugespitzt sein, ist aber ein legitimes Pars pro Toto, das auch nicht ehrenrührig ist. Der Presserat sieht keine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung». Die Glosse enthält keine falschen Fakten.
2. Ziffer 4 der «Erklärung» lautet: Journalistinnen und Journalisten «bedienen sich bei der Beschaffung von Informationen, Tönen, Bildern und Dokumenten keiner unlauteren Methoden». Richtlinie 4.5 befasst sich mit Interviews: «Das Interview basiert auf einer Vereinbarung zwischen zwei Partnerinnen / Partnern, welche die dafür geltenden Regeln festlegen. (…) Im Normalfall müssen Interviews autorisiert werden.» Richtlinie 4.6 befasst sich mit Recherchegesprächen: «Journalistinnen und Journalisten sollen ihre Gesprächspartner über das Ziel des Recherchegesprächs informieren. Medienschaffende dürfen Statements ihrer Gesprächspartner bearbeiten und kürzen, soweit dies die Äusserungen nicht entstellt. Der befragten Person muss bewusst sein, dass sie eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen darf.»
Die vom Beschwerdeführer monierten Richtlinien 4.5 (Interview) und 4.6 (Recherchegespräch) sind hier nicht von Interesse, weil es beim Austausch zwischen dem Beschwerdeführer und dem Autor der Glosse weder um ein Interview noch um ein Recherchegespräch geht. Der Autor hat aus dem Inhalt eines Mail-Austauschs einen Kommentar geschrieben. Es stellt sich die Frage, ob es zulässig ist, aus einem solchen Schriftwechsel zu zitieren. Musste der Beschwerdeführer damit rechnen, dass aus seinen Mails zitiert wird? Oder handelt es sich hier um eine unlautere Methode der Informationsbeschaffung (Ziffer 4 der «Erklärung»)?
Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass der Journalist die Zitate nur hätte verwenden dürfen, wenn er selbst explizit eingewilligt hätte, was nicht geschehen ist. Die Redaktion macht hingegen geltend, der Autor der Glosse habe aufgrund der Mailantwort des Beschwerdeführers («Auf Ihre Argumentation bin ich trotzdem gespannt») davon ausgehen dürfen, dass der Beschwerdeführer von einer Autorisierung absah, da er darüber informiert war, dass der Mailinhalt Teil eines Kommentars sein werde.
Gemäss Praxis des Presserats müssen medienerfahrene Personen damit rechnen, «dass plakative Äusserungen journalistisch verwendet werden können» (siehe Stellungnahme 65/2013). Und dass «Journalismus im Gegensatz zu Public Relations nicht Selbst-, sondern Fremddarstellung ist. Wer sich auf ein Interview oder auf ein Recherchegespräch mit einem Journalisten einlässt, muss damit rechnen, dass der daraus resultierende Bericht ein kritisches Bild zeichnet, das unter Umständen erheblich von der eigenen Wahrnehmung abweicht» (Stellungnahme 65/2013). Der Presserat differenziert somit zwischen öffentlichen und mediengewohnten Personen und Personen, die öffentlich nicht bekannt und nicht geübt sind, mit Medien umzugehen. Eine Person, die im Umgang mit Medien erfahren ist und öffentlich bekannt ist, muss wissen, dass aus Mails, die sie mit JournalistInnen austauscht, zitiert werden kann. Das heisst aber auch, dass alle anderen, nicht-mediengewohnten Personen explizit von JournalistInnen darauf hingewiesen werden müssen, dass aus ihren Mails zitiert werden könnte; von diesen Personen braucht es eine explizite Autorisierung der verwendeten E-Mail-Passagen.
Im vorliegenden Fall ist es klar: Gousset ist ein Jungpolitiker und ein Kommunikationsprofi, er weiss, dass er sich mit einem Journalisten austauscht und er weiss auch, wie JournalistInnen arbeiten. Daher muss er auch damit rechnen, dass der Inhalt seiner Mail verwendet werden kann. Falls er damit nicht einverstanden ist, muss er das explizit äussern. In diesem Fall hat der Journalist Gousset sogar schriftlich informiert, dass er möglicherweise einen Kommentar über ihn schreiben werde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte der Beschwerdeführer nochmals die Möglichkeit gehabt, eine Autorisierung zu verlangen oder zu untersagen, dass aus seinen Mails zitiert wird. Das hat er aber nicht getan. Der Presserat sieht deshalb keine Verletzung von Ziffer 4 der «Erklärung».
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. «tagesanzeiger.ch» hat mit der «Glosse zum Politmarketing der SP» vom 26. November 2022 weder Ziffer 1 (Wahrheit) noch Ziffer 4 (Unlautere Methoden bei der Informationsbeschaffung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
* Die ursprüngliche Version «Die Formel SP gleich einflussreicher und aktiver SP-Jungpolitiker (…)» wurde am 6. März 2024 korrigiert.