I. Sachverhalt
A. Am 14. April 2011 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» einen Artikel von David Schaffner mit dem Titel «Parlament will Einwanderung bremsen». Laut dem Untertitel verlangen «die bürgerlichen Parteien (…) vom Bundesrat, dass er etwas gegen die starke Einwanderung unternimmt. Da die SVP die Personenfreizügigkeit kündigen will, dürfte es mit der Einigkeit im bürgerlichen Lager bald vorbei sein.» Illustriert ist der Bericht mit einem grossformatigen Bild einer grossen Überbauung mit Wohnblöcken. Die Bildlegende lautet: «Neue Wohnblöcke in Aarau zeugen von der Zuwanderung. 90’000 Menschen sind allein im letzten Jahr aus dem Ausland in die Schweiz gekommen. Foto: Della Bella (Keystone)».
Der Bericht beginnt mit dem Satz: «Überfüllte Züge, massiv gestiegene Mieten und zahllose Baustellen für neue Wohnblöcke – die Folgen der starken Zuwanderung aus der EU-Ländern und Drittstaaten werden in Schweizer Alltag immer offensichtlicher.» In der Politik finde deshalb langsam ein Umdenken statt. So habe im Nationalrat neben der SVP auch ein grosser Teil von FDP und CVP einer Motion von SVP-Ständerat Christoffel Brändli zugestimmt und den Bundesrat beauftragt, «Massnahmen vorzuschlagen, um die Zuwanderung der letzten Jahre in geordnete Bahnen zu lenken».
B. Am 26. April 2011 beschwerte sich X. beim Presserat. Durch die Wahl eines Bildes, das mit dem Artikel in keinem Zusammenhang stehe und durch eine «falsche und irreführende Legende» habe der «Tages-Anzeiger» mehrere Punkte der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Insbesondere verstosse der Bericht gegen die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche). Das Bild zeige die Siedlung Telli in Aarau. «Die Bauzeit dieser Siedung, die als exemplarisch für den Städtebau um 1970 gilt, war 1971-74, 1982-1985 sowie 1987-1991.»
Entgegen der falschen Bildlegende zeige das Bild also weder neue Wohnblöcke, noch stünden diese in Zusammenhang mit der aktuellen Zuwanderung. Damit werde die Leserschaft bewusst in die Irre geführt und so auch die Richtlinie 3.4 (Illustrationen) verletzt.
Schliesslich beanstandet der Beschwerdeführer auch eine Verletzung der Richtlinie 2.3 (Trennen von Fakten und Kommentar). Die nicht bewiesene Behauptung, die neue Zuwanderung sei für «überfüllte Züge, massiv gestiegene Mieten und zahllose Baustellen für neue Wohnblöcke» verantwortlich, werde durch die Bildlegende in den Grad des Faktischen erhoben.
C. Am 30. Mai 2011 beantragte die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeiger», die Beschwerde sei abzuweisen. Die Bildlegende sei nicht falsch, auch wenn sie nicht optimal sein möge. Die Bezeichnung «neue Wohnblöcke» sei für eine Siedlung aus den 70er-, 80er-, und 90er-Jahren vertretbar.
Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers bestehe zudem ein Zusammenhang zwischen Bild und Inhalt des Artikels. Schon während der Einwanderung in den 60er- und 70er-Jahren, hätten sich dieselben sozialen und politischen Spannungen wie heute ergeben. Eine allfällige Irreführung sei jedenfalls nicht bewusst erfolgt: «Ohne Hintergrundwissen kann man die abgebildete Siedlung weder zeitlich einordnen, noch ein bestimmtes Image derselben erkennen.»
In Bezug auf die vom Beschwerdeführer beanstandete ungenügende Trennung von Fakten und kommentierenden Wertungen führt der «Tages-Anzeiger» schliesslich an, der Artikel enthalte bloss Tatsachendarstellungen und keine Kommentare.
D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.
E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 13. Juli 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Die Pflicht zur Wahrheitssuche (Ziffer 1 der «Erklärung») setzt «die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten» und «die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild)» voraus. Gemäss der Richtlinie 3.4 (Illustrationen) sollen «Bilder oder Filmsequenzen mit Illustrationsfunktion, die ein Thema, Personen oder einen Kontext ins Bild rücken, die keinen direkten Zusammenhang mit dem Textinhalt haben (Symbolbilder), als solche erkennbar sein. Sie sind klar von Bildern mit Dokumentations- und Informationsgehalt unterscheidbar zu machen, die zum Gegenstand der Berichterstattung einen direkten Bezug herstellen.»
b) Der «Tages-Anzeiger» verwendet zur Illustration eines Beitrages über die aktuelle Einwanderungsdebatte ein Bild einer Überbauung aus den 70er-, 80er- und 90er-Jahren. Daran ist aus berufsethischer Sicht grundsätzlich nichts einzuwenden, selbst wenn man wie der Beschwerdeführer die Verwendung des Bildes einer mit einem negativen Image behafteten Grosssiedlung als emotionale, fremdenfeindliche Stimmungsmache bewertet. Das Bild hat neben einer symbolischen auch eine gewisse Informationsfunktion. Und selbst wenn die Illustration suggestiv wirkt, unterstellt sie nach Auffassung des Presserates keinen völlig abwegigen Zusammenhang. Soweit die Bildlegende die Wohnblöcke als «neu» bezeichnet, ist sie jedoch eindeutig falsch. Mit der genauen Bezeichnung der Siedlung und entsprechenden Jahresangaben hätten sich allfällige Missverständnisse vermeiden lassen.
c) Gemäss der neueren Praxis des Presserates zur Wahrheitspflicht (dazu zuletzt die Entscheide 64/2009, 20 und 37/2010, 14/2011) verletzt allerdings nicht jeder formale oder inhaltliche Fehler bereits eine berufsethische Norm. Vielmehr verlangt das Prinzip der Verhältnismässigkeit, dass einer Unkorrektheit eine gewisse Relevanz zukommt.
Vorliegend ist der Fehler des «Tages-Anzeiger» zwar bedauerlich, nach Auffassung der 1. Kammer des Presserates ist er jedoch nicht geeignet, die Leserschaft dahingehend zu täuschen, als Folge der aktuellen Einwanderung werde nun gerade die abgebildete oder eine mit dieser vergleichbare Überbauung erstellt. Entsprechend verneint der Presserat eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Illustrationen) der «Erklärung».
2. Gemäss der Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) achten «Journalistinnen und Journalisten (…) darauf, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann». Der Beschwerdeführer beanstandet hierzu, soweit der Autor des Berichts von «überfüllten Zügen, massiv gestiegenen Mieten und zahllosen Baustellen für neue Wohnblöcke» schreibe, stelle er blosse Behauptungen als Fakten dar.
Demgegenüber sieht der Presserat in der beanstandeten Formulierung keine für die Leserinnen und Leser nicht erkennbare Vermischung von «kommentierenden Einschätzungen und Fakten». Es ist nicht Aufgabe des Presserates, die faktischen Zusammenhänge zwischen Einwanderung, Verkehr, Bautätigkeit und Wohnungsmarkt zu untersuchen. Es scheint aber offenkundig, dass zwischen der aktuellen Einwanderung und diesen Themen ein teilweiser Zusammenhang besteht. Ebenso wie es offensichtlich zulässig ist, Exponenten einer Initiative kritisch zu beurteilen, welche die Einwanderung begrenzen will (Stellungnahme 25/2011), gehört es zum öffentlichen Diskurs und zur politischen Auseinandersetzung, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen kritisch zu thematisieren und zu bewerten. Beim beanstandeten Bericht sind sowohl die Wertungen des Autors wie auch die (behaupteten) faktischen Grundlagen als solche erkennbar.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Mit der Veröffentlichung des Berichts «Parlament will Einwanderung bremsen» vom 14. April 2011 und dem dafür verwendeten Bild der in den 70er-bis 90er-Jahren entstandenen Überbauung Telli in Aarau sowie der zugehörigen falschen Bildlegende hat der «Tages-Anzeiger» die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3 (Illustrationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.