Nr. 51/2005
Wahrheitspflicht / Quellenüberprüfung / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(X. AG c. «Cash») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 25. November 2005

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I. Sachverhalt

A. Die Wirtschaftszeitung «Cash» Nr. 15 vom 14. April 2005 veröffentlichte auf S. 52 einen Beitrag von Stefan O. Waldvogel mit dem Titel «Nur nicht auf Drückerkolonnen hereinfallen!» Der Artikel erschien als Antwort auf die Anfrage der Leserin R.I. in Z., die sich nach der Seriosität der Firma X. AG erkundigte. Die beiden Untertitel der Antwort von «Cash» lauteten: «Es werden immer wieder neue Mitarbeiter angelockt» und «Persönliches finanzielles Desaster für viele». Gemäss «Cash» vertreibt die X. AG «über ein ganzes Heer von Aussendienstmitarbeitern fondsgebundene Lebensversicherungen von Pax und Aspecta. Die Entlöhnung erfolgt auf Provisionsbasis. Wer drei Abschlüsse erzielt hat, erhält eine Provision von je 250 Franken und steigt eine Stufe höher. Dort erhält er bereits 500 Franken. Nach weiteren drei Abschlüssen steigt die Provision auf 750 Franken. Um die vierte Stufe zu erklimmen, sind dann bereits 12 Abschlüsse nötig. Er muss die aber nicht selber hereinholen, sondern er kann neue Mitarbeiter gewinnen, die wiederum neue Kunden oder Mitarbeiter suchen. (…) Gemäss eigenen Angaben sind bereits über 2000 X.-Vertreter unterwegs, 1400 auch in der Schweiz. Und dies trotz vieler negativer Presseberichte (…) Neben dem Prinzip des Strukturbetriebs haben wir immer wieder die fehlende Ausbildung der ‹Berater› kritisiert. (…) Die Neulinge müssen ihr ganzes Beziehungsnetz abgrasen und den Bekannten Fondspolicen aufschwatzen. Trotz der unzähligen kritischen Berichte ist es stets erstaunlich, wie viele Menschen immer wieder auf die Angebote von X. und anderen ähnlichen Strukturvertrieben hereinfallen. (…) Im Forum des ‹Kassensturzes› haben sich diverse Geschädigte nach einer kritischen Sendung gemeldet. Sie berichten von merkwürdigen Seminaren und grossem finanziellem Druck. So schreibe ein ehemaliger Berater: ‹Ich geriet mehr und mehr ins finanzielle Desaster›. (…) Ähnliche Geschichten werden auch im ‹Beobachter› zitiert. ‹Meine Kollegin ist bei X. tätig und wollte mir eine solche Versicherung andrehen. Als ich Nein sagte, ging der Horror erst richtig los.›»

B. Am 19 Mai 2005 publizierte «Cash» folgende Gegendarstellung von X.:

«Im CASH Nr. 15 vom 14. April 2005 ist auf Seite 52 ein Beitrag unter dem Titel ‹Nur nicht auf Drückerkolonnen reinfallen!› erschienen, in welchem über die X. AG berichtet wird. Der Beitrag enthält falsche Tatsachenbehauptungen, welche wie folgt zu berichtigen sind:

1. Im Beitrag wird behauptet, die Ausbildung der X.-Mitarbeiter sei ungenügend. Der X. AG gehe es nicht um Finanzberatung, sondern um das ‹Networking›. Dies ist unzutreffend und wie folgt zu berichtigen: Die Agenten werden von der X. AG umfassend ausgebildet und erhalten ein fundiertes Wissen über Funktion und Zweck von fondsgebundenen Lebensversicherungen sowie über Vermittlungs- und Verkaufstechnik. Im Vordergrund steht die Finanzberatung der Kunden.

2. Im Beitrag wird behauptet, die neuen Agenten müssten ihr ganzes Beziehungsnetz ‹abgrasen› und den Bekannten und Freunden Fondspolicen ‹aufschwatzen›. Dies ist unzutreffend und wie folgt zu korrigieren: Die Agenten der X. AG sind angehalten, ihre Kunden seriös und umfassend über Vor- und Nachteile der vermittelten Versicherungsprodukte aufzuklären. Von einem ‹Abgrasen› und ‹Aufschwatzen› kann keine Rede sein.»

Die Gegendarstellung schloss mit dem redaktionellen Zusatz, dass die «Cash»-Redaktion an ihrer Darstellung festhalte.

C. Mit Schreiben 29. Juni 2005 gelangte die anwaltlich vertretene X. AG (nachfolgend: Beschwerdeführerin) an den Presserat und rügte eine Verletzung der Richtlinien 1.1 (Pflicht zur Wahrheitssuche) und 3.8 (Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

Der «Cash»-Artikel erweise sich als einseitige Negativpropaganda zu Lasten der Beschwerdeführerin. Bei den tatsachenwidrigen Vorwürfen (junge, unerfahrene, schlecht ausgebildete Berater; ‹Networking› statt Finanzberatung, finanzieller Druck auf Berater, Berater müssten Beziehungsnetz abgrasen und Bekannten Fondspolicen aufschwatzen) handle es sich um persönliche, nicht überprüfte Vermutungen des Autors. Wo sich dieser ausnahmsweise auf Quellen abstütze, zitiere er in anderen Medien erschienene anonyme Aussagen, ohne diese sowie deren Ursprung überprüft zu haben. Angesicht der gegenüber X. erhobenen schweren Vorwürfe hätte «Cash» die Beschwerdeführerin zudem vor der Veröffentlichung anhören müssen.

D. In seiner Beschwerdeantwort vom 21. September 2005 wies die ebenfalls anwaltlich vertretene «Cash»-Redaktion die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Beschwerdeführerin müsse sich eine von ihrer Selbstdarstellung abweichende kritische journalistische Wertung gefallen lassen, Der Artikel erhebe auch keine schweren Vorwürfe, die eine Anhörung von X. vor der Publikation zwingend gemacht hätten. Insbesondere löse auch die Wiederholung früher publizierter Kritik und die Wiedergabe der Kritik von Dritten keine Anhörungspflicht aus. Zudem sei die von «Cash» publizierte Kritik moderat formuliert.

E. Das Presseratspräsidium übertrug die Beschwerde zur Behandlung der 1. Kammer, der Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi, Edy Salmina, Francesca Snider als Mitglieder angehören.

F. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 25. November 2005 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Presserat beschränkt sich bei seiner Beurteilung des Artikels «Nur nicht auf Drückerkolonnen hereinfallen!» im «CASH» vom 14. April 2005 in den nachfolgenden Erwägungen auf die von X. gerügten Verletzungen der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung»), der mangelnden Quellenüberprüfung (Ziffer 3 der «Erklärung») sowie dem Vorwurf der unterlassenen Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»).

2. Gemäss konstanter Praxis des Presserates kann aus der «Erklärung» keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden. Vielmehr sind berufsethisch auch einseitige und fragmentarische Standpunkte zulässig (vgl. z.B. die Stellungnahmen 50/2003 und 32/2001). Nicht zu den Aufgaben des Presserates gehört es zudem, Faktenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (21/2003). Der Presserat ist nicht in der Lage, ein umfangreiches Beweisverfahren zur Klärung umstrittener Sachverhalte durchzuführen.

Ob die Berater von X. jung, unerfahren und nicht ausgebildet sind, ob sie unter grossem finanziellen Druck stehen, ob bei der Tätigkeit der Beschwerdeführerin die Finanzberatung, oder mehr das «Networking» im Vordergrund steht, ob die Berater ihr Beziehungsnetz «abgrasen» und Fondspolicen «aufschwatzen» müssen usw. kann der Presserat angesichts der gegenläufigen Parteidarstellungen nach den vorliegenden Unterlagen nicht beurteilen. Die von X. gerügte Verletzung der Wahrheitspflicht ist dementsprechend nicht belegt und eine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» deshalb zu verneinen. Vorbehältlich der Anhörung der Beschwerdeführerin zu gegenüber ihr erhobenen schweren Vorwürfen (vgl. unten in Erwägung 4), war «Cash» auch nicht verpflichtet, den ihrer kritischen Wertung zugrundeliegenden, teils aus anderen Medien übernommenen Sachverhalt zusätzlich zu recherchieren und zu verifizieren (Richtlinie 1.1. zur «Erklärung»; Wahrheitssuche).

3. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf die von X. weiter kritisierte Wiedergabe der Zitate eines ehemaligen Beraters aus dem Forum des «Kassensturzes» und eines Beispiels aus dem «Beobachter». «Cash» gibt die Quellen der beiden Zitate korrekt an und war darüber hinaus nicht verpflichtet, selber mit den Ursprungsquellen dieser Zitate Kontakt aufzunehme
n. Der Presserat hat in Bezug auf Agenturmeldungen bereits in der Stellungnahme 3/92 festgehalten, dass Medien nicht verpflichtet sind, Informationen, die sie aus vertrauenswürdigen Quellen übernehmen, selber nachzurecherchieren. In der Stellungnahme 4/2000 hat er präzisiert, aus der Pflicht zur Überprüfung einer Quelle sei zudem nicht abzuleiten, dass einer Redaktion bei Übernahme einer Meldung immer auch die Ursprungsquelle bekannt sein muss.

4. a) Die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» lautet: «Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten (‹audiatur et altera pars›) leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.»

b) Auch in Bezug auf die Schwere der gegenüber der Beschwerdeführerin erhobenen Vorwürfe gehen die Standpunkte der Parteien auseinander. Nach Auffassung des Presserates ist hier wie folgt zu differenzieren:

– Nicht von Belang ist der am Schluss des beanstandeten Artikels enthaltene abwertende Hinweis, X. sei auch schon deshalb nicht seriös, weil sich die Firma in der eigenen «Network Press» mit «zwei Schreibfehlern in einem Satz» lobe.

– Schon schwerer wiegt der Vorwurf der fehlenden Ausbildung der Mitarbeiter, die durch X. «angelockt» würden. Diesem Vorwurf steht im Bericht aber immerhin folgendes Eigenzitat der Firma entgegen: «Durch eine hervorragende Ausbildung und eine erstklassige Unterstützung werden Sie schnell die nachfolgenden Positionen erreichen.» Damit ist das berufsethisch geforderte Minimum auf Anhörung beider Seiten erfüllt. Dem Vorwurf der fehlenden Schulung steht die Behauptung einer hervorragenden Ausbildung entgegen.

– Hingegen enthält der «Cash»-Artikel keinerlei Positionsbezug der Beschwerdeführerin zum schwer wiegenden Vorwurf, ihr wirtschaftlicher Erfolg mit einem Umsatz von über 100 Millionen beruhe auf zumindest fragwürdigen Methoden (merkwürdigen Seminaren, wirtschaflichem Druck auf Berater, «Horror» bei Ablehnung eines Vertragsschlusses, «Aufschwatzen» von Policen usw.). Diese Methoden hätten viele Berater in ein «persönliches finanzielles Desaster» geführt. Denn es sind diese von «Cash» behaupteten Fakten, welche den Autor zur für die Leserschaft unter diesen Umständen nachvollziehbaren Empfehlung führen, nicht auf dieses Geschäftsgebaren «hereinzufallen». Eine derartige Negativempfehlung wiegt für jedes wirtschaftlich tätige Unternehmen äusserst schwer, weshalb die Einholung und Wiedergabe einer zumindest kurzen Stellungnahme auch dann zwingend ist, wenn die gleichen oder ähnliche Vorwürfe bereits in früheren Berichten des eigenen oder von anderen Medien erschienen sind. Es sei denn, die Kritik und insbesondere auch die dazugehörige Stellungnahme des Betroffenen wären der Leserschaft ohnehin bekannt, was jedoch im Falle der X. kaum anzunehmen und von «Cash» auch nicht geltend gemacht wird.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Cash» hat die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen gemäss Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalisten» verletzt, weil es die Zeitung unterliess, die X. vor der Publikation des Artikels «Nur nicht auf Drückerkolonnen hereinfallen!» Stellung zum schweren Vorwurf nehmen zu lassen, ihr wirtschaftlicher Erfolg beruhe auf zumindest fragwürdigen Methoden und habe «viele» in ein «persönliches finanzielles Desaster» geführt, weshalb von Geschäften mit dieser Firma abzuraten sei.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.