I. Sachverhalt
A. Am 21. März 2015 publizierte der «Corriere del Ticino» in seiner Online-Ausgabe den Artikel mit dem Titel: «Tre anni e mezzo al violentatore». Der Untertitel lautete: «Riduzione di pena di un anno in appello per l’uomo che nel 2010 picchiò e stuprò l’ex compagna – Ricorrerà al TF». Im Artikel wird berichtet, das Appellationsgericht Lugano habe einen 53-Jährigen zu dreieinhalb Jahren dafür verurteilt, dass er seine ehemalige Lebensgefährtin geschlagen und vergewaltigt habe. Damit habe es die Strafe der Vorinstanz um ein Jahr reduziert, weil es einen Vorsatz – im Gegensatz zur Vorinstanz – nicht als erwiesen erachtete. Der Anwalt des Angeschuldigten habe einen Weiterzug ans Bundesgericht angekündigt.
B. Mit Eingabe vom 24. Mai 2015 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Das den Artikel illustrierende Bild sei irreführend, denn es zeige einen Mann, welcher eine Frau in einem dunkeln Winkel angreife. Daraus könne geschlossen werden, dass der Angeklagte auf der Strasse eine Frau angegriffen habe. Dies entspreche nicht den Tatsachen. Auch der Ausdruck «violentatore» setze eine einer Person eigene Charakteristik voraus (presuppone una caratteristi-ca intrinseca della persona e recidivante) und weise auf einen Wiederholungstäter hin. In Wirk-lichkeit habe sich der Vorfall ganz anders zugetragen und einen nicht vorbestraften Mann be-troffen, welcher von seiner Lebenspartnerin aufgrund eines einzigen gewalttätigen Vorfalles während eines Streits angeklagt worden sei. Bei der Lebenspartnerin handle es sich um die Tochter einer Amtsperson (magistrato), was keinesfalls sekundär sei. Damit sei Ziffer 3 (Ent-stellen von Bildern) und Ziffer 8 (diskriminierende Anspielungen in Bildern – deformare imma-gini) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Bild und Titel würden nicht übereinstimmen mit dem Vorgefallenen bzw. dem Angeklagten, den die Beschwerdeführerin persönlich gut kenne.
C. In seiner Beschwerdeantwort vom 11. August 2015 machte der «Corriere del Ticino» geltend, der Angeklagte sei in zweiter Instanz zu dreieinhalb Jahren verurteilt worden, die Appellations-richter hätten damit die Schwere der Tat bestätigt. Zum verwendeten Foto führt der «Corriere del Ticino» aus, dieses sei offenkundig ein thematisches Foto (una fotografia tematica), welches ohne Täuschungsmöglichkeit das Thema der Gewalt gegen Frauen in Erinnerung rufe. Dies sei auch gar nicht anders möglich, denn kein Medium könne Bilder, welche reale Gewalt an Frauen zeigen, veröffentlichen. Dabei sei unerheblich, dass das Bild im Aussenraum und nicht inner-halb von vier Wänden aufgenommen worden sei, denn die angewendete Gewalt sei nicht mehr oder weniger schwer, je nachdem, ob sie im öffentlichen oder im privaten Raum stattfinde. Es sei deshalb nicht ersichtlich, inwiefern das verwendete Foto diskriminierend sein solle. Die Be-schwerdeführerin erkläre dies auch nicht näher. Im Übrigen sei das Bild genau so veröffentlicht worden, wie es der Fotograf gemacht habe. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin handle es sich beim Ausdruck «violentatore» um ein Synoym für «stupratore», welches ausdrü-cke, dass körperliche Gewalt angewendet werde. Dieses habe keine «connotazione recidivante», noch würde es auf die spezifischen Charakteristiken einer Person (caratteristiche «intrinseche») hinweisen. Ohne das Adjektiv «recidivo» habe das Wort «violentatore» nicht den Gehalt, wel-chen ihm die Beschwerdeführerin gebe. Könnte dieses Wort im vorliegenden Zusammenhang nicht verwendet werden, dann fehlte dem Journalisten ein Ausdruck für die Bezeichnung des Angeschuldigten.
D. Am 19. Juli 2016 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presserats-präsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 10. April 2017 auf dem Kor-respondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verlangt von Journalisten u.a., dass sie keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen und weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne, noch von anderen geäusserte Meinungen ent-stellen. Die Beschwerdeführerin macht geltend, das den Artikel illustrierende Bild sei irrefüh-rend, denn es zeige einen Mann, welcher eine Frau in einem dunkeln Winkel angreife. Daraus könne geschlossen werden, dass der Angeklagte eine Frau auf der Strasse angegriffen habe, was nicht den Tatsachen entspreche. Der «Corriere del Ticino» argumentiert demgegenüber, es handle sich um ein thematisches Bild, welches auf das generelle Thema Gewalt gegen Frauen hinweise. Dabei sei es unwesentlich, ob das Foto im Aussen- oder Innenraum aufgenommen worden sei.
Das Foto hat keine eigentliche Bildunterschrift; es ist lediglich mit «foto Scolari» bezeichnet, jedoch ohne als Symbolbild gekennzeichnet zu sein. Symbolbilder haben keinen direkten Zu-sammenhang mit dem Textinhalt und sollen gemäss Richtlinie 3.4 (Illustrationen) als solche erkennbar sein. Das Foto zeigt verschwommen einen Mann und eine Frau auf einer Strasse und von hinten, die Frau wird offensichtlich vom Mann angegriffen. Damit illustriert das Foto zwar allgemein das Thema Gewalt gegen Frauen. Es hat jedoch keinen direkten Zusammenhang mit dem Inhalt des Artikels. Das Foto ist ein klassisches Symbolbild, auch der «Corriere» versteht das Bild als Symbolbild, nennt es ein «thematisches Foto». Gemäss Praxis des Presserats muss ein «Symbolbild» zwar als solches erkennbar sein, was jedoch nicht bedeutet, dass dies wort-wörtlich genannt werden muss (Stellungnahmen 34/2009, 26/2016). Zwar führt das Foto leicht in die Irre, weil sich der im Artikel beschriebene Fall nicht genau so zugetragen hat. Der Presse-rat ist jedoch der Ansicht, dass dem Leser und der Leserin zuzumuten ist, das gezeigte Bild ein-zuordnen und zu erkennen, dass dieses das Thema Gewalt gegen Frauen in genereller Art und Weise illustriert. Die Bebilderung des Artikels vermag somit keine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» zu begründen.
2. Ziffer 8 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen, dass sie in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie kör-perliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben, verzichten. Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Ausdruck «violentatore» setze eine der Person eigene Charakteristik voraus (presuppone una caratteristica intrinseca della persona e recidivante) und weise mithin auf einen Wiederholungstäter hin. In Wirklichkeit habe sich der Vorfall ganz anders zugetragen. Der «Corriere del Ticino» führt dazu aus, der Begriff «violentatore» enthalte nicht die Konnotation eines Wiederholungstäters. Zudem sei der Täter in zweiter Instanz wegen Vergewaltigung ver-urteilt worden.
Im vorliegenden Fall steht somit nicht die Respektierung der Unschuldsvermutung zur Diskus-sion, sondern allein die Verwendung des Begriffs «violentatore» für einen (noch nicht rechts-kräftig verurteilten) Vergewaltiger. Im Vordergrund steht somit nicht eine allfällige Diskriminie-rung (Ziffer 8 der «Erklärung»), sondern vielmehr die Frage, ob der Ausdruck «violentatore» vor dem Hintergrund der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») standhält. «violentatore» bezeichnet generell eine Person «chi violenta, chi sottopone a violenza». Eine wiederholte Ge-waltanwendung ist nicht mit diesem Begriff konnotiert. Die Verwendung dieses Wortes im vor-liegenden Zusammenhang ist somit nicht zu beanstanden, eine Verletzung von Ziffer 1 der «Er-klärung» liegt somit nicht vor.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Der «Corriere del Ticino» hat mit dem Artikel «Tre anni e mezzo al violentatore» sowie mit dem diesen Artikel illustrierenden Foto Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Entstellen von Bildern) und Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.