Nr. 14/2011
Wahrheits- und Berichtigungspflicht

(Verein gegen Tierfabriken c. «Tages-Anzeiger»); Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 15. April 2011

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Neue Regeln für die Lizenz zum Töten» berichtete Felix Maise im «Tages-Anzeiger» vom 1. Dezember 2010 über eine Veränderung der Tierschutzverordnung: «Eine neue Verordnung soll garantieren, dass Tiere schonend geschlachtet werden. Die umstrittene Art, Hühner zu schlachten, bleibt aber weiterhin möglich.» Im Lauftext heisst es dazu: «Ohne vorherige Betäubung darf in der Schweiz – anders als in der EU, die Juden und Muslimen das rituelle, betäubungslose Töten erlaubt – kein Tier geschlachtet werden.» Unverständlich sei allerdings, dass das Bundesamt für Veterinärwesen bei der Geflügelschlachtung darauf verzichtet habe, anstelle der bisher üblichen Methode der Betäubung in einem Elektrowasserbad und anschliessendem Schnitt durch die Kehle auch die wesentlich tierschonendere Gasbetäubungsmethode gesetzlich zu regeln.

B. Gleichentags sowie am 3. Dezember 2010 wandte sich Erwin Kessler namens des Vereins gegen Tierfabriken (VgT) per E-Mail mit einem Leserbrief an den «Tages-Anzeiger». Entgegen der Darstellung im Bericht von Felix Maise dürften Juden und Muslime auch in der Schweiz Hühner und anderes Geflügel ohne Betäubung schlachten. «Dieses Schächten genannte betäubungslose Schlachten ist in der Schweiz nur für Säugetiere verboten.»

C. Am 16. Dezember 2010 beschwerte sich Erwin Kessler namens des VgT beim Presserat, der «Tages-Anzeiger» habe weder seinen Leserbrief abgedruckt, noch die im Bericht vom 1. Dezember 2010 enthaltene Falschinformation anderweitig berichtigt. Damit habe die Zeitung die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Gemäss Artikel 21 des Tierschutzgesetzes müssten nur Säugetiere vor dem Schlachten betäubt werden. In Artikel 178 der Tierschutzverordnung habe der Bundesrat auch die Wirbeltiere der Betäubungspflicht unterstellt, erlaube aber in Artikel 158 Absatz 4 das betäubungslose Schächten von Geflügel.

D. Am 14. Januar 2011 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeiger» die Beschwerde als unbegründet zurück. Zwar mache der Bundesrat für das rituelle Schlachten von Geflügel in Artikel 185 Absatz 4 (und nicht in Artikel 158 Absatz 4) der Tierschutzverordnung tatsächlich eine Ausnahme. Diese im Bericht nicht erwähnte Ausnahmebestimmung betreffe jedoch nicht das Thema des Berichts, sondern einen vernachlässigbaren Nebenpunkt. Im Artikel gehe es um die zulässigen Betäubungsmethoden bei Geflügel und nicht um ein Schächtverbot. Der Anteil an rituellen Schlachtungen (geringe Nachfrage; zum Teil werde geschächtetes Geflügel importiert) sei vernachlässigbar, die Unzulänglichkeit des Berichts damit nebensächlich und nicht relevant genug, um die Wahrheitspflicht zu verletzen.

Aus dem gleichen Grund habe der «Tages-Anzeiger» auf eine Korrektur in der Printausgabe verzichtet. Hingegen sei der Online-Artikel nach Bekanntwerden des Fehlers umgehend ergänzt worden («Erlaubt ist allerdings nach der Tierschutzverodnung das betäubungslose Schächten von Geflügel»). Ebenso habe die Redaktion die in der Schweizer Mediendatenbank (SMD) abgespeicherte Version entsprechend korrigiert.

E. Am 21. Januar 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 15. April 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der fehlende Hinweis im Bericht vom 1. Dezember 2010, wonach die Tierschutzverordnung das betäubungslose Schächten von Geflügel erlaubt, wird von den Parteien übereinstimmend als Fehler bewertet. Umstritten ist hingegen, ob dieser Fehler und die unterlassene Korrektur in der Printausgabe genügend relevant erscheinen, um eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung) des Journalistenkodex zu begründen. Gemäss der Praxis des Presserats zur Wahrheitspflicht (dazu zuletzt die Entscheide 64/2009, 20 und 37/2010) verletzt nicht jede formale oder inhaltliche Ungenauigkeit bereits eine berufsethische Norm. Vielmehr verlangt das Prinzip der Verhältnismässigkeit, dass einer Unkorrektheit eine gewisse Relevanz zukommt.

2. Auch wenn der präzisierende Hinweis darauf, dass das Schächten von Geflügel zulässig ist, für den grössten Teil des Leserschaft nicht gleich relevant sein dürfte wie für den Beschwerdeführer, ändert dies nach Auffassung des Presserates nichts daran, dass die im Bericht enthaltene Aussage «Ohne vorherige Betäubung darf in der Schweiz – anders als in der EU, die Juden und Muslimen das rituelle, betäubungslose Töten erlaubt – kein Tier geschlachtet werde.» eindeutig falsch ist. Und da es im Bericht darum geht, wie Tiere in der Schweiz gemäss der Tierschutzgesetzgebung getötet beziehungsweise geschlachtet werden dürfen, handelt es sich selbst dann nicht um einen irrelevanten Nebenpunkt, wenn der Anteil an in der Schweiz geschächtetem Geflügel gering ist. Eine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» ist deshalb zu bejahen.

3. Gestützt auf Ziffer 5 der «Erklärung» war der «Tages-Anzeiger» unter diesen Umständen verpflichtet, diese Falschmeldung zu berichtigen. Zwar ist aus Sicht des Presserates positiv zu würdigen, dass die Redaktion die Online-Fassung entsprechend ergänzt und auch einen SMD-Vermerk angebracht hat. Bei allem Verständnis für den beschränkten Platz im redaktionellen Teil einer Tageszeitung ist hingegen nicht einzusehen, weshalb es nicht zumutbar sein sollte, die kurze Berichtigung auch in der Printausgabe zu veröffentlichen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Neue Regeln für die Lizenz zum Töten» vom 1. Dezember 2010 und der darin enthaltenen Aussage «Ohne vorherige Betäubung darf in der Schweiz – anders als in der EU, die Juden und Muslimen das rituelle, betäubungslose Töten erlaubt – kein Tier geschlachtet werden» die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheit) verletzt.

3. Da die Redaktion es unterliess, die Falschmeldung auch in der Printausgabe zu korrigieren, hat sie die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung) verletzt.