Nr. 11/2012
Wahrheits- und Berichtigungpflicht / Entstellung von Tatsachen / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen / Meinungspluralismus

(X. c. «Südostschweiz»)

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I. Sachverhalt

A. Am 23. Juli 2011 um 1 Uhr nachts schrieb X. einen Online-Kommentar im Internet Forum der «Südostschweiz» zu einem Nachrichtenartikel über die Anschläge in Norwegen. Wenige Stunden zuvor hatte ein Einzeltäter in Oslo und auf der Insel Utoya 77 Menschen getötet. Der Online-Kommentar von X. lautete in vollem Wortlaut: «Schengen zeigt sein wahres Gesicht (Titel). Eine der ersten Massnahmen der norwegischen Regierung nach den Attentaten war, Schengen zu SUSPENDIEREN. Wieso tun sie das, obwohl doch Schengen die Sicherheit ERHÖHT!? Nun ist also klar, dass man für mehr Sicherheit Schengen suspendieren muss. Wann tut das also die Schweiz?» (Hervorhebung gemäss Original).

B. Am 24. Juli 2011 veröffentlichte Chefredaktor David Sieber auf der Titelseite der «Südostschweiz» einen «Sonntagskommentar» mit dem Titel «Die Hohe Zeit der Vorurteile». Darin befasste er sich mit den Reaktionen auf die Anschläge von Oslo und Utoya. Dabei kritisierte er jene, die «rechtsbürgerliche Parteien beschuldigen, die entsprechende Saat ausgebracht zu haben». Er schrieb auch von, «Experten (…), welche ferndiagnostisch islamistische Terroristen am Werk sahen». Sieber kritisierte in seinem Kommentar zudem den Internet-Kommentar von X.: «Und auf unserem Onlineportal suedostschweiz.ch wusste bereits jemand, was zu tun sei, damit sich solches in der Schweiz nicht wiederhole: die Kündigung des Schengen-Abkommens.»

C. X. beschwerte sich darauf in einer E-Mail an Chefredaktor Sieber, dieser Satz entspreche nicht der Wahrheit und bat um ein «Korrigendum» in der Printausgabe der «Südostschweiz». Er habe weder explizit noch implizit behauptet, eine Schengen-Kündigung könne solche Attentate verhindern. Sieber antwortete ebenfalls per E-Mail, er wisse nicht, was es zu entschuldigen gäbe. Er schrieb unter anderem, X. habe sich mit seinen «ewiggleichen rechthaberischen Kommentaren schon lange disqualifiziert». Daraus entwickelte sich ein E-Mail-Wechsel und in der Folge sperrte die «Südostschweiz» dem Beschwerdeführer den Zugang zum Internet-Forum und veröffentlichte dessen Leserbriefe nicht mehr.

D. Am 29. September 2011 schrieb David Sieber einen Eintrag in einen Blog auf der Internetseite der «Südostschweiz» mit dem Titel «Von Trollen und anderen virtuellen Gestalten». Er bestätigte darin die Sperrung von X., ohne dabei allerdings dessen Identität bekannt zu machen. Zur Begründung führte er an, der Beschwerdeführer sei ein «Troll». Er habe X. «mehrfach verwarnt» und ihm per E-Mail verständlich zu machen versucht, dass der Sinn von Internet-Foren die Diskussion sei, bis er dies aufgegeben habe und den Beschwerdeführer «einfach sperrte». Er wolle, dass im Forum der «Südostschweiz» hitzig, aber stets anständig diskutiert werde. Er wolle nicht, dass ein «Biotop der Weltverschwörer und Sonderlinge» entstehe.

E. Am 14. Dezember 2011 reichte X. beim Presserat Beschwerde ein gegen den Kommentar «Die Hohe Zeit der Vorurteile» vom 24. Juli 2011, gegen den Blog-Eintrag «Von Trollen und anderen virtuellen Gestalten» vom 29. September 2011 und gegen seine Aussperrung aus dem Internet-Forum und der Leserbriefrubrik.

Chefredaktor Sieber habe mit dem Kommentar und dem Blog-Eintrag die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Unterschlagen von wichtigen Elementen der Information) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Zudem verletze der Blog auch die Ziffern 7 (nicht gerechtfertigte Anschuldigungen). Weiter habe die «Südostschweiz» mit der Publikationssperre von Foren-Einträgen und Leserbriefen des Beschwerdeführers gegen Ziffer 2 (Meinungspluralismus) verstossen. Schliesslich verlangt X. eine öffentliche Richtigstellung auf der Titelseite der «Südostschweiz» und in Siebers Blog sowie eine öffentliche Entschuldigung und die Aufhebung der Sperrung von X.’ Leserbriefen und Online-Kommentaren.

F. Am 30. Dezember 2011 wies Chefredaktor David Sieber die Beschwerde namens der «Südostschweiz» als unbegründet zurück. Er hält an den beiden beanstandeten Veröffentlichungen fest und bezeichnet die Sperrung der Leserbriefe und Online-Beiträge von X. als gerechtfertigt. X. könne «beleidigend und verletzend» sein, deshalb habe er ihn gesperrt. Und X. habe die schrecklichen Ereignisse von Norwegen sehr wohl dazu benutzt, um das Schengen-Abkommen zu hinterfragen. Lächerlich sei die Behauptung, es sei ihm (Sieber) mit der Sperrung um den Schutz von ihm angeblich nahestehenden Parteien und Interessengruppen gegangen.

G. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried angehören.

H. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 28. März 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Berufsethische Normen gelten auch für den redaktionellen Internet-Auftritt von Medien. Das heisst auch für Online-Kommentare und Diskussionsbeiträge in Internet-Foren und Blogs, die sich direkt auf journalistische Veröffentlichungen der Redaktion beziehen (Stellungnahme 52/2011). Die berufsethischen Normen der «Erklärung» sind entsprechend auch auf den vom Beschwerdeführer beanstandeten Kommentar vom 24. Juli 2011 und den Blogeintrag von Chefredaktor David Sieber vom 29. September 2011 anwendbar.

2. a) Der Beschwerdeführer beruft sich auf die Ziffer 1 der «Erklärung», in der es heisst: «Sie (Journalistinnen und Journalisten) halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren.» In die gleiche Richtung zielt seine Rüge, die «Südostschweiz» habe Tatsachen entstellt (Ziffer 3 der «Erklärung») und sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen erhoben (Ziffer 7 der «Erklärung»).

Im seinem Online-Kommentar stellte der Beschwerdeführer fest, dass Norwegen unmittelbar nach den Attentaten das Schengen-Abkommen suspendiert hatte, um Grenzkontrollen durchführen zu dürfen. Somit sei klar, dass die Suspendierung von Schengen mehr Sicherheit bringe. Er stellte also einen Zusammenhang zwischen den Attentaten und dem Schengen-Abkommen her.

Dies kritisierte Sieber in seinem Kommentar: «Und auf unserem Onlineportal suedostschweiz.ch wusste bereits jemand, was zu tun sei, damit sich solches in der Schweiz nicht wiederhole: die Kündigung des Schengen-Abkommens.» Diese Interpretation des Forumeintrags lässt sich nachvollziehen und manche Leser dürften ihn so verstanden haben. X. besteht aber auf einer anderen Interpretation seiner fünf Sätze: «Für mehr Sicherheit» heisse nicht, dass durch die Schengen-Suspendierung ein Attentat durch einen Inländer verhindert werden könne, sondern dass die Ein- und Ausreise von Kriminellen verhindert werde. X.’ Forderung bleibt dieselbe: Das Schengen-Abkommen soll nicht mehr gelten und die Personenkontrollen an den Landesgrenzen sollen wieder eingeführt werden.

Für den Presserat unterscheidet sich X.’ Interpretation nur unwesentlich von jener Siebers. Die kommentierende Kritik des Chefredaktors nennt zudem die unbestrittene Tatsache, auf die sie sich stützt: Die Forderung des Beschwerdeführers nach Wiedereinführung der Grenzkontrollen. Sieber hat mit seiner Formulierung den Online-Kommentar allenfalls zugespitzt, aber nicht verfälscht. Eine Verletzung der Ziffern 1, 3 und 7 der «Erklärung» ist deshalb zu verneinen.

b) Durfte Chefredaktor Sieber den Beschwerdeführer in seinem Blog-Eintrag vom 29. September 2011 als «Troll» bezeichnen? Auch hier ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer gemeint ist, auch wenn Sieber dessen Namen erneut nicht nennt.

Sieber führt in seinem Blog zunächst aus, gemäss Wikipedia sei ein «Troll» im Internet «eine Person, die mit ihren Beiträgen in Diskussionen oder Foren unter Umständen stark provoziert». Aus seinen weiteren Ausführungen geht zudem hervor, dass das Verhalten von X. im Umfeld des Portals suedostschweiz.ch jedenfalls aus der subjektiven Sicht des Chefredaktors dieser Definition entspricht. Da sich der Beschwerdeführer offensichtlich häufig in sehr ausführlichen und die «Wahrheit» in Anspruch nehmenden Kommentaren im Internet-Forum der «Südostschweiz» äusserte, verstösst es nicht gegen die grosszügig auszulegende Kommentarfreiheit, wenn ihn Sieber als «Troll» kritisiert, zumal diese Wertung für die Leserschaft als solche erkennbar ist.

c) Der Beschwerdeführer bezeichnet Siebers Aussage «Ich habe ihn mehrfach verwarnt» als unwahr. Er sei nie verwarnt worden. Sieber hatte nach Angaben des Beschwerdeführers innerhalb eines Jahres auf acht E-Mails von X. reagiert. Dabei sei es jeweils um die Beiträge von X. im Forum der «Südostschweiz» gegangen. In den vier dem Presserat vorliegenden kurzen E-Mails schreibt Sieber unter anderem, wie der Beschwerdeführer kommentiere sei «nervig», man müsse sich ärgern und mit den «ewiggleichen rechthaberischen Kommentaren» habe sich X. selbst disqualifiziert. Das sei auch der Grund, weshalb die Südostschweiz kaum noch Leserbriefe von X. veröffentliche, und dieser solle ihn künftig mit seinen «Tatsachen» verschonen. Sieber schrieb aber auch in einer E-Mail an X., dieser müsse sein Verhalten nicht ändern, er solle aber weniger empfindlich sein.

Dem Beschwerdeführer ist zuzugestehen, dass von einer Verwarnung im juristischen Sinn (Androhung einer Sanktion im Falle einer weiteren Widerhandlung) zwar offensichtlich nicht die Rede sein kann. Nach Auffassung des Presserates ist der beanstandete Satz «Ich habe ihn mehrfach verwarnt» jedoch nicht in einem rechtlichen Sinn zu verstehen. Vielmehr legt der zweite Halbsatz «ihm per E-Mail verständlich zu machen versucht» eine andere Interpretation nahe. Sieber bezieht sich damit auf seine Bemühungen, X. darauf hinzuweisen, dass er als Chefredaktor langsam, aber sicher genug von den aus seiner Sicht rechthaberischen Kommentaren von X. hatte. Diese entsprächen nicht der Idee eines Internetdiskussionsforums, welche Sieber für suedostschweiz.ch vorschwebe. Diese durch die dem Presserat eingereichten E-Mails belegten Ausführungen können durchaus als «Warnung» interpretiert werden.

d) Der Beschwerdeführer sieht das wahre Motiv für die Sperrung in «politischen Gründen». Sieber wolle damit «ihm nahestehende Parteien und Interessengruppen» schützen. Dieses Motiv unterschlage Sieber. Der Beschwerdegegner stellt dies in Abrede und bezeichnet den Vorwurf als «absolut lächerlich». Der Vorwurf sei eigentlich ein Grund zur Gegenklage.

Aus den ihm vorliegenden Unterlagen kann der Presserat nicht entnehmen, dass hinter der Sperrung eine politische Absicht steht.

e) Da die Wahrheitspflicht weder im Kommentar noch im Blog verletzt worden ist, bestand für die «Südostschweiz» auch kein Anlass zur Berichtigung (Ziffer 5 der «Erklärung»).

3. a) Mit dem Entscheid, seine Leserbriefe und Internet-Kommentare nicht mehr zu veröffentlichen, habe die «Südostschweiz» die Ziffer 2 (Freiheit der Information) verletzt, schreibt der Beschwerdeführer. Der Presserat hält in langjähriger Praxis daran fest, dass es im alleinigen Ermessen der Redaktion liegt, ob sie einen bestimmten Leserbrief veröffentlicht oder nicht (vgl. Stellungnahmen 14/1999, 15/2001, 40/2004, 39/2007, 5/2008). Das gilt auch für Medien mit regionaler Vormachtstellung (vgl. die Stellungnahmen 23/2002, 59/2004, 5/2008).

Das heisst aber nicht, dass Redaktionen frei sind, einzelnen Personen den Zugang zu ihren Leserbrief- und Meinungsseiten sowie zu Internet-Foren generell zu verweigern. Denn damit wird der Person «ihr Recht auf freie Meinungsäusserung in einer grundsätzlichen und systematischen Art eingeschränkt» (28/2002, 43/2003; vgl. auch die Stellungnahme 37/2005). Eine solche Diskriminierung lässt sich vor den Grundsätzen der Meinungspluralität, der Fairness und der Informationsfreiheit nur in seltenen Ausnahmefällen vertreten. Dies gilt umso mehr, wenn ein Medium – wie die «Südostschweiz» – eine regionale Vormachtstellung hat.

Für Internet-Foren gelten dabei im Prinzip dieselben medienethischen Regeln wie für Leserbriefe. In den Printausgaben ist der Platz für Leserbriefe beschränkt, während die Zahl der Veröffentlichungen im Internet praktisch uneingeschränkt ist. So ist im Online-Bereich es zur gängigen Praxis geworden, alle Leserreaktionen zu veröffentlichen, falls sie rechtlichen und ethischen Grundregeln entsprechen. Umso schwieriger ist es, zu begründen, einen einzelnen oder eine Gruppe generell auszuschliessen. Es ist aber jeder Redaktion überlassen, den Zugang zu den Internet-Foren ebenso zu beschränken wie auf einer Leserbriefseite, beispielsweise durch strengere Anforderungen an Inhalt, Relevanz oder Qualität der Leserbeiträge. Das «Zofinger Tagblatt» hat beispielsweise die Zahl der veröffentlichten Leserbriefe auf jährlich zehn pro Person beschränkt. Der Presserat wies eine Beschwerde gegen diese Massnahme ab (43/2003). Solche Regeln zur Beschränkung sollten jedoch aus Gründen der Transparenz veröffentlicht werden und vor allem sollten für alle Beitragsschreiber die gleichen Regeln gelten.

b) Sieber schreibt in der Beschwerdeantwort zwar, X.’ Beiträge können «beleidigend und verletzend» sein, belegt dies aber nicht. Es ist für den Presserat auch nicht ersichtlich, dass X. gegen die Kriterien verstiess, die die «Südostschweiz» auf ihrer Webseite veröffentlicht: «Beiträge mit diffamierendem Inhalt werden nicht publiziert.» Von den Beitragsverfassern wird verlangt, dass sie keine «gesetzeswidrigen, belästigenden, beleidigenden, die Privatsphäre anderer verletzenden, missbräuchlichen, bedrohlichen, schädlichen, vulgären, obszönen, verleumderischen, zu beanstandenden oder anderweitig verwerflichen Inhalte» verbreiten. Für eine Publikationssperre braucht es sehr gute Gründe. Dem Presserat liegen jedoch keine Zuschriften des Beschwerdeführers vor, die eine Sperrung gerechtfertigt erscheinen lassen. Mithin verletzt die «Südostschweiz» mit ihrer Publikationssperre gegen den Beschwerdeführer die Ziffer 2 der «Erklärung».

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die Redaktion der «Südostschweiz» verletzt mit der Publikationssperre gegen den Beschwerdeführer die Ziffer 2 (Meinungspluralismus) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Eine Redaktion kann zwar frei darüber entscheiden, ob sie einzelne Leserbriefe, Einträge in Internet-Foren oder Kommentare im Internet veröffentlicht. Wenn sie aber einzelne Personen, Personengruppen oder Institutionen in einem Medium mit einer Publikationssperre belegt, kann dies gegen die Grundsätze der freien Meinungsbildung, der Meinungspluralität und der Fairness verstossen. Für eine Publikationssperre braucht es sehr gute Gründe. Solche liegen hier nicht vor. Deshalb ist die Publikationssperre nicht gerechtfertigt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Die «Südostschweiz» hat mit dem Kommentar vom 24. Juli 2011 («Die Hohe Zeit der Vorurteile») und dem Blog-Eintrag vom 29. September 2011 («Von Trollen und anderen virtuellen Gestalten») die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Entstellung von Tatsachen) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung» nicht verletzt.