Nr. 43/2013
Wahrheit / Entstellung von Informationen / Lauterkeit der Recherche /Berichtigung / Privatsphäre

(X c. «Tages-Anzeiger»/«Blick am Abend»); Stellungnahme vom 23. August 2013

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I. Sachverhalt

A. Am 7. August 2012 veröffentlichte Stefan Häne im «Tages-Anzeiger» und auf «Tages-Anzeiger Online» einen Artikel über eine Strafanzeige gegen den Zürcher Regierungsrat Mario Fehr (Titel: «Der Unfassbare hat nicht nur Mario Fehr im Visier»). Eingereicht habe die Strafanzeige X., der 2011 für die Piratenpartei erfolglos bei den Kantonsratswahlen kandidiert habe. X. habe gegen den Regierungsrat Strafanzeige eingereicht, weil dieser «sensible persönliche Daten» von X. verschickt und damit das Amtsgeheimnis verletzt habe. Neben SP-Regierungsrat Fehr habe X. auch zwei kantonale Angestellte angezeigt. (…) Der 33-jährige Wirtschaftsinformatiker mache nicht zum ersten Mal von sich reden. «Weggefährten aus der Politik beschreiben X. als ‹aufdringlich› und ‹egozentrisch›.» Er sei vor den Kantonsratswahlen aus dem Nichts aufgetaucht und habe sofort die «Parteiideale nachgebetet». Mangels Personal habe man ihn auf eine Bezirksliste gesetzt. Er habe Aufmerksamkeit um jeden Preis gesucht, sei aber nicht bereit gewesen, für die Partei Arbeit zu leisten. Als er es bei den Nationalratswahlen nicht auf die Liste geschafft habe, sei er ebenso schnell aus der Partei verschwunden, wie er gekommen sei.

Der Online-Bericht ist im Gegensatz zum Print-Artikel mit einem relativ grossen Bild von X. illustriert. Die Bildlegende lautet: «Wollte im vergangenen Jahr in den Kantonsrat gewählt werden: X.»

B. Tags darauf vermeldete «Tages-Anzeiger Online», X. habe die Anzeige gegen den Regierungsrat zurückgezogen (Titel: «Anzeige gegen Mario Fehr zurückgezogen»). Da es sich aber um ein Offizialdelikt handle, habe die Staatsanwaltschaft den Kantonsrat um die Ermächtigung angefragt, ein Strafverfahren gegen Fehr durchzuführen. X. habe Mario Fehr vorgeworfen, (…) «sensible persönliche Daten» über ihn verschickt und damit das Amtsgeheimnis verletzt zu haben.

(…)

Illustriert ist der Online-Bericht mit einem Bild von Regierungsrat Fehr sowie – in kleinerer Aufmachung – dem bereits im Artikel vom Vortag verwendeten Foto von X.

C. Am 5. November 2012 vermeldete «Tages-Anzeiger Online», die Geschäftsleitung des Zürcher Kantonsrats habe es einstimmig abgelehnt, die Ermächtigung zur Einleitung eines Strafverfahrens zu erteilen («Kantonsrat bestätigt Immunität von Mario Fehr»). Der Lead des Artikels lautet: «Sicherheitsdirektor Mario Fehr war von der Piratenpartei wegen Amtsgeheimnisverletzung angezeigt worden. Doch die Geschäftsleitung des Kantonsrats ist gegen die Aufhebung der Immunität.» Denn es gebe keinerlei Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Verhalten Fehrs. «Angezeigt hatte Fehr der 33-jährige Wirtschaftsinformatiker X., der bei den Kantonsratswahlen im April 2011 für die Piratenpartei kandidiert hatte, jedoch nicht gewählt wurde.

(…)

D. Gleichentags veröffentlichte der «Blick am Abend» unter dem Titel «Fehr bleibt immun – Pirat blitzt ab» folgende (Agentur-)Meldung: «Der Zürcher Kantonsrat hat sich gegen die Aufhebung der Immunität von Regierungsrat Mario Fehr (SP) ausgesprochen. Piratenpartei-Mitglied X. (33) hatte ihn wegen Amtsgeheimnisverletzung angezeigt.

(…)

Illustriert ist die Meldung mit einem kleinen Bild von X. und folgendem Vermerk: «(…) Pirat X.»

E. Am 20. Dezember 2012 sowie am 3. und 5. Januar 2013 beschwerte sich X. über die drei obengenannten vom «Tages-Anzeiger» bzw. «Tages-Anzeiger Online» veröffentlichten Berichte über seine Strafanzeige gegen Regierungsrat Fehr.

Der «Tages-Anzeiger» habe sich bei der Beschaffung seines Bildes unlauterer Methoden bedient (Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»). Die unwahre Quellenangabe «Eda Gregr/Wiki Commons» und die Behauptung, «gemäss TA-Informationen hat er gegen zwei Angestellte des Strassenverkehrsamts Strafanzeige eingereicht», verstiessen zudem gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung»). Unwahr sei zudem auch die Aussage «Piratenparteimann X.», die der «Tages-Anzeiger» zunächst in einer Bildlegende verwendet habe sowie insbesondere der im Lead des Artikels vom 5. November 2012 enthaltene Satz, wonach es sich um eine Strafanzeige des Beschwerdeführers handle. Verletzt habe der «Tages-Anzeiger» schliesslich auch die Privatsphäre des Beschwerdeführers (Ziffer 7 der «Erklärung»).

F. Am 9. Januar 2013 beschwerte sich X. beim Presserat über die von «Blick am Abend» veröffentlichte Meldung vom 5. November 2012, die gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») verstosse. Er sei seit dem Jahr 2011 nicht mehr Mitglied der Piratenpartei und auch sonst kein «Pirat». Da die Redaktion es unterlassen habe, eine Berichtigung zu veröffentlichen, habe sie auch die Ziffer 5 der «Erklärung» verletzt. Schliesslich verletze die Veröffentlichung seines Bildes die Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre).

G. Am 7. Februar 2013 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion «Tages-Anzeiger» die Beschwerde von X. als unbegründet zurück.

Das vom Beschwerdeführer beanstandete Bild sei im Zeitpunkt der Veröffentlichung der beiden Artikel vom 7. und 8. August 2012 auf Wikipedia Commons zugänglich gewesen, was der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdeergänzung selber bestätige. Damit sei die Quellenangabe des «Tages-Anzeiger» korrekt und die Redaktion habe sich bei der Beschaffung des Bildes keiner unlauteren Methoden bedient. Das Bild sei zudem Ende Januar 2013 nach wie vor auf der Website der Piratenpartei Kanton Zürich zugänglich gewesen.

Der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Publikationen politisch tätig gewesen. Insbesondere habe er mit Bild für die Piratenpartei des Zürcher Kantonsrats kandidiert. Er sei somit in der Öffentlichkeit gestanden. Entsprechend habe ein legitimes Informationsinteresse an seiner Person und seiner gesamten Teilnahme am öffentlichen Leben bestanden.

Zur vom Beschwerdeführer beanstandeten Aussage «Gemäss TA-Informationen hat er gegen zwei Angestellte des Strassenverkehrsamts Strafanzeige eingereicht», wendet der «Tages-Anzeiger» ein, X. selbst habe die Redaktion per E-Mail und Telefon dazu veranlasst, die «Geschichte» zu veröffentlichen. Er selber habe der Redaktion mitgeteilt, er hätte gegen zwei Angestellte des Strassenverkehrsamts Strafanzeige eingereicht.

Auch die Aussage im Bericht vom 5. November 2012 «Sicherheitsdirektor Mario Fehr war von der Piratenpartei wegen Amtsgeheimnisverletzung angezeigt worden» beruhe auf den Informationen, mit denen der Beschwerdeführer den «Tages-Anzeiger» versorgt habe. Zudem habe X. zu keinem Zeitpunkt bestritten, dass die Aussage richtig sei. Deshalb habe sich die Frage einer allfälligen Berichtigung gar nicht gestellt.

H.

(…)

I. Die Redaktion «Blick am Abend» hat innert der verlängerten Antwortfrist keine Stellungnahme zur Beschwerde von X. eingereicht.

J. Am 20. März 2013 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerden gegen den «Tages-Anzeiger» und gegen «Blick» am Abend» würden gemeinsam vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

K. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. August 2013 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss der Ziffer 7 der «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, die Privatsphäre zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Eine identifizierende Berichterstattung ist laut der Richtlinie 7.2 zur «
Erklärung» zulässig, «sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt».

b) An der Berichterstattung über die Strafanzeige gegen ein Behördemitglied besteht in der Regel ein öffentliches Interesse. Dies gilt aber nicht ohne Weiteres auch für die Person, welche die Anzeige eingereicht hat. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass X. im Jahr 2011 für die Piratenpartei im Kanton Zürich für den Kantonsrat kandidiert hat, besteht doch kein erkennbarer Zusammenhang zwischen dieser Kandidatur und der Strafanzeige.

X. verschweigt in den Eingaben vom 20. Dezember 2012 sowie vom 3. und 5. Januar 2013 jedoch zunächst, dass der «Tages-Anzeiger» am 6. August 2012, also einen Tag vor der Veröffentlichung des ersten der vom Beschwerdeführer beanstandeten Berichte, auf Veranlassung von X. hin bereits ausführlich über die Strafanzeige und deren Hintergründe berichtet hat («Ex-Pirat will Mario Fehr vor Gericht zerren»). Mithin hat der Beschwerdeführer die Tatsachen, deren Veröffentlichung er dem «Tages-Anzeiger» nun vorwirft, der Redaktion selber zugetragen. In seinem Schreiben vom 20. Februar 2013 an den Presserat räumt X. denn auch ein: «Ich habe am 5. August 2012 gegenüber dem «Tages-Anzeiger» einen Einblick in meine Privatsphäre gegeben, ich war einverstanden, dass am 6. August 2012 ein Artikel publiziert wird.» Hingegen sei er nicht damit einverstanden gewesen, «dass zwei Monate später noch einmal ein ähnlicher Artikel publiziert wird».

Der Beschwerdeführer muss es sich vorbehältlich eines überwiegenden öffentlichen Interesses zwar nicht gefallen lassen, dass eine Zeitung gegen seinen Willen in identifizierender Weise über Tatsachen aus seiner Privatsphäre berichtet. Er verkennt jedoch, dass er – sofern er zunächst in die Veröffentlichung eingewilligt hat – die gleichen Tatsachen nicht nachträglich wieder zur Privatangelegenheit erklären kann. Vielmehr war der «Tages-Anzeiger» berechtigt, über die ihm von X. zugespielten Tatsachen nicht bloss im Sinne des Beschwerdeführers, sondern aus kritischer Distanz zu berichten und zudem auch den weiteren Verlauf der Strafanzeige publizistisch zu begleiten. Unter diesen Umständen sieht der Presserat die Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre) nicht verletzt.

2. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus die Bildbeschaffung als unlauter im Sinne von Ziffer 4 der «Erklärung» rügt, ist eine Verletzung dieser Bestimmung für den Presserat ebenso wenig erstellt. Der «Tages-Anzeiger» führt zu diesem Punkt glaubhaft aus, dass das verwendete Bild zum Zeitpunkt der Publikation der beiden Artikel vom 7. und 8. August 2012 auf «Tages-Anzeiger Online» im Internet frei zugänglich war. Dies einerseits auf Wikipedia Commons, anderseits auf der Website der Zürcher Piratenpartei. «Tages-Anzeiger Online» hat zudem den Fotografen und die Fundstelle des zum Zeitpunkt der Publikation frei verwendbaren Bilds korrekt angegeben.

3. Den weiteren Rügen des Beschwerdeführers (Verletzung der Wahrheitspflicht; Entstellung von Informationen) fehlt es nach Auffassung des Presserats – mit einer Ausnahme – an der erforderlichen Relevanz, um daraus eine Verletzung der «Erklärung» abzuleiten.

a) Ob X. bloss Regierungsrat Mario Fehr oder im gleichen Zusammenhang noch zwei weitere Personen wegen Amtsgeheimnisverletzung angezeigt hat, erscheint für das Verständnis des Sachverhalts durch die Leserschaft des «Tages-Anzeiger» im konkreten Fall kaum derart wichtig, dass eine allfällige Berichtigung unabdingbar wäre. Für den Presserat steht bei diesem Punkt zudem Aussage gegen Aussage. Während der Beschwerdeführer behauptet, die Behauptung sei unwahr – ohne dies aber beispielsweise mit einer Kopie der Strafanzeige zu belegen – wendet die Redaktion «Tages-Anzeiger» ein, X. habe dies ihr gegenüber so dargestellt und auch nachträglich nie in Abrede gestellt. Auch der auf Veranlassung des Beschwerdeführers publizierte (und nicht beanstandete) Artikel vom 6. August 2012 erwähnt, X. habe bei den Behörden schon mehrere Strafanzeigen eingereicht.

b) Wie bereits den im August 2012 erschienenen Berichten des «Tages-Anzeiger» zu entnehmen ist, war X. zu diesem Zeitpunkt aus der Piratenpartei ausgetreten. Insofern ist der im Lead des «Tages-Anzeiger»-Artikels vom 5. November 2012 enthaltene Satz «Mario Fehr war von der Piratenpartei wegen Amtsgeheimnisverletzung angezeigt worden» offensichtlich in zweierlei Hinsicht unzutreffend. Weder stammte die Strafanzeige von der Piratenpartei, noch gehörte der Beschwerdeführer dieser weiterhin an. Ebenso wenig korrekt ist deshalb auch die Bezeichnung von X. als «Pirat» und «Piratenpartei-Mitglied» im «Blick am Abend» vom gleichen Tag.

Dem «Blick am Abend» ist aber daraus schon deshalb kein Vorwurf zu machen, weil er sich offensichtlich auf eine SDA-Meldung abgestützt hat. Gemäss der Praxis des Presserats sind Journalistinnen und Journalisten nicht verpflichtet, Agenturmeldungen mit eigenen Recherchen zu überprüfen (Stellungnahme 28/2010). Hingegen hätte die Redaktion «Tages-Anzeiger Online» bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt und insbesondere unter Berücksichtigung der bereits im August 2012 veröffentlichten Artikel merken müssen, dass die Strafanzeige gegen Regierungsrat Fehr nicht von der Piratenpartei, sondern von einem Ex-Mitglied erstattet worden ist. Insofern hat die Redaktion deshalb die Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt. Eine Verletzung der Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung») ist hingegen zu verneinen, da die Redaktion die beanstandete Formulierung nachträglich entfernt hat.

c)

(…)

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen «Tages-Anzeiger Online» wird teilweise gutgeheissen.

2. «Tages-Anzeiger Online» hat mit dem Artikel «Kantonsrat bestätigt Immunität von Mario Fehr» vom 5. November 2012 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde gegen «Tages-Anzeiger Online» abgewiesen.

4. «Tages-Anzeiger Online» hat die Ziffern 3 (Entstellung von Informationen), 4 (Lauterkeit der Recherche), 5 (Berichtigung) und 7 (Privatsphäre) der «Erklärung» nicht verletzt.

5. Die Beschwerden gegen die Printausgabe des «Tages-Anzeiger» und gegen «Blick am Abend» werden abgewiesen.