Zusammenfassung
Nicht konsequent zu schweren Vorwürfen angehört
Darf eine Zeitung identifizierend über das Strafverfahren gegen einen Rechtsanwalt berichten Und ist sie verpflichtet, ihn in einer Artikelserie zu neuen schweren Vorwürfen jedesmal anzuhören? Der Presserat äussert sich differenziert und heisst eine Beschwerde gegen die «Aargauer Zeitung» teilweise gut. Die Zeitung habe den Namen des Anwalts nennen, nicht aber dessen Bild veröffentlichen dürfen. Und sie habe ihn nicht konsequent zu schweren Vorwürfen angehört.
Der Rechtsanwalt ist in einem laufenden Strafverfahren mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe als Immobilienverwalter Kontos «geplündert». Die «Aargauer Zeitung» versuchte vor der Veröffentlichung des ersten Berichts, ihn für eine Stellungnahme zu erreichen. Er war jedoch auf einer Auslandreise und beantwortete die E-Mails erst am nächsten Tag, als der Artikel bereits erschienen war. In weiteren Artikeln erhob die Zeitung neue schwere Vorwürfe, ohne darauf hinzuweisen, ob sie versucht hatte, eine Stellungnahme einzuholen.
Für den Presserat genügt eine Frist von einem halben Tag zur Einholung einer Stellungnahme zu einem schweren Vorwurf im konkreten Fall gerade noch. Vor der Publikation weiterer schwerer Vorwürfe hätte die «Aargauer Zeitung» jedoch jedesmal konsequent versuchen müssen, eine Stellungnahme des Rechtsanwalts einzuholen. Die Namensnennung ist für den Presserat gerechtfertigt, weil Anwälte in einem Monopolberuf tätig sind und das Strafverfahren im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit steht. Hingegen hätte die Online-Ausgabe darauf verzichten sollen, das Bild des Rechtsanwalts mehrfach zu veröffentlichen und ihn so an den Pranger zu stellen.
Résumé
Audition nécessaire à chaque nouveau reproche grave
Un journal peut-il rendre compte d’une procédure pénale contre un avocat en révélant l’identité de ce dernier? Et est-il obligé de l’entendre chaque fois qu’il formule de nouveaux reproches graves? Le Conseil de la presse s’exprime de manière différenciée et approuve partiellement une plainte contre l’«Aargauer Zeitung». Le journal peut donner le nom de l’avocat mais non publier sa photo. De plus il aurait dû le confronter aux reproches graves nouveaux adressés à son encontre
L’avocat impliqué dans une procédure pénale en cours doit faire face au reproche d’avoir «pillé» des comptes en tant qu’administrateur d’immeubles. Avant de publier le premier article, l’«Aargauer Zeitung» a cherché à obtenir son point de vue. Il était en voyage à l’étranger et n’a répondu au courriel que le lendemain, alors que l’article était déjà paru. Dans d’autres articles, le journal formule des reproches graves nouveaux, sans indiquer s’il a tenté d’obtenir une prise de position.
Pour le Conseil de la presse un délai d’une demi-journée suffisait tout juste en l’occurrence pour obtenir une prise de position sur un reproche grave. Avant de publier de reproches graves nouveaux, l’«Aargauer Tagblatt» aurait dû chaque fois chercher à obtenir l’avis de l’avocat. Par ailleurs, pour le Conseil de la presse, il était justifié de donner l’identité de l’avocat, ce dernier exerçant une profession de type monopolistique, et la procédure pénale étant liée à l’activité professionnelle. En revanche, l’édition online aurait dû renoncer à publier à plusieurs reprises la photo de l’avocat et de le clouer ainsi au pilori.
Riassunto
Lo si doveva sentire un’altra volta…
Per un giornale dare il nome di un avvocato penalmente inquisito è certamente lecito. Ma è necessario che gli chieda sempre di nuovo di prendere posizione in caso di nuovi addebiti? Il Consiglio della stampa, nel caso di un reclamo contro la «Aargauer Zeitung», ha espresso un giudizio sfumato, accogliendo in parte il reclamo del legale. Era lecito al giornale pubblicare il nome dell’avvocato, pubblicare sempre la sua foto no. Inoltre il giornale ha mancato al suo dovere di interpellare la persona criticata in presenza di nuovi gravi addebiti.
L’avvocato risultava coinvolto in un procedimento in cui lo si accusava di aver «saccheggiato» dei conti a lui affidati come gestore immobiliare. L’«Aargauer Zeitung» aveva cercato di raggiungerlo prima di pubblicare il primo articolo, ma la persona era assente all’estero e aveva potuto rispondere per posta elettronica solo il giorno dopo la pubblicazione. Successivamente, però, il giornale era tornato sul caso con nuovi addebiti, senza precisare se avesse chiesto all’accusato di prendere posizione.
Sul primo incidente di percorso, il Consiglio della stampa ha ritenuto che, nel caso di una notizia di una certa gravità, il giornale non potesse attendere più di mezza giornata. Sugli addebiti nuovi, invece, il giornale avrebbe dovuto cercare di nuovo la presa di posizione dell’interessato. La menzione del nome si giustificava, a giudizio del Consiglio della stampa, perché la figura dell’avvocato amministratore gode di un regime di monopolio (l’albo è pubblico) e l’accusa si riferiva precisamente a quella sua attività. Ma la pubblicazione, ogni volta, della foto sul sito online del giornale non era necessaria.
I. Sachverhalt
A. Am 12. Januar 2012 berichtete Thomas Röthlin in der «Aargauer Zeitung» auf der Frontseite («Schwere Vorwürfe an X.»), auf Seite 27 («X.: Betrug im grossen Stil?») sowie auf «Aargauer Zeitung Online» («X. soll im grossen Stil betrogen haben») über das gegen einen Lenzburger Rechtsanwalt laufende Strafverfahren wegen «komplexen Vermögensdelikten». Dem in den Berichten namentlich genannten X. werde vorgeworfen, bei seinen Mandaten für Stockwerkeigentümergemeinschaften, einer Wohnbaugenossenschaft sowie einer Erbengemeinschaft Konti «geplündert» zu haben. Die entsprechenden Ermittlungen liefen seit 2010. Über die Anzahl der Fälle und die Deliktsumme mache die Staatsanwaltschaft aus ermittlungstaktischen Gründen keine Angaben. Hängig sei zudem ein Antrag bei der kantonalen Anwaltskommission, X. die Berufsausübungsbewilligung zu entziehen. X. «wollte sich gestern nicht äussern, obwohl er mit den Vorwürfen per Mail konfrontiert wurde. Wo er sich aufhält, scheint niemand zu wissen. Laut einer Mitarbeiterin befindet er sich irgendwo im Ausland.» Die «Aargauer Zeitung» habe X. den ganzen Vortag Zeit gegeben, sich zu den Vorwürfen zu äussern. Er habe aber zwei Anfragen unbeantwortet gelassen.
In einem separaten Kasten («‹Buchser Dorfkrieg›: Was im ersten Fall X. geschah») weist die «Aargauer Zeitung» darauf hin, dass X. «in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre» – zusammen mit seiner damaligen Ehefrau – schon einmal die Zeitungsspalten gefüllt habe. Dem Gemeindeammann von Buchs seien zunächst in einem anonymen Schreiben «diverse Mauscheleien» vorgeworfen worden. Das Verfahren sei aber eingestellt worden und die Staatsanwaltschaft habe daraufhin die Strafverfolgung gegen das Ehepaar X. wegen falscher Anschuldigung und Amtsgeheimnisverletzung eröffnet. 2005 seien die beiden in einem vielbeachteten Strafprozess mangels schlüssigen Beweisen freigesprochen worden.
Online ist der Bericht zudem mit einem Bild von X. illustriert («Quelle: zur Verfügung gestellt»).
B. Am 13. Januar 2012 zog die «Aargauer Zeitung» («Opfer warten auf das Berufsverbot für X.») das Thema in der Print- und der Online-Ausgabe weiter. Obwohl schon lange gegen X. ermittelt werde, dürfe dieser als Anwalt weiter praktizieren. Ein Berufsverbot sei erst nach einer strafrechtliche
n Verurteilung möglich. Geprüft werde hingegen ein vorsorgliches Verbot.
X. habe im Übrigen nachträglich auf die E-Mail-Anfragen reagiert und «sein langes Schweigen» damit erklärt, er sei wegen eines mehrstündigen Fluges nicht «internetfähig» gewesen. «Zu den konkreten Fragen nehme er, der zurzeit beruflich im Ausland weile, ‹grundsätzlich nicht Stellung›.» Auch der Pflichtverteidiger, an den X. den Journalisten verwiesen habe, äussere sich nicht.
C. Am 14. Januar 2012 veröffentlichte die «Aargauer Zeitung» den nächsten Bericht: «X. schuldet Handwerkern viel Geld». Für Sanierungsarbeiten an einer Lenzburger Villa, die eine Gesellschaft von X. von der Stadt Lenzburg erworben habe und die X. seit 2011 als Kanzlei benutze, sei ein «mittelgrosser sechsstelliger Betrag ausstehend». Nachdem die schweren Vorwürfe gegen X. publik geworden seien, habe zudem auch die «Berner Zeitung» im Zusammenhang mit einem Streit rund um eine Liegenschaftsverwaltung mit dem Angeschuldigten reden wollen – «vergeblich».
D. Am 19. Januar 2012 vermeldete die «Aargauer Zeitung»: «X. lässt sich freiwillig aus dem Anwaltsregister löschen». Er komme damit einem sich abzeichnenden Berufsverbot zuvor. Mit der Löschung aus dem Anwaltsregister sei es X. lediglich verwehrt, als Parteivertreter vor Gericht aufzutreten. Hingegen könne er weiter in den Geschäftsbereichen Rechtsberatung, Vermögensverwaltung und Willensvollstreckung tätig sein.
E. Am 20. Januar 2012 kam die «Aargauer Zeitung» auf den Verkauf einer Villa der Stadt Lenzburg an X. zurück («Villa-Käufer stand nicht unter Verdacht»). Der Verkauf der Villa sei laut dem Stadtammann bereits im November 2010 beschlossen worden – vor der Eröffnung des Strafverfahrens gegen X. Damals habe der Stadtrat keine Anhaltspunkte für das kurze Zeit später eingeleitete Verfahren gehabt.
F. Am 30. Januar 2012 berichtete die «Aargauer Zeitung» über Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem gegen X. geführten Verfahren («Fall X.: Harsche Kritik an Staatsanwältin»). Die Staatsanwaltschaft habe einen wichtigen Zeugen bis heute nicht befragt, obwohl dieser bereits im Herbst 2010 von weiteren Fällen gewusst habe.
G. Am 3. Februar 2012 vermeldete die «Aargauer Zeitung» («Staatsanwalt hätte ihn laufen lassen»), die seit Ende 2010 laufenden Ermittlungen gegen X. seien nicht die ersten. Bereits 2007 hätten die Strafverfolgungsbehörden gegen X. ermitteln müssen. Die Vormundschaftsbehörde habe Strafanzeige gegen X. eingereicht und ihm vorgeworfen, die Konti seiner minderjährigen Tochter geplündert zu haben. Die Staatsanwaltschaft habe das Verfahren einstellen wollen, doch der Beistand der Tochter habe sich erfolgreich dagegen gewehrt. Nachdem die Tochter volljährig geworden war, habe sich der Vater aber aussergerichtlich mit ihr geeinigt, einen Grossteil des entwendeten Kindesvermögens zurückgezahlt und er sei so einem Strafprozess zuvorgekommen.
H. Am 3. April 2012 «rechtfertigte» der Oberstaatsanwalt des Kantons Aargau in der «Aargauer Zeitung» die lange Verfahrensdauer («Oberstaatsanwalt: Die Akten im Fall X. waren versiegelt».)
I. Am 15. April 2012 beschwerte sich X. beim Schweizer Presserat über die obengenannten Berichte von «Aargauer Zeitung» und «Aargauer Zeitung Online» und beanstandete, diese verletzten die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7 (Schutz der Privatsphäre / Identifizierung / Unschuldsvermutung / Recht auf Vergessen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
Thomas Röthlin habe sich vor der Veröffentlichung des ersten Artikels vom 12. Januar 2012 nicht genügend um eine Stellungnahme zu den schweren Vorwürfen bemüht. Der Beschwerdeführer habe sich im Flugzeug befunden und habe vor der Landung keine Stellung nehmen können. Seine Sekretärin habe dies Röthlin mitgeteilt. Dies sei durch eine Telefonnotiz der Mitarbeiterin belegt. Bei sämtlichen weiteren Berichten habe ihn Röthlin – mit einer Ausnahme – nie mehr kontaktiert.
Die «Aargauer Zeitung» habe zudem von Anfang an seinen Namen genannt, obwohl daran kein öffentliches Interesse bestehe. Er sei weder eine Person des öffentlichen Interesses noch übe er ein politisches Amt aus. Die «Aargauer Zeitung Online» habe darüber hinaus jeden Bericht mit einem persönlichen Foto illustriert, das sie von seiner Homepage entwendet habe. Weiter habe sie es unterlassen, auf die strafrechtliche Unschuldsvermutung hinzuweisen. Und dadurch, dass bei einer Google Suche unter dem Namen «X.» die Artikelserie zuoberst auf der Liste der Suchergebnisse erscheine, verletze die Zeitung das «Recht auf Vergessen».
Schliesslich habe die «Aargauer Zeitung» im Bericht vom 3. Februar 2012 die wahrheitswidrige Berichterstattung der «Berner Zeitung» übernommen, ohne die Fakten zu überprüfen.
J. Am 23. April 2012 reichte X. einen weiteren Artikel der «Aargauer Zeitung» vom gleichen Tag nach («Fall X.: Es wird Jahre dauern, bis der ganze Schaden behoben ist»). Dem Bericht ist zu entnehmen, in der Bilanz der Wohnbaugenossenschaft Lenzburg stünden Forderungen von über 337’000 Franken gegen ihren freigestellten Geschäftsführer.
K. Am 29. Mai 2012 wies der stellvertretende Chefredaktor, Philipp Mäder, die Beschwerde namens der Redaktion «Aargauer Zeitung» als unbegründet zurück.
Thomas Röthlin habe den Beschwerdeführer am 11. Januar 2012 kurz vor dem Mittag kontaktiert und ihm die Vorwürfe per E-Mail unterbreitet. Gegen 13 Uhr habe er mit einer zweiten E-Mail nachgehakt. X. habe erst am anderen Morgen früh geantwortet, nachdem der erste Artikel bereits gedruckt war. Eine Mitarbeiterin von X. habe Thomas Röthlin jedoch gesagt, dass X. zwar im Ausland sei, aber via E-Mail erreichbar. Röthlin habe auch ausführlich beschrieben, wie er X. vergeblich zu erreichen versucht habe. Die Rüge des Beschwerdeführers sei zudem unglaubwürdig, da er am Folgetag geantwortet habe, er wolle grundsätzlich keine Stellung nehmen. Auch bei den übrigen beanstandeten Berichten habe die «Aargauer Zeitung» X. immer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, sofern die Artikel neue Vorwürfe beinhalteten. Und sie habe in den Artikeln vermerkt, wenn der Beschwerdeführer auf eine Stellungnahme verzichtete.
Die Nennung des Namens des Beschwerdeführers sei gerechtfertigt. X. sei allgemein bekannt und nehme eine gesellschaftlich leitende Funktion wahr. Diese stehe im Konnex mit der Berichterstattung. Als Ex-Mann einer Politikerin sei er zudem eine öffentliche Person. Und er sei bereits im Zusammenhang mit dem Prozess um den sogenannten «Buchser Dorfkrieg» öffentlich in Erscheinung getreten.
Die «Aargauer Zeitung» habe immer festgehalten, dass es sich um ein laufendes Verfahren handle. Ebenso wenig wie die Unschuldsvermutung sei das «Recht auf Vergessen» verletzt. Dieses beziehe sich auf frühere Verurteilungen und nicht auf das aktuell gegen den Beschwerdeführer laufende Verfahren.
Schliesslich weist die «Aargauer Zeitung» auch den Vorwurf zurück, die Wahrheitspflicht verletzt zu haben. Sie zitiere lediglich aus einem Bericht der «Berner Zeitung» und deklariere dies entsprechend. Falls X. mit dem Bericht nicht einverstanden sei, solle er gegen die «Berner Zeitung» Beschwerde erheben.
L. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu, der Francesca Snyder (Kammerpräsidentin), Michael Herzka, Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören.
M. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 13. September 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerde von X. wirft aus Sicht des Presserats zwei Kernfragen auf: Wurde X. zu den gegen ihn erhobenen schweren Vorwürfen genügend angehört? (Erwägung 2). Und ist es gerechtfertigt, im Zusammenhang mit dem gegen ihn laufenden Strafverfahren seinen Namen zu nennen und ein Bild von ihm zu veröffentlichen (Erwägung 3).
2. a) Gemäss der Richtlinie 3.8 sind Betroffene vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe anzuhören und ihre Stellungnahme ist im Medienbericht fair wiederzugeben. Ist der Betroffene nicht erreichbar, ist dies im Bericht zu vermerken. Wenn ein Vorwurf nicht neu ist, können Medienschaffende auf die (erneute) Anhörung verzichten. Zusammen mit dem Vorwurf sollte die Redaktion auch ein früheres Dementi wiedergeben. Selbst wenn ein Medium schon länger über ein Thema berichtet hat, ist eine Anhörung jedoch zwingend, wenn ein Artikel einen neuen schweren Vorwurf enthält (Stellungnahme 10/2008).
b) Gemäss übereinstimmender Darstellung der Parteien hat der Journalist Thomas Röthlin am 11. Januar 2012 mehrfach versucht, den Beschwerdeführer zu erreichen. Am Morgen zunächst telefonisch via Kanzlei und später auf Anweisung der Mitarbeiterin von X. via E-Mail. Bestritten ist allerdings, was die Mitarbeiterin dem Journalisten genau gesagt hat. Hat sie bloss gesagt, X. sei im Ausland, er sei aber via E-Mail erreichbar? Oder hat sie – worauf die von ihr verfasste Telefonnotiz hindeutet – auch gesagt, der Beschwerdeführer sei «wahrscheinlich aber erst ab morgen» wieder erreichbar? Der Presserat kann gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht entscheiden, welche Version zutrifft.
Grundsätzlich erscheint eine Antwortfrist von etwas mehr als einem halben Tag zwar knapp, im Lichte der bisherigen Praxis des Presserats (Stellungnahme 51/2012) aber gerade noch genügend. Da die Strafuntersuchung allerdings bereits seit Ende 2010 läuft, wäre es zumutbar gewesen, die Publikation um einen Tag aufzuschieben und allenfalls nochmals per E-Mail nachzuhaken, wenn der Beschwerdeführer am 11. Januar vorübergehend nicht erreichbar war. Da aber nicht erstellt ist, dass Thomas Röthlin dies überhaupt wusste und da er im Hauptbericht den Ablauf des Kontaktversuchs detailliert darstellt, ist für den Presserat die Anhörungspflicht nicht verletzt.
c) Bei den weiteren beanstandeten Berichten macht die «Aargauer Zeitung» geltend, sie habe X. immer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, sofern die Artikel neue Vorwürfe beinhalteten und sie habe jeweils vermerkt, wenn der Beschwerdeführer auf eine Stellungnahme verzichtete. Diese Behauptung hält einer näheren Betrachtung nicht stand und insoweit ist die Beschwerde deshalb wegen Verletzung der Anhörungspflicht in Bezug auf folgende Berichte teilweise gutzuheissen:
– Der Artikel vom 14. Januar 2012 («X. schuldet Handwerkern viel Geld») erhebt den neuen schweren Vorwurf, X. habe eine Villa aufwändig renovieren lassen, bisher aber Rechnungen von mehreren hunderttausend Franken nicht bezahlt. Die «Aargauer Zeitung» erwähnt zwar im Zusammenhang mit dem Hinweis auf einen Artikel der «Berner Zeitung» vom Vortag, dass diese «auch … vergeblich» mit X. habe reden wollen. Daraus wird für die Leserschaft aber nicht klar, dass die «Aargauer Zeitung» den neuen Vorwurf dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme unterbreitet hätte.
– Auch der Artikel vom 20. Januar 2012 («Villa-Käufer stand nicht unter Verdacht») enthält einen neuen Vorwurf gegen X. Die Leserschaft erfährt darin neu, der Beschwerdeführer schulde einer Firma für Satellitenkommunikation auf Schiffen – einer ehemaligen Geschäftspartnerin – den Betrag von 315’000 Franken. Auch diesem Bericht ist nicht zu entnehmen, ob die «Aargauer Zeitung» den Vorwurf dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme unterbreitet hat.
– Und schliesslich wirft die «Aargauer Zeitung» X. im Artikel vom 3. Februar 2012 («Staatsanwalt hätte ihn laufen lassen») neu vor, einen Strafprozess und damit eine mögliche Verurteilung wegen der Plünderung der Konten seiner minderjährigen Tochter dadurch abgewendet zu haben, dass er sich mit der inzwischen volljährigen Tochter aussergerichtlich geeinigt, und ihr das «entwendete Kindesvermögen» zurückgezahlt habe. Auch hier fehlt im Text ein Hinweis auf eine (versuchte) Anhörung des Beschwerdeführers zum Vorwurf, er habe seinerzeit seiner minderjährigen Tochter ein Konto «geplündert».
3. a) Laut der Ziffer 7 der «Erklärung» ist die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die zugehörige Richtlinie 7.2 (Identifizierung) nennt Fälle, in denen eine Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist:
«– Sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt;
– sofern eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht;
– sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht;
– sofern die Namensnennung notwendig ist, um eine für Dritte nachteilige Verwechslung zu vermeiden;
– sofern die Namensnennung oder identifizierende Berichterstattung anderweitig durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist.»
b) Dem Beschwerdeführer ist zu folgen, soweit er geltend macht, dass er in der Öffentlichkeit nicht allgemein bekannt ist. Ebenso wenig lässt sich die Namensnennung dadurch rechtfertigen, dass seine ehemalige Ehefrau eine Politikerin war oder weil er vor mehreren Jahren bei einem Strafverfahren, das mit einem Freispruch endete, zusammen mit seiner damaligen Ehefrau schon einmal die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen hat. Näher zu prüfen ist hingegen, ob die Namensnennung nicht aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt zulässig ist.
c) Der Presserat hat in der Stellungnahme 7/2005 festgehalten, die Namensnennung eines Apothekers sei gerechtfertigt, auch wenn dieser keine amtliche Funktion wahrnehme. Immerhin handle es sich um einen zulassungspflichtigen Beruf in einem staatlichen Monopolbereich und die selbstständige Ausübung eines Berufs bedürfe einer staatlichen Bewilligung. Ähnlich hat sich der Presserat bereits früher zur Namensnennung eines Arztes geäussert (Stellungnahme 9/2003). Und schliesslich hält die Stellungnahme 16/2006 explizit fest, die Stellung eines Anwalts sei mit derjenigen eines Apothekers vergleichbar und die Namensnennung sei deshalb auch bei einem selbstständigen Anwalt zulässig, sofern ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Gegenstand des Medienberichts und der beruflichen Tätigkeit besteht. Ein solcher Zusammenhang ist vorliegend offensichtlich gegeben. Und die Namensnennung erscheint auch deshalb verhältnismässig, weil der Beschwerdeführer ungeachtet der Streichung aus dem Anwaltsregister weiterhin als Berater und Liegenschaftsverwalter tätig sein darf.
d) Auch wenn die Namensnennung als solche zulässig ist, war aber die «Aargauer Zeitung» verpflichtet, bei den einzelnen Elementen ihrer Berichterstattung sorgfältig zwischen dem Interesse des Beschwerdeführers am Schutz seiner Privatsphäre und dem öffentlichen Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung abzuwägen. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit erscheint es deshalb fraglich, ob es gerechtfertigt war, den Namen des Beschwerdeführers in einer penetrant anmutenden Art und Weise immer wieder prominent zu nennen. Zu weit ist die «Aargauer Zeitung Online» nach Auffassung des Presserates aber jedenfalls mit der wiederholten Veröffentlichung des Bildes von X. gegangen. Denn er ist dadurch ungeachtet davon, ob die entsprechenden Personen mit ihm im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun haben, für jedermann erkennbar, der das Bild in der Zeitung gesehen hat und ihm irgendwo (auf der Strasse, beim Einkaufen oder beim Coiffeur) begegnet. Da er so in unverhältnismässiger Weise an den Pranger gestellt wird, ist die Beschwerde unter diesem Aspekt gutzuheissen.
4. Unbegründet sind nach Auffassung des Presserats hingegen die weiteren Rügen des Beschwerdeführers:
a) Gemäss der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» haben Verurteilte ein «Recht auf Vergessen». «Dies gilt erst recht bei Einstellung eines Verfahrens und bei Freispruch.» Die Frage des «Rechts auf Vergessen» würde sich allenfalls im Zusammenhang mit der Erwähnung des früheren Buchser Strafverfahrens stellen, nicht aber, wie dies der Beschwerdeführer fordert, bei den Berichten über das aktuelle Strafverfahren.
b) Die Richtlinie 7.4 zur «Erklärung» statuiert die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, die Unschuldsvermutung bei Berichten über strafrechtliche Verfahren stets zu berücksichtigen. Gemäss der Praxis des Presserats hindert die Unschuldsvermutung Medienschaffende aber nicht, bei hängigen Verfahren pointiert zu kommentieren und Partei zu ergreifen. Sie sollten aber zumindest darauf hinweisen, ob das Verfahren noch hängig oder abgeschlossen ist und ob eine eventuelle Verurteilung rechtskräftig ist, also nicht mehr an eine höhere Instanz weitergezogen werden kann (Stellungnahme 26/2010).
Aus den Berichten der «Aargauer Zeitung geht klar hervor, dass das aktuelle Strafverfahren noch hängig ist und bisher kein Urteil ergangen ist.
c) Unbegründet ist schliesslich auch die Rüge, die «Aargauer Zeitung» habe die wahrheitswidrige Berichterstattung der «Berner Zeitung» übernommen, ohne die Fakten zu überprüfen.
Der Presserat kann gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht beurteilen, ob die vom Beschwerdeführer beanstandete Passage des Artikels der «Berner Zeitung» der Wahrheit entspricht. Die «Aargauer Zeitung» gibt in ihrem Bericht jedoch die «Berner Zeitung» ausdrücklich als Quelle ihrer Information an. Unter diesen Umständen war sie lediglich dann verpflichtet, die übernommenen Informationen selber zu verifizieren, wenn sich ihr offensichtliche Zweifel am Wahrheitsgehalt aufdrängten (Stellungnahme 50/2011).
III. Feststellungen
1.Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
2. Die «Aargauer Zeitung» und die «Aargauer Zeitung Online» haben mit der Publikation der Artikel vom 14. Januar 2012 («X. schuldet Handwerkern viel Geld»), 20. Januar 2012 («Villa-Käufer stand nicht unter Verdacht») und 3. Februar 2012 («Staatsanwalt hätte ihn laufen lassen») die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen) verletzt.
3. Die «Aargauer Zeitung Online» hat mit der wiederholten Veröffentlichung eines Porträt-Bildes von X. die Ziffer 7 der «Erklärung» (unter dem Aspekt der Identifizierung) verletzt.
4. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.
5. Die «Aargauer Zeitung» und die «Aargauer Zeitung Online» haben die Ziffern 1 (Wahrheit) und 7 (unter den Aspekten Namensnennung, Unschuldsvermutung und «Recht auf Vergessen») nicht verletzt.