Nr. 6/2008
Veröffentlichung einer E-Mail

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Presserates vom 1. Februar 2008

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I. Sachverhalt

A. Am 26. April 2007 berichtete der «Tages-Anzeiger» unter dem Titel «Eine kindersichere Welt gibts nicht» über zwei Unfälle von Kindern, die sich einige Tage zuvor in Zürich ereignet hatten. Die beiden Unfälle – eine tödliche Kollision mit einem Tram und ein glimpflich abgelaufener Sturz in einen Unterflurcontainer – hätten die Diskussion um die Sicherheit von Kindern neu entfacht. In einem dazugehörigen Kommentar («Erziehen statt fordern») beklagte Liliane Minor, immer mehr Eltern würden die Verantwortung für die Sicherheit ihrer Kinder an die Behörden abschieben, anstatt sie selber entsprechend zu erziehen. Auch würden sich viele Eltern kaum mehr trauen, ihren Kleinen auch nur das geringste Risiko zuzumuten. Damit bringe man sie um die Möglichkeit, in mässig gefährlichen Situationen zu lernen. Das heisse nicht, dass die Behörden untätig bleiben dürften. Erziehung und gesunder Menschenverstand sei aber vorauszusetzen. Sonst bestehe die Gefahr, dass Kinder bis zur Lebensuntauglichkeit beschützt würden.

B. Gleichentags drückte X. seinen Ärger über den Kommentar von Liliane Minor mit einer E-Mail an die Online-Redaktion des «Tages-Anzeigers» aus. Er finde es immer empörender, wie der «Tages-Anzeiger» berichte. Der Kommentar von Frau Minor zeige auf peinliche Weise auf, «wie weit die Nasenspitze der Autorin reicht». Es gebe viele Eltern, die ihre Kinder sehr wohl erziehen würden. Doch Kinder – ob erzogen oder nicht – handelten nicht immer rational und seien sich nicht jederzeit jeder Gefahr bewusst. Der Kommentar ziele unter die Gürtellinie, wenn er impliziere, der verunfallte Knabe sei von den Eltern nicht «erzogen» worden, diese würden also die Schuld an seinem Tod tragen. Selbstverständlich sei es normal, dass Kinder Gefahren auszusetzen seien. Trotzdem wäre der Tramunfall bereits mit geringfügigen baulichen Massnahmen zu vermeiden gewesen. Er hoffe, der Tagi werde sein «Konzept des Billigjournalismus» bald ändern, ansonsten er keine andere Möglichkeit sehe, als das Abonnement zu kündigen.

C. Am 30. April 2007 druckte der «Tages-Anzeiger» eine gekürzte Fassung der E-Mail von X. auf der «Forum-Seite» als Leserbrief ab.

D. Am 2. Mai 2007 protestierte X. beim «Tages-Anzeiger» gegen den Abdruck seiner Zuschrift vom 26. April 2007. Diese habe er bewusst nicht als Leserbrief verfasst. Er sei auch nicht angefragt worden, ob seine Zeilen veröffentlicht werden dürften. Zudem sei der Text gekürzt und so der Zusammenhang seiner Kritik verändert worden.

E. Gleichentags antwortete der Chefredaktor des «Tages-Anzeiger», Peter Hartmeier, ihm sei der Grund der Empörung von X. nicht ganz klar. Seine Zuschrift sei als konträre Meinung zu einem vieldiskutierten Kommentar abgedruckt worden. Wenn er wünsche, dass Briefe oder E-Mails künftig nicht mehr veröffentlicht werden, solle er doch bitte jeweils ausdrücklich darauf hinweisen.

F. Am 14. Mai 2007 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den «Tages-Anzeiger» an den Presserat. Bei seiner E-Mail vom 26. April 2007 habe er sich bewusst entschieden, diese als generelle Reaktion an die Online-Redaktion und nicht etwa als Leserbrief einzureichen. Er fühle sich durch die Veröffentlichung des Textes ohne seine Einwilligung in seiner Privatsphäre verletzt (Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»). Zudem sei es irreführend, wenn der «Tages-Anzeiger» auf seiner Website mehrere Möglichkeiten anbiete, Leser zu Wort kommen zu lassen, diese Meinungen aber dann so oder so in Leserbriefe verarbeite.

G. In ihrer Stellungnahme vom 4. Juni 2007 räumte die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeiger» ein, die Publikation des Textes von X. sei die Folge eines Versehens. An die Online-Redaktion gerichtete Lesermails würden eigentlich nicht publiziert, auch nicht auf Tagi-Online. Eine Verletzung der Privatsphäre des Beschwerdeführers sei jedoch zu verneinen. Sein Text habe keinerlei Aussagen zu seinem Privatbereich enthalten und auch keinen Einblick in seine Privatsphäre erteilt.

H. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

I. Am 9. Juni 2007 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever sowie Esther Diener-Morscher behandelt.

J. Am 15. Januar 2008 orientierte der Presserat die Parteien, infolge des Rücktritts von Presseratspräsident Peter Studer und Vizepräsidentin Sylvie Arsever werde die Beschwerde durch den neuen Präsidenten Dominique von Burg, die Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und den neuen Vizepräsidenten Edy Salmina behandelt.

K. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 1. Februar 2008 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer beanstandet vorab, mit der ohne seine Einwilligung erfolgten Veröffentlichung seiner Zuschrift habe der «Tages-Anzeiger» seine Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») verletzt. Auch wenn X. von vornherein bewusst nicht wollte, dass sein Text vom «Tages-Anzeiger» veröffentlicht wurde, ist sein Handeln damit nicht automatisch der Privatsphäre zuzuordnen. Im Gegenteil bezog sich seine E-Mail nicht auf Privates, sondern auf die vom «Tages-Anzeiger» veröffentlichte Meinung: auf den von ihm kritisierten Kommentar und noch genereller auf ein «Konzept des Billigjournalismus». Entsprechend ist eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» aus Sicht des Presserates zu verneinen. Was aber nicht heissen soll, dass die Veröffentlichung einer Leserzuschrift gegen den Willen des Autors berufsethisch unbedenklich wäre.

2. a) Immerhin dürfte es aber in der Alltagspraxis der Redaktionen doch der Regel entsprechen, dass Leserinnen und Leser, die auf publizierte Inhalte mit einer Zuschrift reagieren, sich möglichst deren ungekürzte Publikation wünschen. Dabei ist den meisten Beteiligten von vornherein klar, dass die meisten Medien – damit möglichst viele zu Wort kommen – schon rein aus Platzgründen gezwungen sind, eine Auswahl zu treffen und die Texte zudem zu kürzen. Zur Vermeidung von Missverständnissen empfiehlt der Presserat den Redaktionen zudem, die Regeln für die Publikation von Leserbriefen in regelmässigen Abständen zu veröffentlichen (vgl. z.B. die Stellungnahme 43/2003).

b) In diesem Kontext mag es eine Redaktion überraschen, wenn ein Leser die Publikation einer Zuschrift von vornherein ablehnt. Und insofern erscheint auch die Empfehlung des Chefredaktors bedenkenswert – auch hier wiederum zur Vermeidung von Missverständnissen – künftig von Anfang an ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ein Text nicht zur Publikation bestimmt ist. Wenn allerdings ein Medium – wie dies beim «Tages-Anzeiger» zutrifft – die elektronischen Zuschriften von Anfang an in zwei Kanäle – einem Kanal für Leserbriefe und einem solchen für blosse Rückmeldungen und Hinweise an die Online- und/oder die Printredaktion – trennt, darf nach Treu und Glauben erwartet werden, dass diese Trennung verbindlich so gehandhabt wird. Entsprechend räumt der «Tages-Anzeiger» denn im Falle des Beschwerdeführers auch ausdrücklich ein Versehen ein.

c) Ist dieser Fehler, der in der Hektik des Redaktionsalltags passiert ist, jedoch als Verletzung einer berufsethischen Norm zu beanstanden? Beispielsweise als Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung», der die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe) systematisch zugeordnet ist? In seinem Schreiben vom 14. Mai 2007 führt der Beschwerdeführer selber aus, er wisse, «dass es sich insgesamt um
eine Lappalie handelt». Der Presserat schliesst sich der Einschätzung an, dass es sich um ein kleines Versehen handelt. Er hat in seiner jüngeren Praxis wiederholt (vgl. z.B. die Stellungnahmen 10 und 26/2005, 5/2006) darauf hingewiesen, dass nicht jede formale oder inhaltliche Ungenauigkeit bereits eine Verletzung einer berufsethischen Norm begründet. Vielmehr verlangt das Prinzip der Verhältnismässigkeit, dass eine Unkorrektheit eine gewisse Relevanz aufweist.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat die Ziffern 5 (Leserbriefe), und 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.