Nr. 44/2005
Veröffentlichung des Texts eines Redaktors als Leserbrief

(X. c. «Bote der Urschweiz») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 8. Dezember 2005

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I. Sachverhalt

A. Am 18. April 2005 publizierte der «Bote der Urschweiz» unter dem Titel «Den Bock zum Gärtner gemacht» einen Leserbrief. Der Untertitel lautete: «Einige Gedanken zur ‹neuen› Sparkasse». Gezeichnet war der Leserbrief mit «Franz Steinegger, Schwyz». Der Leserbrief kritisierte die im Frühjahr 2004 von den Stimmberechtigten der Gemeinde Schwyz gutgeheissene Umwandlung der lokalen Sparkasse in eine Aktiengesellschaft. Von der versprochenen regionalen Verankerung und der Identifikation als «üsi Bank», die vor der Abstimmung versprochen worden war, sei nicht mehr viel geblieben. Bei der ersten Generalversammlung der neuen AG vom April 2005 sei ein erlauchter Kreis unter sich geblieben. Öffentlichkeit und Zeitung seien unerwünscht gewesen. Dabei gebe es viel zu kritisieren. Bei der Zusammensetzung des Verwaltungsrats falle auf, dass neben dem «Drahtzieher X.» drei weitere ehemalige Gemeinderäte dem Gremium angehörten. Sie alle hätten der Gemeinde neben der Fehlinvestition in das Begegnungszentrum «Mythenforum» und in die bereits nach zwei Jahren konkursite Parkhaus AG auch ein «kräftiges Loch in der Gemeindekasse hinterlassen». Beim «Mythen-Forum» zerbreche man sich in der Gemeinde seit Jahren den Kopf, wie ein in diesem Zusammenhang gewährtes Darlehen von 10 Mio. Franken wegzuzaubern sei. Bei der Parkhaus AG habe man das Aktienkapital auf 5% abgeschrieben und so die Gläubiger (insbesondere die Gemeinde) faktisch enteignet. «Die Sparkasse musste herhalten, um das Unternehmen vor der sicheren Zahlungsunfähigkeit zu retten (…) Die Sparkasse wird auch bei der Sanierung des ‹Mythen-Forum›-Lochs beigezogen.» Abschliessend äusserte der Leserbriefschreiber den Verdacht, das Bankinstitut werde auf Kosten der Allgemeinheit «von einem erlauchten Kreis von Residenzlern» in undurchsichtiger Weise zur Sanierung der angesprochenen Probleme missbraucht.

B. Am 13. Juni 2005 gelangte X. mit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat. Er beantragte, es sei festzustellen, dass der «Bote der Urschweiz» mit der Publikation des Leserbriefes «Den Bock zum Gärtner gemacht» gegen die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» in Verbindung mit den Ziffern 3 (Unterschlagung wesentlicher Informationselemente) und 7 (Persönlichkeitssschutz) der «Erklärung» sowie gegen die Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verstossen habe.

Zur Begründung wies der Beschwerdeführer darauf hin, der Leserbriefschreiber Franz Steinegger sei als Redaktor beim «Boten der Urschweiz» angestellt und habe mit der Publikation seines eigenen Leserbriefs die in der Richtlinie 5.2 vorgesehene Kontrolle offensichtlicher Verstösse gegen berufsethische Normen umgangen. Der Leserbrief habe die Persönlichkeit und Ehre des Beschwerdeführers verletzt, Tatsachen entstellt und sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen erhoben. Zudem sei ihm keine Gelegenheit geboten worden, zu den im Leserbrief enthaltenen schweren Vorwürfen Stellung zu nehmen. Bedenklich sei das Verhalten vom Franz Steinegger auch deshalb, weil er mit der Publikation eines Leserbriefs in der eigenen Zeitung die berufsethischen Regeln umgehe.

C. Am 4. August 2005 beantragte der Chefredaktor des «Boten der Urschweiz», Josias Clavadetscher, die Beschwerde von X. sei abzuweisen. Der Vorwurf, die Kontrolle der Leserbriefe sei umgangen worden, sei unbegründet. Beim «Boten der Urschweiz» würden sämtliche Leserbriefe durch ihn als Chefredaktor oder bei seiner Abwesenheit durch die Dienstchefin kontrolliert. Im Leserbrief von Franz Steinegger werde weder die Persönlichkeit noch die Ehre des Beschwerdeführers verletzt. Zur Diskussion stehe dessen Tätigkeit in öffentlichen Mandaten, weshalb an der entsprechenden Berichterstattung ein öffentliches Interesse zu bejahen sei. Jeder Bürger, mithin auch Franz Steinegger als stimmberechtigter Einwohner der Gemeinde Schwyz, habe das Recht, sich zu politischen Fragen zu äussern. Auch ein Journalist dürfe seine politischen Bürgerrechte ausüben, soweit dies nicht mit seiner journalistischen Tätigkeit kollidier. Aus diesem Grund sei Franz Steinegger beim «Boten der Urschweiz» von der Berichterstattung über die Bereiche dispensiert, in denen er politisch aktiv sei. Eine Pflicht zur Anhörung des Betroffenen bei schweren Vorwürfen bestehe bei Leserbriefen nicht.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Judith Fasel, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann.

E. Auf Einladung der 3. Kammer hin äusserte sich der «Bote der Urschweiz» in einer ergänzenden Stellungnahme vom 25. November 2005 zur vom Presserat aufgeworfenen Frage einer allfälligen Verletzung der Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen) zur «Erklärung». Chefredaktor Josias Clavadetscher machte dazu geltend, wenn man Journalisten generell verbieten würde, Leserbriefe zu veröffentlichen, wäre die Freiheit von Kommentar und Kritik eingeschränkt. Aus dem Wortlaut der Richtlinie 2.4 sei nicht abzuleiten, dass mit «öffentlicher» oder «privater Tätigkeit» auch das Verfassen von Leserbriefen mitgemeint sei.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihren Sitzungen vom 22. September 2005 und 8. Dezember 2005.

II. Erwägungen

1. Die berufsethischen Regeln gelten für sämtliche Texte, für die die Redaktion verantwortlich zeichnet. Die Richtlinie 5.2 zur «Erklärung» statuiert denn auch ausdrücklich, dass die berufsethischen Normen auch für die Leserinnen- und Leserbriefe gelten. Allerdings ist der Prüfungsmassstab hier insofern gelockert, als die «Leserbriefredaktion nur bei offensichtlichen Verletzungen der ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› einzugreifen hat».

2. Handelte es sich beim Text von Franz Steinegger um die Zuschrift eines Lesers, wäre entsprechend zu prüfen, ob die Redaktion des «Boten der Urschweiz» mit dem Abdruck des beanstandeten Leserbriefs wie vom Beschwerdeführer gerügt, offensichtliche Verletzungen der Ziffern 3 (Unterschlagung wesentlicher Informationselemente), 7 (Respektierung der Privat-sphäre, sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen) sowie der Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) übersehen hat. Diese Prüfung kann jedoch unterbleiben, weil sich nach Auffassung des Presserates beim Abdruck des Texts von Franz Steinegger berufsethisch nicht bloss die Frage stellt, ob die Redaktion des «Boten» den zur Diskussion stehenden Text ihres Redaktor auf offensichtliche Verletzung berufsethischer Pflichten hätten prüfen und gegebenenfalls redigierend hätte eingreifen müssen. Vielmehr ist berufsethisch zu fragen, ob es überhaupt zulässig ist, den Text eines Redaktionsmitglieds oder eines engen redaktionellen Mitarbeiters einer Zeitung in den eigenen Spalten als Leserbrief zu veröffentlichen.

3. a) Gemäss Ziffer 2 der «Erklärung» sind Medienschaffende verpflichtet, die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufs zu wahren. Die Richtlinie 2.4 zur «Erklärung» lautet: «Die Ausübung des Berufs der Journalistin, des Journalisten ist grundsätzlich nicht mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion vereinbar. Wird eine politische Tätigkeit aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise wahrgenommen, ist auf eine strikte Trennung der Funktionen zu achten. Zudem muss die politische Funktion dem Publikum zur Kenntnis gebracht werden. Interessenkonflikte schaden dem Ansehen der Medien und der Würde des Berufs. Dieselben Regeln gelten auch für private Tätigkeiten, die sich mit der Informationstätigkeit überschneiden könnten.»

b) Der Presserat hat sich in verschiedenen Stellungnahmen zur politischen Tä
tigkeit und zum politischen Engagement von Journalistinnen und Journalisten geäussert. In der Stellungnahme 13/1998 kam er zu folgendem Schluss: «Unabhängiger Journalismus ist grundsätzlich nicht mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion oder privaten Tätigkeiten vereinbar, die sich mit der beruflichen Tätigkeit überschneiden. Wenn Medienschaffende ausnahmsweise trotzdem solche Funktionen wahrnehmen, sind berufliche und politische Funktionen zu trennen, und zudem gegenüber dem Publikum transparent zu machen.» In der Stellungnahme 31/2001 erachtete der Presserat die öffentliche Bekanntmachung der Zugehörigkeit eines Redaktors zum Vorstand einer politisch aktiven Organisation dann als zwingend, wenn sie im direkten Zusammenhang zum Gegenstand einer Berichterstattung steht. Schliesslich hielt die Stellungnahme 51/2001 fest, Journalistinnen und Journalisten sollten privates gesellschaftliches Engagement und berufliche Funktion trennen und jedenfalls dann in Ausstand treten, wenn sie bei einem Thema wegen zu grosser Nähe persönlich befangen sind.

c) Der Leserbrief des Journalisten Franz Steinegger zum Thema Sparkasse Schwyz steht – zumindest soweit dies für den Presserat aus den Ausführungen der Parteien ersichtlich ist – in keinem Zusammenhang mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes, der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder einer anderen Interessenorganisation. Die Beschwerdegegnerin macht vielmehr geltend, der Brief Steineggers, der sich sonst eher in anderweitigen gesellschaftlichen Bereichen (kirchliche Gremien, OK Gemeindefäscht Schwyz) öffentlich engagiert, habe den Brief als einfacher Bürger verfasst, der ein ihm zustehendes demokratisches Recht wahrnehme.

d) Der zu beurteilende Sachverhalt liegt damit anders als in den bisherigen Stellungnahmen des Presserates zur politischen Tätigkeit von Medienschaffenden. Dementsprechend ist der Beschwerdegegnerin zuzugestehen, dass der Presserat bei der Verabschiedung der Richtlinie 2.4 zur «Erklärung» nicht an diesen Sachverhalt gedacht hat. Dies aber vor allem auch deshalb, weil bei der Redaktion der Richtlinien niemand auf die Idee gekommen ist, dass eine Zeitung auf die Idee verfalle, den Text eines Redaktionsmitglieds als Leserbrief zu veröffentlichen. Wenn schon, wäre es doch naheliegend gewesen, den Text von Franz Steinegger als redaktionellen Beitrag zu publizieren. Dies wäre berufsethisch ohne weiteres möglich gewesen, sofern die weiteren vom Beschwerdeführer als verletzt geltend gemachten berufsethischen Bestimmungen (insbesondere der Anhörung bei schweren Vorwürfen) eingehalten worden wären. Jedenfalls sind für den Presserat keine Gründe ersichtlich, welche einen Ausstand Steineggers zu diesem Thema hätten notwendig erscheinen lassen.

e) Wird der Text eines Redaktionsmitglieds hingegen wie hier als Leserbrief abgedruckt, erscheint dies unter dem Gesichtspunkt der Trennung der Funktionen (Journalist und engagierter Bürger) höchst problematisch. Denn selbst wenn dies nicht der Absicht des Autors entsprochen haben mag, konnte beim davon direkt betroffenen Beschwerdeführer ebenso wie bei allfälligen weiteren Teilen der Leserschaft, die den Urheber trotz fehlender Kennzeichnung als Journalist und Redaktionsmitglied des «Boten» erkannten, zu Recht der Eindruck entstehen, Steinegger bzw. die Redaktion des «Boten» wolle mit dem Abdruck des angriffigen Textes als Leserbrief den strengeren berufsethischen Massstab für journalistische Texte umgehen. Dies gilt nicht nur – aber in besonderem Masse – in Bezug auf die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen), die bei der Veröffentlichung bei den gegenüber dem Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfen der Misswirtschaft und des Missbrauchs zwingend gewesen wäre. Zudem erscheint es widersprüchlich, wenn Franz Steinegger einen Leserbrief in der eigenen Zeitung ausgerechnet zu einem Thema veröffentlicht, bei dem er als Journalist künftig in den Ausstand treten will. Denn im Ergebnis werden so sowohl der Aus-stand als auch die für redaktionelle Texte geltende strengere Anwendung der berufsethischen Regeln umgangen.

f) Im Ergebnis kommt der Presserat deshalb zum Schluss, dass der «Bote der Urschweiz» mit dem Abdruck des Textes eines eigenen Redaktors als Leserbrief die berufsethischen Gebote der Wahrung der Unabhängigkeit und des Ansehens des Berufs (Ziffer 2 der «Erklärung») verletzt hat. Wenn ein Journalist Beiträge im selben Medium einmal beruflich als Journalist und ein anderes Mal – wenn auch in der Leserbriefspalte – als Bürger und Privatperson veröffentlicht – ist das aus einer analogen Anwendung der Richtlinie 2.4 abzuleitende Gebot der Trennung der Funktionen nicht mehr gewährleistet. Denn für die Leserschaft ist so kaum nachvollziehbar, was «privates Engagement» und was «journalistische Berichterstattung» ist und warum ein bestimmter Text eines Redaktors, der ebenso als journalistischer Beitrag veröffentlicht werden könnte, nun plötzlich als privater Leserbrief daherkommt. Diese Einschränkung des privaten politischen Engagements ist für Journalistinnen und Journalisten auch deshalb zumutbar, weil ihnen die «Erklärung» nicht grundsätzlich verwehrt, sich im Rahmen eines anwaltschaftlichen Journalismus – allerdings unter Einhaltung der berufsethischen Regeln (inkl. Ausstand bei persönlicher Befangenheit) – sich auch einseitig für eine Partei oder Sache zu engagieren. Ebenso wenig schliesst die «Erklärung» a priori aus, dass Medienschaffende sich in anderen Medien, für die sie journalistisch nicht tätig sind, als Bürger mit Leserbriefen zu Wort zu melden.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird im Grundsatz gutgeheissen.

2. Der «Bote der Urschweiz» hat mit dem Abdruck des Textes eines Redaktionsmitglieds als Leserbrief die Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten und das Ansehen ihres Berufs beeinträchtigt (Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen) sowie das Gebot der Trennung von beruflichen und privaten Funktionen (Richtlinie 2.4) verletzt.