I. Sachverhalt
A. Am 12. Mai 2011 veröffentlichten die «Gossauer Nachrichten» auf der Leserseite einen Leserbrief von Ruedi Blumer, Präsident der SP Gossau-Arnegg, zu der zu diesem Zeitpunkt in Gossau anstehenden Stadtratsersatzwahl. Die SP habe die beiden Kandidaten Stefan Lenherr (CVP) und Alex Harder (SVP) zu einem Hearing eingeladen. Fachlich seien beide geeignet. Trotzdem unterstütze die SP einstimmig Lenherr, der sich als ausgewiesener Baufachmann bei mehreren Projekten bewiesen habe. Harder habe sich zwar als engagierter Schulrat Sympathien geholt. Bei der Umsetzung von konkreten Massnahmen mache sich dann aber doch «der Hang zum Sparen» bemerkbar. Zudem stehe er im Gegensatz zu Lenherr nicht hinter dem zukunftsweisenden Projekt Bibliothek/Ludothek. «Lenherr hat unsere Fragen klar beantwortet. Harder ist ihnen eher ausgewichen.»
B. Der obige Leserbrief veranlasste X. zu einer langen Entgegnung an Ruedi Blumer, die sie den «Gossauer Nachrichten» in zwei Varianten als Leserbrief zustellte. Darin zeigt sie sich über die «wiederholten und haltlosen SP-Schmutzkampagnen» gegen Alex Harder entsetzt. Auch wenn die SP offenbar neuerdings das Heu auf der gleichen Bühne wie die «skandalträchtige CVP» habe, brauche Blumer noch lange nicht derart gegen Alex Harder «zu lügen, zu intrigieren und ihn persönlich zu verleumden» Den «extrem populistischen SP-CVP-Mauschlereien» stellt sie in einer langen Aufzählung eine Reihe von «Facts» entgegen.
C. Die «Gossauer Nachrichten» druckten keinen der beiden Leserbriefvarianten ab. Stattdessen veröffentlichten sie am 19. Mai 2011 einen redaktionellen Beitrag mit dem Titel «Heftige Anschuldigungen« und dem Untertitel «X. schiesst gegen R. Blumer». Der mit «red» gekennzeichnete Text fasst zusammen, X. «schiesse» in einem Leserbrief «scharf» gegen Blumer. Der Leserbrief «konnte in diesem Stil nicht abgedruckt werden». X. beziehe sich vor allem auf den in der Vorwoche publizierten Leserbrief von Ruedi Blumer. «Dort sprach er sich – zusammen mit der SP-Partei» für den Kandidaten Stefan Lenherr aus. ‹Bei dem FDP-Hearing legte Blumer’s Favorit, Stefan Lenherr, sich selbst ein Riesen-Kuckucks-Ei mit ausgewiesener Arroganz›, schreibt X. Weiter heisst es ‹Zitat: Ich habe mich nicht vorbereitet.› Blumer missbraucht diesen Flop Lenherrs, indem er nun Harder damit verleumdet: ,Harder ist eher ausgewichen und unverbindlich geblieben. Lenherr hat die Fragen klar beantwortet’›.»
D. Gleichentags protestierte X. mit einem weiteren zur Veröffentlichung bestimmten Schreiben an die «Gossauer Nachrichten» («Amateure und professionelle Redakteure und Journalisten») gegen den Abdruck des Berichts «Heftige Anschuldigungen. Die Redaktion habe den Artikel entgegen der getroffenen Abmachung veröffentlicht, wonach ihr Leserbrief abgemildert und ihr vor der Veröffentlichung nochmals zugestellt werde. Die Zitate im Bericht seien entstellt und der «ahnungslosen Leserschaft wird ein Horrorszenarium von mir vorgespielt».
E. Am 20. Mai 2011 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den «einseitigen Verriss meiner Person» und den Bruch einer getroffenen Vereinbarung durch die «Gossauer Nachrichten» an den Presserat. Zudem hält sich die Beschwerdeführerin darüber auf, dass die Ostschweizer Zeitungen im Wahljahr über Monate nur noch die Propaganda von Parteifunktionären abdruckten, während die Meinungsfreiheit von parteilich ungebundenen Leser/innen auf der Strecke bleibe.
E. Am 14. Juni 2011 wies Redaktionsleiter Bernard Marks die Beschwerde namens der Redaktion der «Gossauer Nachrichten» als unbegründet zurück. Aus seiner Sicht beklage sich die Beschwerdeführerin zu Unrecht. Der Leserbrief von X. greife Ruedi Blumer stark an und enthalte ehrverletzende Äusserungen. Er habe deshalb so nicht veröffentlicht werden können. Telefonisch habe er schliesslich mit der Beschwerdeführerin vereinbart, «die Aussagen des Leserbriefes inhaltlich in einen Text umzuformulieren, womit sich X. einverstanden erklärt hat. (…) Wir sehen in diesem Artikel keinen Verriss irgendeiner Person.» Die Massnahme habe vielmehr dem Schutz der Beteiligten gedient. Möglicherweise sei die Formulierung des Textes nicht ganz gelungen, weil das Thema komplex sei.
G. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Jan Grüebler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Markus Locher, Daniel Suter und Max Trossmann.
H. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 24. August 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Gemäss der Richtlinie 5.2 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gelten die berufsethischen Normen «auch für die Veröffentlichung von Leserinnen- und Leserbriefen. Der Meinungsfreiheit ist aber gerade auf der Leserbriefseite ein grösstmöglicher Freiraum zuzugestehen, weshalb die Leserbriefredaktion nur bei offensichtlichen Verletzungen der ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› einzugreifen hat.»
Gemäss ständiger Praxis des Presserats (vgl. beispielsweise die Stellungnahme 40/2004 mit weiteren Hinweisen) liegt es im Ermessen der Redaktion, ob sie einen bestimmten Leserbrief abdruckt oder nicht. Mithin waren die «Gossauer Nachrichten» nicht verpflichtet – dies ist auch der Beschwerdeführerin bewusst – ihre Reaktion auf den Leserbrief von SP-Präsident Blumer zu veröffentlichen.
2. Im Sinne der Förderung des Meinungspluralismus hat der Presserat in anderen Zusammenhang dafür plädiert, dass Redaktionen unkorrekt verfasste Leserbriefe durch Weglassung faktisch klar unrichtiger oder ehrverletzender Passagen in eine korrekte Form bringen, statt deren Abdruck abzulehnen und sie an den Verfasser zurückzuweisen (Stellungnahme 23/1999).
Vorliegend hat die Redaktion «Gossauer Nachrichten» einen anderen Weg gewählt. Anstatt den überlangen Leserbrief von X. massiv zu kürzen und verletzende Formulierungen zu entschärfen – was auch möglich gewesen wäre – hat sie sich dafür entschieden, gestützt auf den Leserbrief einen kurzen redaktionellen Beitrag zu verfassen. Dabei haben sich die «Gossauer Nachrichten» nach Auffassung des Presserates fair verhalten. Der beanstandete Bericht fasst die wichtigsten Vorwürfe der Beschwerdeführerin gegen den von ihr kritisierten SP-Präsidenten korrekt zusammen.
3. Darf eine Redaktion aber einen ihr zur Veröffentlichung zugestellten Leserbrief überhaupt zu einem redaktionellen Bericht verarbeiten, ohne den Leserbrief selber abzudrucken? Der Presserat hat sich bisher noch nie zu dieser Frage geäussert.
Laut der Stellungnahme 15/1998 darf eine Zeitung einen von einer anderen Zeitung publizierten Leserbrief kommentieren, ohne den Leserbrief selber zu veröffentlichen. Dabei sollte sie jedoch zumindest den Inhalt des umstrittenen Briefs in groben Zügen zusammenfassen, damit die Leserschaft begreift, worum es geht. An diese Vorgabe haben sich die «Gossauer Nachrichten» in ihrem Bericht gehalten.
Zudem gilt das damalige Hauptargument des Presserats – Leserbriefe sind für die Öffentlichkeit bestimmt – auch für den aktuell zu entscheidenden Sachverhalt. Leserbriefe sind in dieser Hinsicht ähnlich wie Medienmitteilungen zu behandeln, die eine Redaktion selbstverständlich redaktionell bearbeiten darf. Problematisch wäre es hingegen, den redaktionell bearbeiteten Text als solchen der Beschwerdeführerin zu zeichnen. Mit der Kennzeichnung «red» machen die «Gossauer Nachrichten» jedoch transparent, dass die Redaktion den Leserbrief selber bearbeitet hat und wertend einordnet.
Und soweit die Beschwerdeführerin mit einem polemischen, verletzenden Leserbrief einen anderen Leserbriefschreiber angreift, muss sie sich ihrerseits öffentlich Kritik gefallen lassen. Wenn man
den Artikel der «Gossauer Nachrichten» überhaupt als Kritik an der Beschwerdeführerin sehen will, beschränkt sich die Redaktion jedenfalls auf zurückhaltende, zulässige kommentierende Wertungen. Die «Gossauer Nachrichten» werten den Leserbrief von X. als persönlichen Angriff und die Anschuldigungen gegen den SP-Präsidenten als heftig. Zudem legt die Redaktion dar, weshalb sie den Leserbrief (ausnahmsweise) nicht im Original veröffentlicht: Der Leserbrief «… konnte in diesem Stil nicht abgedruckt werden».
4. Soweit die Beschwerdeführerin schliesslich geltend macht, die «Gossauer Nachrichten» hätten ihr den bearbeiteten Leserbrief entgegen der gemachten Zusicherung vor der Veröffentlichung nicht zur Stellungnahme unterbreitet, steht für den Presserat Aussage gegen Aussage. Unbestritten ist, dass die Redaktion den Originaltext nicht abdrucken wollte und deshalb anbot, ihn zu bearbeiten. Gemäss Darstellung der Beschwerdegegnerin war hingegen nicht davon die Rede, der Beschwerdeführerin den überarbeiteten Text vor der Publikation zur Genehmigung zuzustellen. Mithin ist eine entsprechende Vereinbarung nicht erstellt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «Gossauer Nachrichten» haben mit der Publikation des Artikels «Heftige Anschuldigungen» in der Ausgabe vom 19. Mai 2011 die Ziffer 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Leserbriefe) nicht verletzt.