Nr. 14/2009
Unfallberichterstattung

(X. c. «Wiler Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 20. März 2009

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I. Sachverhalt

A. Am 8. April 2008 veröffentlichte die «Wiler Zeitung» unter dem Titel «Wintereinbruch mit Folgen» folgende Kurzmeldung: «Glück im Unglück hatte am späten Montagvormittag eine Autofahrerin bei einem Selbstunfall im Hohrain. Auf der Fahrt vom Weiler Staubhausen zur Oberstufenschule Sproochbrugg geriet sie auf einer vereisten Schneebrücke ins Schleudern. Als sie einem entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen wollte, gelangte sie über den rechten Fahrbahnrand und über die Böschung in den Wald. Das Auto raste eine Tanne um und kam auf dem Dach liegend zum Stehen. Die Frau konnte praktisch unverletzt aussteigen. Das Auto erlitt Totalschaden.» Illustriert ist die Meldung mit einem Bild von Ernst Inauen, aus dessen Feder auch die Meldung stammt. Das Bild zeigt das auf dem Dach liegende Unfallauto mit der daneben stehenden Fahrerin.

B. Am 14. April 2008 wandte sich X., die am 8. April verunfallte Frau, mit einem Schreiben an den Journalisten Ernst Inauen. Sie führte aus, sie sei enttäuscht über «die Bilder und den nicht der Wahrheit entsprechenden Artikel (…) In der Zeitung sowie im Internet werde ich erkannt. Von mehreren Personen bin ich deswegen auf den Unfall angesprochen worden.» Zur Abgeltung dieser «Persönlichkeitsverletzung» forderte sie eine Wiedergutmachung von 5000 Franken.

C. Am 11. Juli gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den Bericht der «Wiler Zeitung» an den Presserat. Kaum sei sie bei ihrem Unfall von Anfang April aus dem Auto geklettert, «stand ein Journalist mit seiner Fotokamera im Anschlag vor mir und fotografierte drauflos. Zufällig fuhr er hinter mir her. Er kümmerte sich nur darum, möglichst viele einträgliche Bilder machen zu können. Ein anderer Autofahrer kümmerte sich dann um mich. Das Verhalten empfand ich als entwürdigend und frech. Ich wusste selbst noch nicht, was mir genau geschah und hatte wohl einen Schock. Der Journalist nützte meine Situation, in der ich überfordert war, schamlos aus. Er verfolgte mich bis zur Autogarage, wo er noch weitere Fotos machte. Er versprach mir, nur ein Foto von meinem Auto in der Zeitung drucken zu lassen. Stattdessen liess er ein farbiges Foto (etwas grösser als eine Postkarte) vom Auto zusammen mit mir in der Zeitung drucken. Die Leute im Dorf erkannten mich darauf. Nahe Bekannte und Verwandte waren sehr besorgt.» Aus ihrer Sicht habe der Journalist die Ziffern 7 (Privatsphäre; insbesondere Richtlinien 7.1 und 7.2) und 8 (Menschenwürde, Unfallbilder; insbesondere Richtlinien 8.1 und 8.5) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

D. Am 20. August 2008 beantragte die anwaltlich vertretene «Wiler Zeitung», die Beschwerde sei abzuweisen, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Die Beschwerdeführerin äussere sich nicht klar, ob sie gegebenenfalls auch gerichtlich gegen die Zeitung vorgehen wolle. Zudem richte sich die Beschwerde ausschliesslich gegen den Journalisten Ernst Inauen, der aber für die Bildauswahl nicht verantwortlich gewesen sei.

Massgeblich für die Beurteilung durch den Presserat sei lediglich, was veröffentlicht worden sei. Die von der Beschwerdeführerin geschilderten Begleitumstände dienten lediglich der Stimmungsmache und würden in allen Teilen bestritten. Namentlich habe Ernst Inauen auf der Unfallstelle erst dann Fotos gemacht, «als er sich vergewissert hatte, dass kein akuter Handlungsbedarf mehr besteht und die Polizei avisiert war». Falsch sei weiter, dass der Journalist die Beschwerdeführerin zur Autogarage verfolgt habe. Die dort entstandenen Bilder habe er erst später gemacht. Nach Abschluss der Befragung durch die Polizei sei Ernst Inauen direkt nach Hause gefahren.

«Ernst Inauen und die Verunfallte kennen sich. Bevor er am Unfallort Aufnahmen machte, holte er ihre Einwilligung ein. Ernst Inauen stellte der Beschwerdeführerin eine direkte Darstellung ihrer Person in Aussicht. Weder hat er ihr versprochen, nur ein Foto vom Auto zu publizieren, noch hat er die Situation der Beschwerdeführerin schamlos ausgenützt.» Auf dem Bild sei die Beschwerdeführerin zumindest für Aussenstehende nicht erkennbar, da man nur Haare und Kleider sehe. Entsprechend hätte das Bild sogar ohne Einwilligung veröffentlicht werden dürfen. Der Journalist habe weder eine Notsituation ausgenützt, noch reisserisch berichtet. Insbesondere habe er deutlich auf den glimpflichen Ausgang des Unfalls hingewiesen. Entsprechend sei es unglaubwürdig, dass nahe Bekannte und Verwandte aufgrund des Berichts «sehr besorgt» gewesen seien.

E. Am 22. August 2008 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 20. März 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 10 Abs. 2 seines Geschäftsreglements kann der Presserat auch auf Beschwerden eintreten, wenn in der gleichen Sache parallel zum Presseratsverfahren ein Gerichtsverfahren hängig ist. Dies aber nur dann, wenn sich im Zusammenhang mit der Beschwerde grundlegende berufsethische Fragen stellen. Nach Auffassung des Presserates trifft dies im konkreten Fall zu. Die Beschwerdeführerin hat ein legitimes Interesse an der Klärung der Frage, ob eine Verunfallte damit rechnen muss, dass Medien bildlich über ihren Unfall berichten und welche berufsethischen Regeln dafür gelten. Entsprechend braucht nicht näher geprüft zu werden, ob die Beschwerdeführerin beabsichtigt, gegen den Journalisten Ernst Inauen und/oder die «Wiler Zeitung» gerichtlich vorzugehen. Ungeachtet der Formulierung behandelt der Presserat zudem an ihn gerichtete Beschwerden immer als solche gegen die für die Publikation verantwortliche Redaktion. Entsprechend ist auf die Beschwerde von X. vollumfänglich einzutreten.

2. a) Hat die «Wiler Zeitung» die Privatsphäre von X. mit der Veröffentlichung des Unfallfotos verletzt? Die von der Beschwerdeführerin angerufene Richtlinie 7.1 zur «Erklärung» lautet: «Jede Person hat Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens. Journalistinnen und Journalisten dürfen im Privatbereich niemanden ohne Einwilligung aufnehmen. Ebenso ist die Belästigung von Personen in ihrem Privatbereich (Eindringen in Häuser, Verfolgung, Auflauern, telefonische Behelligung usw.) zu unterlassen. Dies gilt in besonderem Masse, wenn sie gebeten haben, in Ruhe gelassen zu werden. Auch im öffentlichen Bereich ist das Fotografieren oder Filmen von Privatpersonen nur dann ohne Einwilligung der Betroffenen zulässig, wenn sie auf dem Bild nicht herausgehoben werden. Hingegen ist es im Rahmen des öffentlichen Interesses erlaubt, über Auftritte von Personen im Gemeinbereich auch bildlich zu berichten.»

b) Das von der «Wiler Zeitung» veröffentlichte Bild wurde im öffentlichen Raum aufgenommen. Die Beschwerdeführerin ist darauf für Dritte ausserhalb ihres engeren Bekanntenkreises nicht erkennbar. Zudem ist zwischen den Parteien unbestritten, dass über die Aufnahme und Veröffentlichung eines Bildes von der Unfallstelle zumindest diskutiert wurde. Aufgrund der divergierenden Darstellung der Parteien ist höchstens unklar, ob sich die vor Ort getroffene Absprache bloss auf ein Bild des Unfallwagens ohne Fahrerin oder die Veröffentlichung eines (diskreten) Bildes mit Fahrerin erstreckte. Da die Beschwerdeführerin im Bild aber ohnehin nicht als Person herausgehoben wird, kann dieser Punkt offen bleiben. Die Privatsphäre der Beschwerdeführerin ist zudem auch deshalb nicht verletzt, weil das veröffentlichte Bild sie nicht in einem schlechten Licht erscheinen lässt. Denn ein derartiger Glatteisunfall kann jedem Autofahrer passieren.

3. Gemäss der Richtlinie 7.2 (Personen in Notsituationen) ist besondere Zurückhalt
ung bei Personen geboten, «die sich in einer Notsituation befinden oder unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Dies gilt sowohl für die Betroffenen als auch ihre Familien und Angehörigen.» Ist eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» mit dem Argument zu bejahen, Ernst Inauen habe zu wenig Rücksicht auf die Notsituation der Beschwerdeführerin genommen? Der Presserat kann dies nicht abschliessend beurteilen, da die Ausführungen der Parteien gerade in dieser Hinsicht weit auseinandergehen. Zum einen ist es nachvollziehbar, dass sich die Beschwerdeführerin unmittelbar nach dem Unfall, zwar nicht gerade in einer Notsituation, aber doch zumindest noch unter dem Schock des überraschenden Ereignisses stand. Entsprechend war der zufällig auf der Unfallstelle anwesende Journalist gehalten, rücksichtsvoll vorzugehen. Zumindest der Umstand, dass er sich mit der ihm persönlich bekannten Beschwerdeführerin über die Veröffentlichung eines Bildes unterhielt und um ihre Einwilligung ersuchte, deutet jedenfalls nicht auf ein besonders rücksichtsloses Vorgehen hin. Und ungeachtet des genauen (umstrittenen) Inhalts der Absprache hat der Journalist die Verunfallte damit auch nicht zu einer Handlung veranlasst, zu der sich eine vernünftige Person kaum bewegen lassen würde.

4. Offensichtlich nicht tangiert durch den nüchternen Bericht ist schliesslich die Menschenwürde der Beschwerdeführerin (Richtlinie 8.1 zur «Erklärung»). Ebenso erfüllt die beanstandete Publikation auch die Vorgabe der Richtlinie 8.5 zur «Erklärung», wonach Fotografien und Fernsehbilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen müssen. «Dies gilt besonders im Bereich der lokalen und regionalen Information.» Soweit die Beschwerdeführerin auf dem Foto für nahe Verwandte und Bekannte überhaupt erkennbar war, ist für den Presserat nicht nachvollziehbar, weshalb sich diese aufgrund des Berichts hätten ängstigen sollen. Weisen doch sowohl Bild als auch Text darauf hin, dass der Unfall – abgesehen vom materiellen Schaden – für die Beschwerdeführerin glimpflich ausging.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Wiler Zeitung» hat mit der Veröffentlichung der Unfallmeldung «Wintereinbruch mit Folgen» und dem zugehörigen Bild in der Ausgabe vom 8. April 2008 die Ziffern 7 (Wahrung der Privatsphäre, Personen in Notsituationen) und 8 (Menschenwürde, Unfallbilder) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.