I. Sachverhalt
A. Am 15. Mai 2009 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» in der Rubrik «Schlagseite» unter dem Titel «Ein bescheidener Rat an den Kanton Obwalden» eine Glosse von Constantin Seibt. Darin setzt sich der Autor satirisch mit der Absicht des Kantons auseinander, im Rahmen einer Baurechtsrevision «Zonen mit hoher Wohnqualität» zu schaffen, um so die Steuereinnahmen zu erhöhen. Bei entsprechendem Interesse und dem notwendigen «Kleingeld» solle – so die Kritik der Medien – ermöglicht werden, bisher unbebaute «Landstücke an besonders attraktiver Lage» zu Bauland umzuzonen.
In Weiterführung dieser Kritik fragt Constantin Seibt in seiner Glosse provokativ, «ob das neue Gesetz genügt. Für die wirklich Reichen sind Steuernachlässe, Subventionen, Privilegien und Aufmerksamkeiten aller Art tägliche Routine. (…) Was aber schätzen Superreiche? Gerade weil sie alles haben und gesehen haben, sind es oft Leute, die das Einfachste am höchsten schätzen: Ehrlichkeit, ein einfaches Mahl, echte Zuneigung. (…) Hier müssen sich die aufrechten Obwaldner abheben! Sie müssen den Tatbeweis liefern, dass sie als grundehrliche Bergler ihren neuen reichen Mitbürgern nur das Beste gönnen. Das beste Bauland genügt nicht. Auch die urdemokratische Geste, sich vor kapitalkräftigen Leuten in den Staub zu werden, schafft keinen Unterschied zu Zug, Schwyz oder dem Bundesrat in Bern. Was also wäre das Beste, das jemand geben kann, liebe Obwaldner und Obwaldnerinnen? (…) Das Beste sind natürlich … eure Kinder! Frisches Kinderfleisch ist das Zarteste, was auf diesem Planeten zu finden ist. (…) Und was könnte die bedingungslose Aufrichtigkeit der Obwaldner Bevölkerung gegen vermögende Steuerzahler besser unterstreichen als zarte Obwaldner Kinder, in der eigenen Milch serviert? Oder gedünstet, geröstet oder als Spanferkel? Oder vielleicht mit einem mit einheimischen Äpfeln gefüllten Buckel – dem gemeinsamen Geburtsmerkmal so vieler stolzer Innerschweizer. (…) Möglicherweise klingt mein Vorschlag anfangs fremd. Aber er ist nicht neu. Der Priester Jonathan Swift schlug schon 1729 vor, aus bettelarmen irischen Kindern Gerichte für englische Gutsbesitzer zu produzieren. Warum also sollen Obwaldner Gutsbesitzer leer ausgehen?»
B. Am 20. Mai 2009 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den oben zusammengefassten Text an den Presserat. Der Beitrag von Constantin Seibt überschreite nach seinem Dafürhalten die äusserste Toleranzgrenze für Satire ganz eindeutig. «Mit seinem Beitrag verletzt Seibt die Gefühle einer ganzen Kantonsbevölkerung und der Regierung. Der Inhalt seiner Kolumne ist rassistisch gefärbt, scheut vor Kannibalismus nicht zurück und regt niedrigste und von Perversion geprägte Phantasien an. Auch die Anlehnung des Autors an den Priester Jonathan Swift (1729) berechtigt nicht zu einer ‹Reproduktion› auf die Obwaldner Bevölkerung. Es ist zudem bedenklich, dass die zuständigen leitenden Redaktoren den Abdruck des Beitrags nicht verhinderten.» Mit dem Abdruck der Glosse habe der «Tages-Anzeiger» die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» und die zugehörigen Richtlinien 8.1 (Achtung der Menschenwürde), 8.2 (Diskriminierung) und 8.3 (Opferschutz) verletzt.
C. Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.
D. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Presseratspräsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina, hat die vorliegende Stellungnahme per 28. August 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Gemäss langjähriger Praxis des Presserates ist kein Thema von der Satire ausgenommen. Übertreibungen und Verfremdungen sind nicht ausgeschlossen, jedoch müssen die Fakten stimmen, von denen die Satire ausgeht Die Satire darf nicht nur zuspitzen, sondern auch übertreiben. Sie geht aber immer von einem wahren Kern aus (vgl. z.B. die Stellungnahmen 55/2008, 17/2005, 8/1996).
2. Der provokative Vorschlag von Constantin Seibt, anstatt spezielle Bauzonen, Steuererleichterungen und andere Vergünstigungen Kinder anzubieten, um den «Superreichen» zu hofieren, ist für die Leserschaft ohne weiteres als nicht real gemeinte satirische Übertreibung erkennbar. Diese beruht zudem in zweierlei Hinsicht auf einem wahren Kern:
a) Einerseits wurde in der vom Kanton Obwalden in die Vernehmlassung gegebenen Richtplanänderung effektiv zur Diskussion gestellt, ein äusserst wertvolles Gut – bisher nicht eingezontes Land an landschaftlich besonders reizvollen Lagen zu opfern, um gute Steuerzahler und Unternehmen anzulocken, die Arbeitsplätze schaffen.
b) Anderseits bezieht sich der Text bereits im Titel («Ein bescheidener Rat …») in erkennbarer Weise auf das berühmte Pamphlet von Jonathan Swift, «A modest proposal», worin dieser zur Lösung von Überbevölkerung, Armut und Kriminalität in Irland vorschlägt, irische Babys als Nahrungsmittel zu nutzen und durch Export Profit daraus zu schlagen. Selbst wenn eine Satire mit Kinder-Opfern und Kannibalismus heikle Themen anschneidet, ist es nach Auffassung des Presserats berufsethisch zulässig, in Anlehnung an Swift übertriebenes ökonomisiertes Denken und Gewinnstreben in derart harscher und offensichtlich überzeichneter Weise zu kritisieren.
3. Da sich die Beschwerde als offensichtlich unbegründet erweist, tritt der Presserat in Anwendung von Art. 10 Abs. 1 seines Geschäftsreglements nicht darauf ein.
III. Feststellungen
Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.