I. Sachverhalt
A. Am 23. und 24. März 2021 erschienen in den Zeitungen der Tamedia Beiträge über Probleme mit der Datensicherheit bei der digitalen Impfplattform «meineimpfungen.ch». Dies nachdem das Online-Magazin «Republik» und das deutsche «Handelsblatt» am Vortag publik gemacht hatten, dass es Hackern ohne grossen Aufwand gelungen sei, auf Angaben über Geimpfte auf dieser Datenbank zuzugreifen, welche vom Bund als digitaler «Corona-Impfausweis» vorgesehen war. Insbesondere berichtete der «Tages-Anzeiger» (TA) am 24. März auf der Frontseite unter dem Titel «Nach Datendebakel: Jetzt soll der Staat die Geimpften selber registrieren» in einem längeren Aufmacher gezeichnet von Christoph Lenz und Luca De Carli über das Thema. Auf der Seite 2 erschien ein Kommentar zum gleichen Thema von Fabian Renz, auf Seite 3 dann ein ganzseitiger Bericht von Christoph Lenz, Luca De Carli und Angelika Gruber über den «Daten-GAU für den Impfausweis». In den ersten beiden ist von der Urheberschaft der «Republik» und des «Handelsblatt» bei diesem Thema gar nicht die Rede, im dritten, ausführlichen Artikel erst nach 74 Zeilen, nach eineinhalb Spalten des Lauftexts.
B. Am 26. April 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, die Berichterstattung der Tamedia-Printtitel, konkret belegt am Beispiel des TA, verletze die Ziffern 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 4 (unlautere Methoden) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), insbesondere sei die Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) und die Richtlinie 4.7 (Plagiat) betroffen.
Der Beschwerdeführer (BF) begründet den Verstoss gegen die Ziffer 3 damit, dass die ursprüngliche Recherche spektakuläre Erkenntnisse enthalten und entsprechend auch ungewöhnlich grosse Wirkung in der Öffentlichkeit gezeitigt habe. Angesichts dessen sei es unehrlich, diesen wichtigen Umstand erst im dritten Artikel und dort erst in der zweiten Spalte «nebenbei» zu erwähnen. Richtlinie 3.1 bezeichne die genaue Nennung einer Quelle als im Interesse des Publikums liegend. Darauf habe auch die Stellungnahme 3/1993 des Presserats Bezug genommen, in welcher dieser festgehalten hatte, dass es wichtig sei «zu wissen, wer die Rechercheleistung erbracht, welches Medium etwas enthüllt (…) hat».
Insbesondere aber sei mit der Berichterstattung des TA die Ziffer 4 verletzt. Diese verbiete unlautere Methoden, insbesondere das Plagiat. Hier würden im Sinne der Richtlinie 4.7 Informationen «in identischer oder anlehnender Weise» übernommen, ohne dass die Quelle angegeben werde. Zwar seien die Artikel angereichert mit eigenen Nachforschungen, aber letztlich habe man es doch zu tun mit der Nacherzählung fremder Ideen mit eigenen Worten.
Das sei auch deswegen gravierend, weil im Zuge des Spardrucks das gegenseitige Abschreiben und Paraphrasieren immer häufiger werde. So nenne etwa «20 Minuten» (ebenfalls Tamedia) auf der Titelseite nie die Quelle übernommener Geschichten. Die frühzeitige Nennung der Quelle sei aber auch deshalb von Belang, weil bei späteren Suchvorgängen immer erst die neueren Texte auftauchten. Auf die ursprüngliche Story komme man nicht mehr, wenn sie nicht prominent genug deklariert werde.
C. Mit Beschwerdeantwort vom 8. Juni 2021 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group im Namen des «Tages-Anzeiger», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Eventualiter sei sie abzuweisen.
a) Den Antrag auf Nichteintreten begründet die Beschwerdegegnerin (BG) damit, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer gerichtlichen Klage nicht ausdrücklich verneint habe. Die Ablehnung der Beschwerde begründet die Redaktion damit, dass sie mit ihren Berichten weder einen falschen Eindruck erweckt noch unkorrekt zitiert habe. Es sei hier keine «Wiedergabe von fremden Ideen mit eigenen Worten» erfolgt.
b) Zur Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung» (ungenügende Quellenangabe): Die «Republik» und das «Handelsblatt» seien im Hauptartikel des TA als Erstberichterstatter in der Spalte 2 von 6 ausdrücklich erwähnt. Damit sei der TA der Anforderung von Richtlinie 3.1 ausdrücklich nachgekommen, ebenso wie der «genauen Quellenangabe», wie der BF sie aus Stellungnahme 3/1993 zitiere. Die vom BF dort abgeleitete Pflicht zur Nennung der Quelle schon auf der Titelseite wird als fehlerhafte Interpretation dieses Entscheids bestritten.
Mitentscheidend sei, dass der TA das Thema schon am Vortag, unmittelbar nach Erscheinen der «Republik»-Geschichte, in seiner Online-Berichterstattung in der Rubrik «Corona-Ticker» aufgenommen und die Quelle dort schon im zweiten Satz erwähnt habe. Das beweise, dass der TA die Recherche der «Republik» in keiner Weise habe verschleiern wollen. Umgekehrt sei man während der eigenen Recherchen schnell darauf gestossen, dass die Quelle der «Republik»- und «Handelsblatt»-Berichte wiederum eine «Hackertruppe» gewesen sei. Um dem gerecht zu werden, habe man in den Berichten primär auf diese fokussiert und online auch auf deren Hack verlinkt.
Zudem sei in den Artikeln des TA in grossem Umfang Eigenleistung eingeflossen in Form eines Interviews mit einem der Hacker, von Nachfragen, Recherchegesprächen mit verschiedenen Beteiligten. Auch sei die Thematik ausgerichtet worden auf die Auswirkungen hinsichtlich der Corona-Impfkampagne. Entsprechend sei die Kategorisierung des BF («tägliche Abschreiberei») unzutreffend.
c) Zur Verletzung der Ziffer 4, insbesondere Richtlinie 4.7 (Plagiat) stellt die BG fest, dass der BF die Stellungnahme 22/2001 falsch interpretiere, wenn er davon ausgehe, dass diese fordere, Quellenangaben seien schon auf der Frontseite zu nennen. Vielmehr habe der Presserat dort festgestellt, dass die Interessen der konkurrierenden Medien nicht im Zentrum der journalistischen Berufsethik stünden. In diesem Bereich bestehe lediglich die Bindung an ein Mindestmass an Kollegialität, an beruflichen Anstand. Dieses Mindestmass sei mit der Nennung der «Republik» an prominenter Position als Erstquelle mehr als erfüllt.
D. Am 15. Juni 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der Geschäftsführerin behandelt.
E. Die Geschäftsführerin hat die vorliegende Stellungnahme in Absprache mit dem Presseratspräsidium am 24. August 2021 verfasst.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Der Beschwerdeführer hat weder eine Klage eingereicht noch eine feste Absicht dazu bekundet. Die Anforderung «Parallelverfahren» für ein Nichteintreten gemäss Art. 11 des Geschäftsreglements ist nicht erfüllt.
2. Ziffer 3 der «Erklärung» verlangt, dass wichtige Elemente einer Information nicht unterschlagen werden dürfen und die dazugehörige Richtlinie 3.1 nennt in diesem Zusammenhang insbesondere die Nennung der Quelle einer Information.
Es ist zwar unbestritten, dass der TA die «Republik» und das «Handelsblatt» als Quellen der Information hinsichtlich der Sicherheitsproblematik bei «meineimpfungen.ch» genannt hat. Allerdings tat er das erst nach einem vierspaltigen Front-Aufmacher mit Schlagzeile, Lead und Text sowie einem Kommentar auf der zweiten Seite. Das heisst, die Quellen wurden überhaupt erst in der dritten Aufnahme des Themas genannt und auch dort nicht wenigstens im Lead, sondern erst, nachdem dieses, reportageartig aufgezogen, schon eineinhalb Spalten lang beschrieben worden war. Das ist zu spät, um noch von hinreichender Quellentransparenz zu sprechen (vergleiche die vom BF angeführte Stellungnahme 22/2001, welche verlangte, dass die Quelle eines zitierten Primeurs schon auf der Frontseite hätte genannt werden müssen). Dass der TA das Thema online schon am Tag zuvor in einer Corona-Rubrik aufgenommen und die Quelle «Republik» dort schon im zweiten Satz genannt hatte, wie die BG geltend macht, spielt dabei keine Rolle. Das belegt zwar, dass es der Redaktion dort nicht darum ging, Quellen zu verheimlichen. An der Tatsache aber, dass diese im Print erst dermassen spät genannt wurden, ändert das nichts.
Zwar ist – mit der Beschwerdegegnerin – zu bedenken, dass der TA die eigentlichen Urheber der ganzen Geschichte schon früh genannt hat, nämlich die «Hacker», die Internet-Sicherheitsleute, welche die Missstände effektiv aufgedeckt hatten (die «Republik» hat deren Erkenntnisse dann ausgeweitet). Von ihnen ist im «Tages-Anzeiger» schon auf der Front und bereits im ersten Satz des langen dritten Artikels die Rede. Aber die «Republik» und das «Handelsblatt», also die Medien, welche die Geschichte zuerst journalistisch aufbereitet, ergänzt und publiziert haben, wurden nicht genügend deutlich genannt. Ihre Nennung als Quellen wäre schon auf der Front erforderlich gewesen. Die Ziffer 3 der «Erklärung» wurde verletzt.
3. Die Ziffer 4 der «Erklärung» wendet sich gegen unlautere Methoden in der journalistischen Tätigkeit und nennt dabei insbesondere das Plagiat. Die Richtlinie 4.7 präzisiert dies mit der Formulierung «Wer ein Plagiat begeht, d. h. wer Informationen (…) ohne Quellenangabe in identischer oder anlehnender Weise übernimmt, handelt unlauter gegenüber seinesgleichen».
Der TA hat die Geschichte der «Republik» nicht in identischer Weise übernommen. Er hat Fakten von der «Republik» übernommen, sie aber nicht identisch beschrieben. Zur Frage, ob der TA sich mit seiner Beschreibung zu sehr an diejenige der «Republik» angelehnt hat: Die «Republik» hatte, in Abschnitte gruppiert, Punkt für Punkt ausführlich die von den «Hackern» (der ursprünglichen Quelle) und die selber recherchierten Schwachpunkte von «meineimpfungen.ch» aufgezählt. Der TA hingegen beschrieb zunächst szenisch das – selber in Erfahrung gebrachte – Vorgehen der Datenexperten und daran anschliessend in einer inhaltlichen Zusammenfassung die Mängel von «meineimpfungen.ch», bevor er dann zu den politischen und gesundheitspolitischen Folgen kam. Damit hat er sich mit seiner Berichterstattung nicht in unlauterer Weise an den Artikel der «Republik» angelehnt. Das Problem war primär die ungenügende Nennung der mehrfach verwendeten Quelle «Republik»/«Handelsblatt», nicht das Kopieren eines oder zu nahe Anlehnen an einen fremden Text. Die Ziffer 4 der «Erklärung» ist nicht verletzt.
4. Dem Beschwerdeführer ist aber insofern Recht zu geben, als das Thema Plagiat, und das mildere «parasitäre Paraphrasieren», wie es neulich von der «Medienwoche» genannt wurde, also das fast schon routinemässige gegenseitige Übernehmen von Themen und Teilen von Texten heute von erhöhter Bedeutung ist. Die Zahl der eigenständigen Publikationen ist stark geschrumpft. Je gegen 20 früher unabhängige Zeitungstitel werden heute von zwei Zentralredaktionen beliefert. Wenn jetzt unter dem Spardruck vermehrt auch unter den wenigen verbleibenden Redaktionen Themen gegenseitig übernommen werden, ist dies sowohl unter dem Gesichtspunkt der Themen- und Meinungsvielfalt wie auch unter dem Gesichtspunkt des Autorenschutzes höchst problematisch. Umso wichtiger ist es, dass wenigstens über die Quellenlage immer transparent informiert wird. Dies auch deswegen, weil – wie der BF richtigerweise anführt – bei Suchvorgängen immer die jüngeren Artikel zuerst aufscheinen. Wenn die ihre Quellen nicht nennen, bleiben diese zu Unrecht verborgen.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.
2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Berichterstattung über «meineimpfungen.ch» die Ziffer 3 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
3. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, die Ziffer 4 (Plagiat) wurde nicht verletzt.