Nr. 44/2003
Kommentarfreiheit und Diskriminierungsverbot

(X. / Y. c. «Thuner Tagblatt») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 19. September 2003

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I. Sachverhalt

A. Am 24. April 2003 veröffentlichte das «Thuner Tagblatt» eine Kolumne seines Chefredaktors René E. Gygax mit dem Titel «Peinlich für die Stadt Bern», zur damals aktuellen Auseinandersetzung innerhalb des Berner Gemeinderats. Darin führte er u.a. aus: « Kurt Wasserfallen war einer der ganz wenigen politischen Polizeichefs in der Schweiz, der sich nicht auf der Nase herumtanzen liess: Weder vom kriminellen Chaotenpack von Davos bis Bern, noch von den linken Berufsdemonstranten, auch nicht vom allenorts herumlungernden Drogengesindel und von den allgegenwärtigen Fassadenschmierfinken. Gradlinig verfolgte er eine Haltung, die weit mehr verunsicherte und verängstigte Menschen hierzulande unterstützen, als es pseudotolerante Kreise wahrhaben wollen».

B. Mit Beschwerde vom 5. Mai 2003 gelangte X. an den Presserat und rügte, Chefredaktor Gygax habe sich bei der Wortwahl seines am 24. April erschienenen Kommentars in krasser Weise vergriffen. «Dass er Demonstrierende von «Davos bis Bern» als «Chaotenpack» bezeichnet, zeugt von primitivem Stammtischniveau, liegt aber vielleicht noch innerhalb der Kommentarfreiheit. Die Grenzen eindeutig überschritten hat Herr Gygax indes mit der Bezeichnung «allenorts herumlungerndes Drogengesindel». Damit diskriminiert und verunglimpft er die ganze Bevölkerungsgruppe der drogenkranken Menschen.» Der Beschwerdeführer sah darin einen Verstoss gegen Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierungsverbot).

C. Am 14. Mai 2003 reichte Y. eine praktisch gleich lautende Beschwerde ein und machte geltend, die Bezeichnung der Gruppe der Drogenkonsumenten als «Gesindel» verletze deren Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung»).

D. Mit Schreiben vom 23. Mai 2003 teilte der Presserat den Parteien mit, angesichts des identischen Beschwerdegegenstandes würden die beiden Beschwerden im gleichen Verfahren behandelt.

E. In einer Stellungnahme vom 12. Juni 2003 wies René E. Gygax die beiden Beschwerden namens der Redaktion des «Thuner Tagblatts» als unbegründet zurück. Die beanstandeten Termini «Drogengesindel» und «Kriminelles Chaotenpack» würden von den Beschwerdeführern aus dem Kontext gerissen. Aus diesem ergebe sich jedoch, dass sich seine Kritik weder auf unauffällige Drogenkranke, korrekte Demonstranten noch auf Sprayer bezogen habe, die ihre Tätigkeit mit Einwilligung der Hausbesitzer ausübten.

F. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

G. Am 24. Juni 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium (Präsident Peter Studer und Vizepräsident Daniel Cornu) behandelt. Dabei trat Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher im Sinne von Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements von sich aus in den Ausstand.

H. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 19. September 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die beiden Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung», wobei für den Beschwerdeführer X. eine Diskriminierung der Drogenkranken im Vordergrund steht, währenddem der Beschwerdeführer Y. die Menschenwürde dieser gesellschaftlichen Gruppe verletzt sieht.

2. Gemäss Ziffer 8 der «Erklärung» haben Journalistinnen und Journalisten die Menschenwürde zu respektieren und in der Berichterstattung u.a. auf diskriminierende Anspielungen zu verzichten, die Krankheiten zum Gegenstand haben. Laut der Richtlinie 8.2 (Diskriminierung) zur «Erklärung» dürfen Angaben über Krankheiten nur gemacht werden, wenn sie für das Verständnis unerlässlich sind.

Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen zum Diskriminierungsverbot und zur Menschenwürde (vgl. die Stellungnahmen 38/2000 i.S. S. c. «Wochenzeitung», 32/2001 i.S. A. c. «NZZ-Folio», 6/2002 i.S. VEV DAJ c. «Baslerstab», 9/2002 i.S. X. c. «Südostschweiz», 37/2002 i.S. X. c. «SonntagsBlick») darauf hingewiesen, dass die abwertende Äusserung gegen eine Gruppe oder ein Individuum eine Mindestintensität erreichen muss, um als herabwürdigend oder diskriminierend zu gelten. Nur dann verletzt sie Ziffer 8 der «Erklärung».

3. a) Der Beschwerdeführer X. sieht das Diskriminierungsverbot dadurch verletzt, dass sich die von ihm beanstandete, stark abwertende Bezeichnung «allenorts herumlungerndes Drogengesindel» in ungerechtfertigter Weise gegen die gesamte Bevölkerungsgruppe der drogenkranken Menschen richte.

b) Dem hält Chefredaktor Gygax entgegen, bei einer Betrachtung des Kontexts werde klar, dass sich seine Kritik nicht an sämtliche Konsument/innen von illegalen Drogen, sondern nur an solche gerichtet habe, die durch ihr störendes und illegales Verhalten («z.B. Drogensüchtige, die Betagten Handtaschen entreissen; Händler, Dealer, Kuriere, Anpöbler à la ÐHesch mer ä Stutzð») besonders negativ auffallen.

c) Zwar geht die Bezeichnung «herumlungerndes Drogengesindel» insbesondere gekoppelt mit dem Zusatz «allenorts» sehr weit, und scheint – zumindest auf den ersten Blick – dem Umstand nicht Rechnung zu tragen, dass es sich bei den mit der Kritik Gemeinten aus medizinischer Sicht zum Teil um Schwerkranke handelt.

Umgekehrt ist aber zu berücksichtigen, dass der beanstandete Kommentar im Rahmen einer heftigen politischen Debatte rund um die umstrittene «Absetzung» des Polizeidirektors der Stadt Bern veröffentlicht wurde. Dabei wurde für die Leserschaft durchaus ersichtlich – wie dies vom «Thuner Tagblatt» geltend gemacht wird – dass sich der Angriff des Kommentators trotz einer generalisierenden Tendenz seiner Ausdrucksweise nicht gegen alle Drogenabhängigen und Drogenkranken, sondern nur gegen solche richtet, die öffentlich negativ auffallen. Und auch wenn diese unter medizinischen Gesichtspunkten wie ausgeführt zum Teil schwerkrank sein mögen, sind sie als zumindest einen Teil der Bevölkerung durch ihr Verhalten stark provozierende gesellschaftliche Minderheit nicht von öffentlich geäusserter Kritik auszunehmen.

Gemäss Duden Universalwörterbuch bedeutet «Gesindel» «verbrecherische, heruntergekommene Menschen». Unter Berücksichtigung der geltenden Gesetzgebung erscheint die Verwendung des Begriffs «allenorts herumlungerndes Drogengesindel» bei einer juristisch-politischen Betrachtungsweise zwar als äusserst hart, politisch «unkorrekt» und jedenfalls als wenig zu einem konstruktiven Dialog beitragend.

Dennoch würde es zu weit führen, diese harsche, kommentierende Wertung, die für das Publikum ebenso als solche erkennbar ist wie ihre faktischen Grundlagen, als diskriminierend im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung» zu qualifizieren. Denn es kann nicht Sinn und Zweck des medienethischen Diskurses sein, aus dem Diskriminierungsverbot ein Gebot abzuleiten, wonach nur noch «politisch korrekte» öffentliche Meinungsäusserungen zuzulassen wären. Vielmehr legt eine massvolle Abwägung zwischen einer lebendigen und manchmal auch hart geführten öffentlichen politischen Auseinandersetzung und der Verhinderung nicht mehr tolerierbarer verbaler Entgleisungen sowie respektloser Verletzungen von Menschengruppen und Individuen nahe, dass zwischen dem anzustrebenden möglichst fairen politischen Diskurs und der verpönten berufsethischen Diskriminierung Raum für eine Zwischenzone von zwar möglicherweise politisch nicht ganz korrekten, aber dennoch nicht diskriminierenden Äusserungen zuzulassen ist.

4. Mit der im Wesentlichen gleichen Begründung ist deshalb auch die Rüge des Beschwerdeführers Y. abzuweisen, der in der glei
chen Passage «allenorts herumlungerndes Drogengesindel» die Menschenwürde von Drogenkranken insbesondere durch den Ausdruck «Gesindel» verletzt sieht. Angesichts des dieser harten Wertung zugrundeliegenden wahren Tatsachenkerns – öffentlich negativ auffallende Drogensüchtige geraten unbestrittenermassen häufig mit dem Gesetz in Konflikt und haben, sicher auch zum Teil bedingt durch ihre Drogensucht, meist kein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein – ist diese harte Wertung nach Auffassung des Presserates, wenn auch knapp, nicht derart abwertend, dass sie die Betroffenen in ihrem Menschsein herabgewürdigt.

Denn die Kritik des Kommentators richtet sich gegen die Art und Weise des Auftretens und Handelns von Akteuren der öffentlich wahrnehmbaren Drogenszene und nicht gegen die erworbene Eigenschaft, dass sie drogensüchtig sind. Hinzu kommt, dass sich die Kritik von Chefredaktor Gygax nicht gegen konkrete Individuen, sondern vielmehr gegen eine nur unscharf definierte Personengruppe richtet, weshalb die Gefahr einer Verletzung von einzelnen Personen durch eine undifferenzierte Ausdrucksweise von vornherein als wesentlich geringer erscheint.

III. Feststellung

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.