Nr. 57/2002
Kommentarfreiheit

(X. c. «Neue Luzerner Zeitung») Stellungnahme des Presserates vom 29. November 2002

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I. Sachverhalt

A. Am 8. März 2002 veröffentlichte die «Neue Luzerner Zeitung» auf ihrer Frontseite einen Kommentar von Andreas Tunger-Zanetti mit dem Titel «Kriegsverbrecher Sharon». Darin erwähnt der Autor vorab ein «Massaker» an «mehreren hundert palästinenischen Zivilisten» durch «verbündete libanesische Milizen» aus dem Jahr 1982, für das Sharon als damaliger israelischer Verteidigungsminister die Verantwortung getragen habe. Er fährt dann fort: «Heute, als Premier (…) treibt es Sharon schlimmer denn je. Unter seiner politischen Verantwortung verletzt die israelische Armee dauernd, schwer wiegend und bewusst die Grundsätze des Kriegs- und des humanitären Völkerrechts. Sharon lässt radikale Palästinenser gezielt töten, nimmt dabei sogar den Tod Dritter in Kauf, verhindert medizinische Nothilfe, lässt Wohnhäuser und Verwaltungsgebäude platt walzen und Olivenkulturen zerstören. Wer solches tut oder anordnet ist ein Kriegsverbrecher. Vorverurteilung? Über den juristischen Sachverhalt sollen eines Tages die Gerichte urteilen. Politisch kann man Ariel Sharon schon heute als Kriegsverbrecher bezeichnen.»

B. Mit Beschwerde vom 16. und 19. Juli 2002 gelangte X. an den Presserat und rügte, die NLZ habe mit dem Titel «Kriegsverbrecher Sharon» die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Unterschlagung wesentlicher Informationselemente), und 7 (sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen) verletzt. Zudem habe sie auch gegen Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) verstossen, weil sich die Redaktion geweigert habe, einen berichtigenden Leserbrief des Beschwerdeführers zu veröffentlichen.

C. In einer Stellungnahme vom 23. August 2002 wies die Redaktion der NLZ die Beschwerde als unbegründet zurück. Aus dem Kommentar von Andreas Tunger-Zanetti gehe hervor, dass es sich um eine politische und nicht um eine juristische Beurteilung handle. Die im Text genannten Fakten seien belegt. Der Kommentar folge bei der Umschreibung von Kriegsverbrechen einschlägigen Definitionen, «wie sie etwa das Rote Kreuz oder auch das Römer Statut des seit dem 1. Juli 2002 amtierenden Internationalen Strafgerichtshofs verwenden. Berichte von militärischen Handlungen der israelischen Armee, die in ihrer Zerstörungswirkung, Willkür oder Systematik an Kriegsverbrechen gemahnen, waren in den Tagen und Wochen bis zum Kommentar vom 8. März 2002 denn auch in diversen führenden Schweizer Medien zu verfolgen.» Der Leserbrief vom 15. Juli 2002, den der Beschwerdeführer mehr als 4 Monate nach dem beanstandeten Kommentar eingereicht habe, nenne keine Fakten, die im Kommentar nachweislich falsch dargestellt worden wären.

D. Am 27. August 2002 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.

E. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 29. November 2002 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 13/2000 darauf hingewiesen, dass es nicht seine Aufgabe sein kann, die Richtigkeit der Darstellung historischer Forschung zu überprüfen. Dementsprechend geht es auch hier nicht darum, die historische Haltbarkeit der Fakten, die dem angefochtenen Kommentar zugrundeliegen, in einem Beweisverfahren zu überprüfen. Ohnehin wendet die NLZ zu Recht ein, der Beschwerdeführer stelle weder diese noch die seither erwähnten aktuellen Fakten in Frage.

2. Der Presserat hat in ständiger Praxis darauf hingewiesen, dass dem Kommentar ein grosser Freiraum gebührt. Ein solcher kann jedoch nur dann zur Meinungsbildung beitragen, wenn dem Publikum die dem Kommentar zugrundeliegenden Fakten offengelegt werden (Stellungnahme 3/98 i.S. S. c. NZZ; ebenso 16/99 i.S. H. c. «Zuger Presse»). Die Leserschaft sollte dabei in die Lage versetzt werden, zwischen Informationen und Wertungen zu unterscheiden (Stellungnahme 17/00 i.S. D. c. «Weltwoche»).

3. Vorliegend ist dem Beschwerdeführer zwar zuzugestehen, dass der Titel des Kommentars die Leserschaft auf den ersten Blick zur Annahme verleiten könnte, die Qualifikation des israelischen Premierministers als «Kriegsverbrecher» werde als unbestrittene Tatsachenbehauptung wiedergegeben. Der relativ kurze Text ist jedoch typografisch eindeutig als Kommentar erkennbar, und die Leserschaft kann mühelos zwischen der Wiedergabe von Fakten und Wertungen des Verfassers unterscheiden. Deshalb geht der beanstandete Text jedenfalls nicht über das durch die Kommentarfreiheit gedeckte zulässige Mass einer harschen, polemischen Kritik hinaus. Das begründet keine Verletzung der Ziffern 1, 3 und 7 der «Erklärung».

4. Ebenso geht die Rüge einer Verletzung der Berichtigungspflicht fehl, nachdem es sich beim gerügten Titel offensichtlich um ein erkennbares politisches Werturteil und nicht um eine der Korrektur zugängliche Tatsachenbehauptung handelt. Zudem war die NLZ gemäss ständiger Praxis des Presserates auch nicht verpflichtet, den Leserbrief von X. abzudrucken (vgl. z.B. Stellungnahmen 23/02 i.S. DJL c. NLZ, 16/01 i.S. F. c. «Basler Zeitung», 3/00 i.S. Schweizer Demokraten Thurgau c. «Bodensee-Tagblatt»). Unmittelbar nach Erscheinen des Kommentars hätte sich ein Abdruck im Sinne des offenen politischen Diskurses zwar empfohlen – aber nachdem der Beschwerdeführer seinen Leserbrief erst vier Monate später einreichte, war kein aktuelles Interesse mehr gegeben.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als unbegründet zurückgewiesen.