Nr. 25/2004
Kommentarfreiheit

(X. c. «Wohler Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 11. Juni 2004

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I. Sachverhalt

A. Am Freitag 26. September 2003 berichtete der «Wohler Anzeiger» unter dem Titel «Erschreckend und unfair» über die Reaktion der «Skaterszene» auf das Votum des Einwohnerrats X. anlässlich der Behandlung des Traktandums «Skaterpark» an der Einwohnerratssitzung vom Montag 22. September 2003. X. hatte laut dem «Wohler Anzeiger» behauptet, Skater wollten cool und unverbindlich sein. Dies sei der geistige Rohstoff für Respektlosigkeit, Egoismus und Staatsabhängigkeit. Jugendliche seien sich auch keiner Verantwortung bewusst, wie Vandalenakte, Graffiti und Drogendelikte zeigen würden. In einem Kommentar mit dem Titel «Unter der Gürtellinie» bezeichnete Chefredaktor Daniel Marti das Votum von X. als «Tiefschlag für die Jugend». «Mit diesem Votum hat sich X. nicht nur disqualifiziert, sondern er hat sich auch von der Jugendpolitik verabschiedet.» X. habe in Kauf genommen, «dass der Skaterszene ein falsches Menschenbild angeheftet wird. Dafür hat nicht nur diese Szene ein Bild von ihm bekommen. Ziemlich schief, würden die Skater sagen.»

B. Am 22. Oktober 2003 gelangte X. mit einer Beschwerde an den Presserat. Er rügte, der «Wohler Anzeiger» habe nicht unabhängig berichtet und sich nicht vom Prinzip der Fairness leiten lassen. Weiter habe ihn die Zeitung zu den ihm gegenüber erhobenen schweren Vorwürfen nicht angehört, und auch nach der Publikation sei ihm kein Recht auf Darstellung der eigenen Position gewährt worden; dies weder in Form einer Gegendarstellung, eines Leserbriefes, noch eines Inserats. Der Artikel enthalte Unterstellungen, die auf der Grundlage seiner Fraktionserklärung nicht so interpretiert werden könnten. Zudem sei die Zeitung mit keinem Wort auf den Umstand eingegangen, dass gewisse Einwohnerräte junge Skater für die Verhandlung des Einwohnerrates mobilisiert hätten. Schliesslich sei der Autor von Artikel und Kommentar bei der Behandlung des Traktandums anlässlich der Einwohnerratssitzung nicht mehr persönlich anwesend gewesen. Als «Kompensation» beantragte der Beschwerdeführer eine Berichterstattung über den Fall im «Wohler Anzeiger», «auch dann, wenn der Schweizer Presserat die Beschwerde zu meinen Gunsten entscheidet». Zudem erwarte er künftig eine wohlwollende Aufnahme und Behandlung seiner Leserbriefe.

C. Am 26. November 2003 wies Chefredaktor Daniel Marti die Beschwerde als unbegründet zurück. Seine Zeitung habe bereits am Dienstag 23. September 2003 mit dem Artikel «Ein Zeichen für die Jugend» über die Einwohnerratssitzung vom Vorabend berichtet. Anlässlich der Redaktionssitzung vom gleichen Tag habe man beschlossen, den Vorfall noch einmal zu thematisieren. Daraufhin habe er sich in Absprache mit der Gemeinde die Tonbandaufzeichnungen der Versammlung angehört. Aus Produktionsgründen sei er tatsächlich nur während des ersten Teils der Sitzung persönlich anwesend gewesen. Hingegen hätten seine Redaktionskollegin Nathalie Büchler und Verleger Christof Nietlispach das Votum von X. live gehört. Da sich X. an der Einwohnerratssitzung mehrfach klar geäussert habe und es Zweck von Bericht und Kommentar gewesen sei, den Skatern eine Stimme zu geben, habe es keinen Grund gegeben, X. noch einmal zur gleichen Sache anzuhören. Zumal im Artikel «Ein Zeichen für die Jugend» neben der Kritik von Ratskolleginnen und -kollegen am Votum von X. bereits auch dessen Reaktion auf diese Kritik (nämlich: er habe nur die Wahrheit verkündet) wiedergegeben worden sei. Wie sich aus dem E-Mail-Verkehr mit dem Beschwerdeführer ergebe, habe er die Ablehnung des Abdrucks des Leserbriefs gegenüber X. eingehend begründet. Sowohl vor als auch nach dem Thema «Skaterpark» seien seine Leserbriefe jedoch veröffentlicht worden.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 9. Januar 2004 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 11. Juni 2004 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Soweit X.rügt, der «Wohler Anzeiger» habe nicht unabhängig berichtet und Chefredaktor Daniel Marti sei bei der Behandlung des Traktandums «Skaterpark» nicht persönlich anwesend gewesen, ist die Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. Der Presserat hält in ständiger Praxis daran fest, dass aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» keine Verpflichtung zu «objektiver» Berichterstattung abgeleitet werden kann, weshalb auch eine einseitige, parteiergreifende Berichterstattung berufsethisch zulässig ist (vgl. dazu die Stellungnahme 21/2003 mit weiteren Hinweisen).

b) Zudem ist die persönliche Anwesenheit an einer Ratsdebatte jedenfalls dann keine unabdingbare Voraussetzung für Bericht und Kommentar, wenn sich der Autor anderweitig genügend orientiert hat. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, weil die Informationsbeschaffung durch die Anwesenheit einer Redaktionskollegin und durch eine integrale Tonbandaufnahme gewährleistet war.

c) Offensichtlich unbegründet erscheint schliesslich auch die Rüge von X., die Berichterstattung des «Wohler Anzeigers» unterschlage, dass gewisse Einwohnerräte junge Skater für die Verhandlung des Einwohnerrates mobilisiert hätten. Gemäss ständiger Praxis des Presserates liegt die Auswahl der zu publizierenden Informationen im alleinigen Ermessen der Redaktion (vgl. beispielsweise die Stellungnahmen 1/1992, 9/1994, 26/2000). Zudem macht der Beschwerdeführer nicht geltend, die Anwesenheit der Skater oder deren Mobilisierung durch einzelne Einwohnerräte habe einen (wesentlichen) Einfluss auf die Ratsdebatte gehabt, weshalb dieses Informationselement für das Verständnis der Lesenden unabdingbar gewesen wäre.

2. Näher zu prüfen sind hingegen die weiteren Beanstandungen von X., er sei zu den gegenüber ihm erhobenen schweren Vorwürfen nicht angehört worden (nachfolgend Erwägung 3), der Artikel interpretiere unhaltbare Unterstellungen in seine Fraktionserklärung hinein (Erwägung 4) und schliesslich die Ablehnung des Abdrucks von Leserbrief, Gegendarstellung und Inserat (Erwägung 5).

3. a) Die Richtlinie 3.8 lautet: «Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten (ÐAudiatur et altera parsð) leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.»

b) X. führt in seiner Beschwerde nicht näher aus, welche Passagen des beanstandeten Artikels und des Kommentars nach seiner Auffassung schwere Vorwürfe enthalten und es deshalb zwingend geboten hätten, ihn dazu anzuhören. Er macht nur in allgemeiner Weise geltend, Bericht und Kommentar enthielten unhaltbare Unterstellungen ihm gegenüber. Es ist nicht Aufgabe des Presserates, anstelle des Beschwerdeführers nach den entsprechenden Stellen zu suchen. Ohnehin zeigt sich in den am 26. September 2003 erschienenen Berichten, dass die verwendeten Begriffe wie «Beschimpfungen», «Erschreckend», «verbaler Fehltritt», «Run
dschlag», «Unter der Gürtellinie», «Tiefschlag», «Fauxpass» usw. eindeutig wertenden Charakter haben. Sie waren für die Leserschaft ohne weiteres als kommentierende Wertungen erkennbar.

c) Der Presserat hat in der Stellungnahme 16/99 i.S. H. c. «Zuger Zeitung» festgehalten, dass ein zugespitzter Kommentar zum Votum eines Parlamentariers innerhalb des berufsethisch Erlaubten liegt, wenn die dem Kommentar zugrundeliegende Wertung für das Publikum erkennbar ist und zudem im Votum des Parlamentariers eine sachliche Grundlage findet. Die Einhaltung dieser Grundsätze bei der Publikation von Kritik an parlamentarischen Voten dürften in aller Regel der berufsethisch zu fordernden minimalen Fairness genügen. Das für den Presserat zentrale Anhörungsprinzip gebietet zwar auch bei Politikerinnen und Politikern, eine Stellungnahme einzuholen, wenn ein Medium sie betreffende selber recherchierte oder von einem Dritten zugetragene Fakten veröffentlicht, die schwere Vorwürfe enthalten. Dieses Prinzip würde hingegen überdehnt, wenn eine Anhörung darüber hinaus bereits bei jeglicher harscher, kommentierender Kritik an öffentlich abgegebenen Äusserungen für zwingend erklärt würde. Der reine Kommentar bereits dargestellter Fakten erfordert keine Anhörung. Im Gegensatz zur Veröffentlichung neuer Fakten durch die Medien geht es hier lediglich um die Kommentierung von Fakten, die der Beschwerdeführer selbst an die Öffentlichkeit getragen hat.

d) Deshalb ist die Rüge einer unterlassenen Anhörung zu schweren Vorwürfen vorliegend abzuweisen. Die Veröffentlichung der harschen Kritik von Chefredaktor Marti am Votum von X. kann nicht beanstandet werden, weil sie ihre sachliche Grundlage im umstrittenen Votum fand; dies war für die Leserschaft offensichtlich.

4. Der «Wohler Anzeiger» weist übrigens zu Recht darauf hin, dass die Diskussion über den Verpflichtungskredit für den Skaterpark, das Votum von X., die Kritik anderer Parlamentarier/innen an diesem Votum sowie die zugehörige Replik des Beschwerdeführers bereits Gegenstand des am 23. September 2003 erschienenen Ratsberichts von Nathalie Büchler waren. Zudem fasste Chefredaktor Marti das Votum von X. am 26. September 2003 – teils mit als solchen gekennzeichneten Zitaten – noch einmal kommentierend zusammen. X. macht in seiner Beschwerde nicht geltend, diese auf Tonband gestützte Zusammenfassung der Ratssitzung enthalte unrichtige Fakten. Sein Widerspruch richtet sich auch hier offensichtlich in erster Linie gegen die aus seiner Sicht unhaltbaren Wertungen. Ebenso führt ein Vergleich sowohl mit der von X. eingereichten schriftlichen Fraktionserklärung wie mit dem Protokoll der Einwohnerratssitzung zum Schluss, dass das umstrittene Votum in der Berichterstattung des «Wohler Anzeigers» nicht in verzerrter Weise wiedergegeben worden ist. Damit steht fest, dass der Leserschaft die wesentlichen faktischen Grundlagen der kommentierenden Wertungen offengelegt wurden. So konnte sie sich selbst eine Meinung darüber bilden, ob der Kommentar von Chefredaktor Marti unhaltbar oder angemessen war.

5. a) Nicht zuständig ist der Presserat für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob der «Wohler Anzeiger» eine Gegendarstellung von X.im Sinne von Art. 28gff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) hätte veröffentlichen müssen. Ebensowenig hat sich der Presserat zum Nichtabdruck des Inserats von X. zu äussern, da sich die Zuständigkeit des Presserates gemäss Art. 4 Abs. 1 seines Geschäftsreglements grundsätzlich bloss auf den redaktionellen Teil erstreckt.

b) Hinsichtlich des abgelehnten Leserbriefs von X. vom 1. Oktober 2003 ist daran zu erinnern, dass die Redaktionen nach freiem Ermessen darüber entscheiden, ob sie eine Leserzuschrift abdrucken oder nicht (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 31 und 43/2003). Dessenungeachtet sollten aber die Redaktionen nach unveränderter Auffassung des Presserates mit Reaktionen auf Medienberichte äusserst grosszügig umgehen. Dies auch wenn darin die Redaktion oder der Autor eines Berichts scharf kritisiert wird (vgl. die Stellungnahmen 1 und 11/1999). Deshalb vermag das Verhalten des «Wohler Anzeigers» – selbst wenn eine Verletzung berufsethischer Normen wie dargelegt zu verneinen ist – hinsichtlich der Behandlung des Leserbriefs kaum zu überzeugen.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.